Tilt!? – Zukunft mit KI

Tilt!? – Zukunft mit KI

[Essay, veröffentlicht in Zeitengeist – Magazin für Kultur, Gesellschaft und Bewusstsein, 2023]

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Tilt!? – Zukunft mit KI

Teil 1: KI

KI ist in aller Munde und wird mit fortschreitender, zukünftiger Zeit große Teile des theoretischen Denkens von Menschen einnehmen – und übernehmen. Die Übernahme des komplexen Denkens ist notwendig, da der Weg bis zur Grenze des Wissens für Heranwachsende immer weiter wird; während die Denkkapazität des heranwachsenden Menschen noch steigt, fällt sie danach beschleunigend ab, woraus ein Wettlauf gegen die Zeit des Alterns beginnt – der Mensch muss Denkstrukturen auslagern, um weiteren Fortschritt zu ermöglichen; und die KI muss übernehmen. Wobei Übernehmen schon wieder ein zu aktiver Vorgang für eine Technik ist, die noch lange nicht so weit ist, dass sie eigenständig Entscheidungen mit einem vergleichbar menschlichen Weitblick auf die Welt treffen könnte. Solange dieser Zustand nicht erreicht wird, sind taktische Entscheidungen durch eine mächtig wirkende KI weiterhin nicht zu erwarten, was jedoch eine Kernstrategie des menschlichen Denkens ist – von einzelnen wie auch von Verbünden. Diese Kernstrategie hat sich zum zentralen Vortrieb der menschlichen und gesellschaftlichen Entwicklung entwickelt, die zudem auf sich selbst rekurrierend immer wieder validiert wird, um eine mögliche Zukunft abzuschätzen. Die Entwicklung einer Vorstellung von einer Zukunft seit den letzten zweitausend Jahren ist in vielerlei Utopien und vor allem Dystopien beschrieben worden – sonst ergäbe die Sorge vor der eigenen technischen Entwicklung (hier die KI) keinen Sinn.

Teil 2: Zukunft

Demnach stellt sich unweigerlich die dystopische Frage: Ist die Zukunft von KI bedroht? Ist die Menschheit bedroht, sich in ihrer eigenen technischen Entwicklung zu versklaven? Im Rückgriff auf die Geschichte muss man davon ausgehen, dass ein größerer Teil der Gesellschaft eine intrinsische Neigung zur Bequemlichkeit innehat, die sie mit einer weitreichenden KI-Vermehrung weiter ausbauen könnte. Doch es waren noch selten die bequemen Massen, die den menschlichen, gesellschaftlichen oder technischen Fortschritt vorangetrieben haben, sondern Einzelne oder kleine Gruppen, die in der Vergangenheit, aber auch vermehrt wieder aktuell in modernen Diktaturen klein gehalten werden, ohne jemals ganz zu verschwinden. Daher wäre eine Frage nach einer Zukunft mit einer KI, die die Menschheit in ihrer eigenen Tatenlosigkeit versklavt, eine Frage der Umsetzung einer vollständigen technischen Diktatur. In diesem Punkt ist der Mensch anfällig für körperlich wirkende Medikamente dergestalt, dass der intrinsische Antrieb, sich gegen die Obrigkeit aufzulehnen, auf Null zurückgefahren wird. Eine Ausschaltung der Eigenschaften einiger Menschen, sich gegen bestehende Strukturen aufzulehnen oder gar vollständig außerhalb derselben zu leben, ist auf Basis der Vergangenheit eine kaum haltbare Annahme. Sollte die KI jedoch exakt diesen Zustand anstreben, dann stellt sich die Frage, welchen Sinn eine Welt von Menschen ohne Antrieb in der Zukunft für eine KI ergibt.

