R-C-4-B3
[Kurzgeschichte, SF, veröffentlicht in Fantasia Magazin 1097e, 2023]
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Sie trafen sich am Abend nach der Arbeit im Sweet Spot. R-C-4-B3 hatte zum abendlichen Full-Moon-Blow-out geladen, einem Event, das nichts mit dem Vollmond an sich zu tun hatte. Der Name rührte von dem ersten Realitätswechsel, der über den Blow-out-Visioner vollzogen worden war: die realitätsnahe Erfahrung eines Vollmondes, wo immer man den Ort auch eingestellt hatte. Doch heute wollten sie alle zusammen das neue Blow-out erfahren: das Herumwandern in einem Wald voller Horrorgeschichten.
Zusammen traten die vier Freunde in das Blow-out-Center, und R-C-4-B3 ging an den Schalter, um zu zahlen. Sie hatte von ihrem A-6-Koordinator vier Karten geschenkt bekommen und gab sie an den Roboter, der hinter dem Empfang auf die Eingabe der Wünsche wartete. R-C-4-B3 erhielt die Bestätigung, dass ihnen die Räume 17–20 reserviert worden waren. Zugleich erhielt sie die Warnung, dass vorher ein Test auf bewusstseinserweiternde Mittel gemacht werden würde, damit sich die Schrecken in dem Blow-out nicht zu einer realen Manifestation im Stammhirn verfestigen würden. R-C-4-B3 war sich sicher, keine Spuren wirksamer Mittel mehr im Kreislauf zu haben, aber bei X-S-YB-1 war sie sich unsicher, denn er schmiss regelmäßig was ein, um tiefere Bewusstseinskanäle zu durchforschen. Sein Typus war der Forscher ohne einen Hang zur echten Forschung, sondern mehr, um sich die Zeit nicht zu lange werden zu lassen. Klar gab es auch bessere Methoden, um Zeitverkürzungen zu erhalten, doch das war nicht das Mindset von X-S-YB-1.
R-C-4-B3 trat an Raum 17 und gab die anderen Codes an ihre Freunde, die ihrerseits an ihre Räume traten. Sie beobachtete, wie alle den Test machten und zugelassen wurden, selbst X-S-YB-1, wobei R-C-4-B3 keine Ahnung hatte, ob der Test überhaupt seinen Mittelchen nachging. Nachher schmiss er nur biologisch erzeugte Metaproteine ein, um sich auf dem Rücken von diesen Bausteinen in die eigene Gedankenwelt ziehen zu lassen. Wo andere schon darüber gähnten, schien X-S-YB-1 immer noch die Erfüllung darin zu sehen, die Innenarchitektur seines Wesens auszuloten.
Nun startete auch R-C-4-B3 den Test. Sie hielt ihre Unterarme aneinander, sodass diese eine energiesymbiotische Verbindung eingingen, die dann gemessen wurde. Die Blow-Outs hatten über die Jahre herausgefunden, dass es nichts nutzte, nur einen Unterarm zu scannen, sondern es mussten immer beide sein, da es Metaproteine gab, die sich erst bei einer Annäherung auf wenige Zentimeter zu Metabol-Metaproteinen verwandelten und so ihre winzigen körperlichen Strukturen aufbrachen, um in Symbiose zu treten, ähnlich der Verschränkung von Photonen über eine Distanz ohne direkte Verbindung.
Der Test dauerte nur wenige Augenblicke und schon erhielt R-C-4-B3 die Freigabe, in den Raum zu treten. Dort stand eine Art Sitzwanne, in die man sich reinlegen musste, damit man sich nicht selbst verletzte. Sogleich nach dem Hineinlegen wurden R-C-4-B3 die Arme und Beine fixiert, doch da sie das Vorgehen kannte, entspannte sie sich und blickte nach oben ins Nichts.
Nach nur wenigen Momenten verflog der gesamte Raum und der Realitätswechsel begann. Zunächst kam der Vorspann, in dem einige der wichtigen Eckpunkte dieser neuen Realität erklärt wurden, und ehe sich R-C-4-B3 versah, befand sie sich inmitten eines düsteren Waldes und fühlte sich schlagartig in der wachsenden Kälte allein. Alles um sie herum war plötzlich fort, jedes technische Geräusch war ausgeblendet, nur der eisige Wind blies in den Wipfeln. Es lag Frost über dem Wald, der sich durch das dichte Laub nur sehr langsam nach unten fallen ließ, aber er fiel schon seit Tagen, sodass kaum etwas von der Restwärme des Bodens unter dem Laub zu spüren war.
