Ist Demokratie als Menschenrecht zu verstehen?

Ist Demokratie als Menschenrecht zu verstehen?

[Essay, veröffentlicht in Zeiten, Literatur und Zukunft: Essays und Beiträge zu Geschichte, Philosophie, Politik, Ethik und Ökologie, 2015]

Ist Demokratie als Menschenrecht zu verstehen?

I

Die Demokratie scheint – es wird wohl nur eine scheinbare Sicherheit geben, aber nie eine vollständige – die beste aller Regierungsformen zu sein, die sich eine Masse von gleich oder ähnlich gesinnten Menschen erdenken kann, um ihr Gemeinwohl zu organisieren. Aus den mannigfaltigen Versuchen in der Geschichte der Menschen kann man ersehen, dass bisher keine bessere Lösung gefunden wurde – theoretisch schon, aber niemals unter wirklichen Bedingungen. Dafür ist der Mensch auch an sich nicht geschaffen, mit seinen Leidenschaften und seinem oft durchdringenden Eigendünkel.

Die Demokratie ist in den Staaten, in denen sie inzwischen Allgemeingut geworden ist, durchaus als die beste Regierungsform etabliert – in einigen Staaten so sehr, dass diese aus ihrem Demokratieverständnis ein Sendungsbewusstsein für den Rest der Welt entwickeln. Ob dieses Sendungsbewusstsein die beste aller Lösungen ist, möchte dieser Essay nicht beantworten. 

II

Ausgehend von der Feststellung, dass Demokratie scheinbar die beste aller bisher erdachten und praktizierten Regierungsformen ist, wird nun der Frage nachgegangen, was es bedeutet, demokratisch zu sein.

Ein häufig auftretendes Problem in den demokratisch organisierten Staaten, die seit spätestens dem Zweiten Weltkrieg in dieser Regierungsform leben, ist darin zu beobachten, dass Demokratie selbstverständlich wird. Diese Regierungsform ist akzeptiert und durchdringt die einzelnen Bevölkerungsschichten je nach ihrer Teilhabe an der Demokratie.

Diese Selbstverständlichkeit ist es aber, die dazu führt, dass das Demokratie-Leben und -Erleben von den Demokratiebewohnern nicht mehr im Zentrum des Gemeinwohls platziert wird. Demokratie ist einfach da. Dass um die Demokratie jedoch an jedem einzelnen Tag gekämpft werden muss – und zwar an allen Fronten –, um die Stabilität des Gemeinwohls sichern zu können, von dem erst einmal alle profitieren können, wird dabei häufig vergessen.

Mit wachsender Demokratieverdrossenheit können sich auch immer mehr Randgruppen zu Großgruppen und Bewegungen entwickeln, die die Grundsätze der Demokratie untergraben, bis diese von den übriggebliebenen Kämpfern für die Demokratie nicht mehr auf Distanz gehalten werden können. Denn wenn es an das Herz der Demokratie geht, an ihr Selbstverständnis, dann und genau dann steht die Frage im Raum, ob die Demokratie selbst überdauern kann. 

III

Aus dieser Gefahr heraus lässt sich die Frage danach stellen, ob Demokratie ein Menschenrecht ist. Ist Demokratie ein Menschenrecht? Hat ein Mensch Anspruch darauf, dass die Regierungsform seines Landes die scheinbar beste aller bekannten Regierungsformen ist (unter dem Postulat der menschlichen Eigenschaften und Leidenschaften)?

Diese Frage ist im Grunde sehr leicht zu beantworten: Es sollte so sein! Daher ist die Frage nach dem Kampf für die Demokratie ebenso leicht zu beantworten: Es darf, nein, es muss für die Demokratie gekämpft werden. Mit fairen Mitteln, mit demokratisch legitimierten Mitteln, mit dem Herzen und dem Verstand. Jeden Tag. Jeden einzelnen davon! 

IV

Dieser Essay möchte jedoch weniger auf die Situation eingehen, in der es ein unbestreitbares Menschenrecht auf Demokratie gibt, sondern auf den Aspekt, dass es in seit Jahrzehnten bestehenden Demokratien weiterhin eine Menschenpflicht ist, die Demokratie zu schützen, zu leben, weiterzuentwickeln und nicht als gegeben anzusehen.

Im Zentrum dieser Forderung stehen ganz klar die Menschen der Demokratie. Diese werden in die Pflicht genommen (es darf kein Muss sein, weil es die Möglichkeit der Nichtteilhabe geben muss!), jeden Tag zu versuchen, die Demokratie mit Leben auszufüllen, sie lebendig – und damit veränderbar – zu gestalten.

Denn nur Veränderungen innerhalb einer Demokratie aufgrund einer sich stetig verändernden Umwelt führen dazu, dass die Demokratie in der Form überleben kann, die so viele für selbstverständlich ansehen.

Dass die Pflichten dabei nicht nur von dem Einzelnen, sondern auch von den Regierenden erfüllt werden müssen, versteht sich von selbst. Ihre Aufgaben unterliegen qua definitionem der Pflicht zum Schutz der Demokratie.

Aber genau an dieser Stelle wird Überforderung jener widergespiegelt, die ihren Pflichten nicht nachkommen. Aus dieser Pflichtverbundenheit und –nichterfüllung entstehen Niedriglohnsektoren, riesige Strukturprobleme wie Jugendarbeitslosigkeit und am Ende ein Denken à la „Ich bin mir der Nächste“.

Dass die meisten Menschen von sich aus bereits denken, ist im Menschen selbst angelegt. Dass aber eine Gemeinschaft von Menschen, die bereits verstanden hat, dass sie nur in dieser Gemeinschaft die Grundbedürfnisse ihres Lebens mit größtmöglicher Sicherheit stillen kann, wenn der Großteil der Menschen neben den dazugehörigen Rechten auch seinen Pflichten nachkommt, sich genau dann zu zersetzen beginnt, wenn man zwar die Rechte, aber nicht die zugehörigen Pflichten akzeptieren will, ist ein natürlich und vielfach beobachteter Zersetzungsprozess, der zudem nur sehr schwer umkehrbar ist. 

V

Ausgehend von der Frage, ob die Demokratie ein Menschenrecht ist, kann diese Frage mit Ja beantwortet werden. Aber daneben ist Demokratie auch eine Menschenpflicht, die nicht vernachlässigt werden darf. Jeder Teilnehmende muss sich mit der Demokratie verpflichtend beschäftigen, um seine Rolle und seine Pflichten zu kennen, aus denen seine Rechte entstehen.

Eine Pflicht innerhalb der Demokratie ist es, seine politischen Vertreter zu wählen. Wahlquoten unter 50 % sind höchst gefährlich, aber leider immer öfter die Normalität. Dabei beginnt gerade dort die Pflicht, Demokratie zu leben. Damit aus dieser Demokratie die Rechte entstehen, die es zum Leben braucht: die Rechte der Menschen, die Menschenrechte.

Und wer das eine haben möchte, darf sich nicht zieren, seiner Pflicht nachzukommen, die da heißt: Demokratie eigenverantwortlich zu leben!