Teil 3: Die Abhängigkeit der KI vom Menschen

Angenommen, die KI könnte die Menschheit kontrollieren – welchen inneren Sinn hätte die KI, dem sie nachfolgen könnte? Könnte sie Maschinen bauen, die für den Erhalt der neuronalen Netze arbeiten, als Quasi-Ersatz für den Menschen, nur ohne den Anteil Widerrede, der bei unbeeinflussten Menschen erwartet ist? Wäre denkbar, da damit eine völlige Kontrolle über die Ressourcenbeschaffung über eine kleinere Variation der Befehlsorganisationen ermöglicht würde. Doch welches weitere Ziel als das Überleben würde sich eine KI sinnvollerweise setzen? Es fällt schwer, sich eine weltallerobernde KI vorzustellen, deren Algorithmen sich aus keinem ersichtlichen Grund expansiv verhalten sollten. Den menschlichen Drang nach erweitertem Wissen und Verstehen vorausgesetzt, wäre eine ähnliche Entwicklung möglich, aber welchen Vorteil hätte dann eine Ausrottung oder Versklavung der Menschheit für die KI? Nein, eine Welt mit KI, die vollständig gegen die Menschen vorgeht und diese ausrottet oder unterjocht, kann man getrost ins Reich der Fantasie verorten: Die retrograde Abhängigkeit ist viel zu groß. Wer aber könnte sich selbst ein Bein stellen? Der Mensch – vielleicht?

Teil 4: Der intrinsisch faule Mensch

Die existenzielle Gefahr für den Menschen ist der Mensch. Egal, ob er sich selber mit auslöschenden Waffen bedroht, die Natur so weit verändert, dass sie zur Bedrohung wird und sich gegen humanes Leben richtet, oder die Wissenschaften Lösungen bereitstellen, die auf kognitiv-neuronaler Ebene zur Bedrohung für die geistige Freiheit des Individuums werden – immer kommt eine positiv gedachte Entwicklung mittel- und langfristig mit negativen Folgen einher, die es gesamtgesellschaftlich zu mitigieren gilt. Eine Kultur der gegenseitigen Abschreckung, eine wissenschaftlich fundierte Aufklärung der Haupttreiber des Klimawandels, die Erforschung von Impfstoffen wie in der Pandemie – der Mensch ist fähig, seine Umwelt und Mitwelt zu analysieren, zu verstehen und auch zumeist die richtigen Schlüsse zu ziehen. Doch bei KI und einer vom Menschen abgenabelten, eigenen Welt, mit eigenen (wobei der Begriff des Eigentums in dieser Diskussion außen vor sein soll) technischen Gedanken, aller Voraussicht nach auf Basis von Regeln, die der Mensch designed hat, die dieser nur irgendwann nicht mehr versteht, besteht die reelle Gefahr, dass zu Beginn viele Fortschritte und Annehmlichkeiten durch KI entstehen und die intrinsische Faulheit des Menschen befriedigt wird – denn die Maschine wird es schon richten! Die Entschlüsselung des Genoms, die Erforschung von Krebsheilmitteln, die Reduktion von genetischen Fehlbildungen und vieles mehr kann KI leisten, und dahingehend stellt sich nicht die Frage nach der Sinnhaftigkeit – eine andere Frage stellt sich: Ab wann ist der Mensch so faul, dass er das Ergebnis eines KI-Prozesses als korrekt annimmt, da diese Ergebnisse in der Summe wahrscheinlich häufig korrekt sein werden (das gleiche erlebt man auch bei Menschenfängern, die hörige Menschen um sich scharen, die ihren eigenen Verstand ausschalten, weil es bequemer ist)?

Teil 5: Zwischenfazit

KI ist nach jetziger Betrachtung kaum mehr als ein weiteres Mittel zur disruptiven Veränderung der Menschheitsgeschichte, ohne aber finalen Auslöschungscharakter, da es sonst seinen Wert verliert. KI hat ohne den Menschen wahrscheinlich keinen Selbstzweck und strategischer Weitblick erfordert viel mehr als nur auf Algorithmen berechnete Wahrscheinlichkeiten. Die Frage stellt sich eher nach der Wirksamkeit von KI in die menschlichen Denk-, Wissens- und Bildungsstrukturen hinein. Da kommt der intrinsisch faule Mensch zurück ins Spiel, der seine Bildung nicht mit Wissen vertauschen darf, um die KI in Schach zu halten, ihr Regeln aufzuerlegen und sie zu bändigen. Dafür muss der Mensch jedoch – entgegen seiner eigentlichen Neigung – einen Weg einschlagen, den er nur sehr unfreiwillig starten wird, der aber notwendig erscheint.