R-C-4-B3 hatte zwar keine Ahnung, wo sie sich befand, aber sie konnte sich noch daran erinnern, dass sie sich einen unsichtbaren Streifen auf den Rücken geklebt hatte, der von einer abschirmenden, pflasterartigen Substanz überdeckt wurde. Sie strich mehrfach über die Substanz, bis sie den darunter liegenden Streifen aufgedeckt hatte. Langsam löste sie diesen von der Haut und hatte ihn kurze Zeit später in der Hand, die sie zu ihrem Mund führte und den Streifen auf die Zunge legte. Unmittelbar danach löste sich der Streifen auf und gab eine Reihe von synthetisch produzierten und in mikrotransportablen Strukturen gepressten Neurotransmittern frei, die, kaum befreit, einen Angstschub unmenschlicher Stärke auslösten. R-C-4-B3 erschrak dermaßen, dass alle Bewegungsmuskeln kontraktierten und sie lähmten.
Etwas bewegte sich auf R-C-4-B3 zu. Obwohl sie sich nicht bewegen konnte, spürte sie, dass sich etwas in ihrem Rücken näherte. Sie ahnte, dass sie von dem Etwas als Beute angesehen wurde, und versuchte, die Kontrolle über ihren Körper zurückzuerlangen, doch die Muskeln sperrten sich weiterhin vor jedweder Beeinflussung. Langsam bewegte sich das Etwas in ihrem Rücken auf sie zu, ließ sich zuweilen ein wenig nach rechts oder links fallen, ganz so, als ob sich das Etwas hinter den Bäumen versteckte, um sich anzuschleichen. R-C-4-B3 hatte inzwischen das bewusste Atmen eingestellt und achtete nur noch auf ihren Hörsinn, der neben dem Gleichgewichtssinn als einziger noch vollständig zu funktionieren schien.
Das Etwas musste jetzt ganz nahe hinter ihr sein, und R-C-4-B3 fragte sich jeden Moment, wann es sie von hinten packen würde, um sie herumzuwerfen und anzugreifen. Doch für den Augenblick geschah nichts. R-C-4-B3 wusste nur, dass das Etwas sie beobachtete; vielleicht war es unsicher, weil sie sich nicht bewegte.
Plötzlich, aus dem Nichts heraus, spürte sie eine Berührung auf ihrer Schulter, und da keine Muskeln auf ihre Befehle reagierten, gelang es ihr auch nicht, den Kopf zur Seite zu drehen. Da, eine zweite Berührung und Angstschübe mischten sich unter den Adrenalinschüben, die weiterhin von den eingenommenen Substanzen emittiert wurden. R-C-4-B3 war sich sicher, dass ihr letztes Stündchen geschlagen hatte, denn es konnte nicht mehr lange dauern, ehe aus der Berührung ein Attackieren würde.
Worauf wartete das Etwas? Mit dieser Frage lenkte sich R-C-4-B3 von der Tatsache ab, dass sie unmittelbar mit ihrem Tod konfrontiert war, und kaum, dass sie sich die Antwort auf diesen Gedanken geben wollte, vernahm sie ein lautes, zischendes Geräusch, das durch den ganzen Wald tönte, ehe sie ein gleißendes Licht entdeckte und vielerlei Menschen, die in den Wald gelaufen kamen, um sie abzuholen.
R-C-4-B3 brauchte eine Weile, bis ihr Verstand die Informationen und Reize verarbeiten konnte, die ihr weismachten, dass sie sich in einem Full-Moon-Blow-out befand und in eine Angstrealität entschwunden war, aus der sie niemals wieder von alleine hinausgefunden hätte. R-C-4-B3 atmete tief durch und erhielt als Strafe ein einjähriges Verbot auf jegliche Blow-outs, da sie gegen die Medikamentenverordnung beim Realitätsverlassen verstoßen hatte. Sie trug die Entscheidung nach der Erfahrung in dem düsteren Wald mit Fassung, denn sie konnte sich kaum vorstellen, in der nächsten Zeit erneut in ein Blow-out zu gehen.
Sie verabschiedete sich von ihren Freunden und ging in den von Werbung hell erstrahlten Straßen nach Hause. Ihr gingen vielerlei Gedanken durch den Kopf, als sie unvermittelt aufsah und sofort versteinerte, denn anstatt sich in einer Seitenstraße des Hauptplatzes zu befinden, stand sie erneut mitten im Wald und konnte sich nicht mehr bewegen. Plötzlich spürte sie auch die Hand wieder auf ihrer Schulter, doch dieses Mal packte sie auch eine zweite Hand an der anderen. R-C-4-B3 wollte schreien, doch dafür war sie viel zu paralysiert.