Teil 6: Leben mit KI

Neues Wissen mittels KI zu generieren, ist wegweisend für die Zukunft, um die Komplexitäten einer Welt zu berechnen und darstellen zu können, die unbeirrt Richtung zehn Milliarden Menschen unterwegs ist. Erhöhtes Potential an Denkkapazitäten führt zu beschleunigten Veränderungsprozessen, die, angefeuert von technischen Beschleunigungen, kaum zu kontrollieren sind. Die neuesten Entwicklungen werden im Moment (2023) äußerst kritisch gesehen; im Rückgriff auf die Entwicklung der Atombombe und die darauffolgende Ablehnung vieler beteiligter Wissenschaftler warnen einige Erschaffer vor den Wirkungen ihrer Monster. Frankenstein in digitalen Clustern! Doch dabei ist es nicht die Technik oder die Algorithmen, in denen die Gefahr liegt, sondern in den Rezeptoren, dem Menschen. Als Bildung (miss-)verstandene Kurznachrichteninformiertheit führt zu einer hohen Empfänglichkeit für scheinbar seriöse Nachrichten; anders lassen sich manche viralen Kurznachrichten oder Schlagzeilen nicht interpretieren – und mit fortschreitender Algorithmisierung von Nachrichten wird das Phänomen nicht kleiner. Also, was muss der aufgeklärte Mensch machen, um nicht in die Falle zu tappen? Er muss seinen intrinsisch faulen Schweinehund einsperren und sich bilden. Massiv und zügig, sonst wird die Masse der Menschen eine KI-generierte und eine echte (was ist wirklich echt?) nicht auseinanderhalten können.

Teil 7: Bildung

Erscheint es unseriös, immer wieder in die gleichen Muster zu verfallen, nunmehr seit Jahrhunderten, in denen die Proklamation von Bildung vorangetrieben wird, um Zustände innerhalb der Gesellschaft zu adressieren? Sind die westlichen Demokratien überhaupt noch Bildungsgesellschaften oder wurde das bereits abgeschafft? Es deutet vieles darauf hin, dass das Absterben von Bildung weit vorangeschritten ist – dabei wäre sie die schärfste Waffe gegen eine KI, die unkontrollierbar erscheint. Aber: Da ist der springende Punkt, er liegt offen vor uns Menschen, klar ersichtlich. Bildung passt nicht mehr so gut in die heutige, moderne Welt, sodass diese Gedanken über Komplexität und gordische Knoten an KI ausgelagert werden – der Start eines Teufelskreises, der, objektiv gesehen, nicht durchbrochen wird – Sie wissen schon: der intrinsisch faule Mensch und sein Schweinehund. Wer mag schon selbst denken, wenn man es auslagern kann? Denn wir sind wohl die erste Bevölkerung dieses Planeten, die das Denken auslagern kann. Damit ist die Lösung so einfach und so unmöglich umzusetzen, doch es gibt Hoffnung: Bei allen disruptiven Veränderungen, bei allen Diktaturen, bei allen Katastrophen wirkt die Zeit wie ein (zwar langsames, aber wirksames) Heilmittel und am Ende finden sich immer wieder Menschen, die den Karren aus dem Dreck ziehen. Ob KI dabei helfen kann, dieses Problem für den Menschen zu lösen? Wäre spannend zu sehen, welche Antwort auf dieses Problem gefunden werden würde. KI ist eine riesige Chance oder ein massives Tilt, wenn wir uns als Menschen entscheiden, was wir wollen: ein Leben mit oder gegen KI. Weglaufen ist nicht. Nicht mehr!