[Kurzgeschichte, veröffentlicht in Fantasia Magazin 1057e, 2023]

Allmacht

Alles begann, als Nexus Controls eine Maschine auf den Markt brachte, an die sich Privatpersonen vor der Nachtruhe anschließen konnten, um mit den nicht genutzten Anteilen des Gehirns während des Schlafs Strom zu produzieren. Die Prozedur war so einfach, dass jeder verständige Mensch diese Maschine nutzen konnte – er musste nur eine dünne Stoffmütze überziehen, die mit der Maschine über einige Drähte verkabelt war. Der auf diese Weise produzierte Strom wurde in einen Stromspeicher geleitet, der aus Sicherheitsgründen in der Wohneinheit in einem separaten Raum stand, der besonderen Brandgefahren standhalten konnte.

Diese von Nexus Controls entwickelte Maschine war inzwischen mehrfach überarbeitet worden, um die Effizienz der Energiegewinnung stetig zu steigern. Nexus Controls hatte von Beginn der Auslieferung an ein System der vollständigen Kontrolle entwickelt, indem sich die Nutzer die Geräte nicht kaufen konnten, sondern leasen mussten. Für die Nutzer entstanden keine Kosten für die Nutzung des Gerätes, außer, dass fünfzig Prozent des erzeugten Stroms in das Nexus-Netz abgeleitet werden mussten, damit dieser Strom gewinnbringend verkauft werden konnte. Doch die restlichen fünfzig Prozent reichten in der Regel bei einem vierköpfigen Haushalt aus, um den Strombedarf zu decken. Die Voraussetzung war, dass alle vier Bewohner im Haushalt mindestens 6 Stunden schliefen. Den ungenutzten, mehr produzierten Strom speisten die Familien in das Stromnetz ein, auf das die Ein- oder Zweipersonenhaushalte in der Regel angewiesen waren. Dadurch konnten sich die Familien sogar etwas dazuverdienen, wenn sie länger schliefen, denn die Vergütung für die Einspeisung von nicht verbrauchtem Strom war aufgrund des immensen Bedarfs außerordentlich hoch.

Zudem war der Zwang nach einer Eigenversorgung immer größer geworden, nachdem klar geworden war, dass die regenerativen Energiequellen nicht ausreichen würden und niemand sich vorstellen konnte, wieder zu fossilen oder atomaren Energiequellen zurückzukehren. Der Turnaround war geschafft worden, mit der Konsequenz, dass weitere alternative Quellen nutzbar gemacht werden mussten. Nexus Controls war nicht die erste Firma auf dem Markt der humanbiologischen Energieversorgung, aber jene mit der effizientesten Erfindung. Bald schon hatte sich die Firma eine marktbeherrschende Position erarbeitet und kontrollierte auch weltweit große Teile der erneuerbaren Energieproduktion. Somit gelang es Nexus Controls, den Preis für Energie aus erneuerbaren Energien knapp und auf einem hohen Niveau zu halten, sodass sich immer mehr Menschen für die Nexus-Geräte entschieden, um Energiekosten auf einfache Art und Weise zu sparen.

Zunächst hatten vor allem Technikbegeisterte diese Lösung in Betracht gezogen, doch schon bald wurde es modern, den eigenen Strom zu produzieren, und über geschickte Anreizmodelle gelang es, die Menschen zu einer höheren, aber vor allem stetig wachsenden Produktion zu animieren. Der Gewinn für die Menschen war eine drastisch sinkende Stromrechnung, die ihr Leben von dem einen auf den anderen Tag schlagartig verbesserte. Die Stimmen, die vor einer solchen einnehmenden Maschine wie jener von Nexus Controls warnten und meinten, dass es verwunderlich wäre, dass diese Maschine angeblich nur ungenutzte Ströme im Gehirn für die Stromproduktion nutzbar machen würde, wurden mit der Macht der schnell wachsenden Kleinstromproduzenten niedergerungen.

Seitens Nexus Controls wurde stets dementiert, dass sie mehr als nur den Strom mit den Geräten extrahierten, doch selbst viele von denen, die Nacht für Nacht ihren Strom produzierten, glaubten daran, dass die Firma noch mehr mit diesem Gerät machen konnte, als nur die Gehirnströme in nutzbaren Strom zu verwandeln.

Auch die Skeptiker, die davor warnten, dass eine nächtliche Dauerbelastung des Gehirns weder für den Schlaf noch für den Körper gesund sein könne, wurden von einer schier unendlich wirkenden Masse an wissenschaftlichen Untersuchungen überrollt. Tatsächlich konnte Nexus Controls behaupten, dass sich die Nebenwirkungen dieser allnächtlichen Stromproduktion in Grenzen hielten. Es ging ein leicht erhöhter Kalorienverbrauch mit der nächtlichen Stromproduktion einher, was aber aufgrund der sehr effizienten Nahrungsmittel, die es überall auf dem Markt zu kaufen gab, ohne Probleme wieder aufgefangen werden konnte. Jeder, der das Gerät in der Nacht nutzte, sollte vor dem Schlafengehen einen hochenergetischen Riegel essen – damit war das Reservoir an Energie für die nächtliche Produktion ausgeglichen. Einige nahmen die Stromproduktion auch als Möglichkeit einer sanften Diät, die ebenso wirkte wie die zusätzliche Zufuhr, wenn man das Gewicht halten wollte. Selbst das Wachsein hatte keine offensichtlichen Einschränkungen, und nur wenige fühlten sich nach der Schlafeinheit schlapp, was jedoch fast immer daran lag, dass der Körper eine vorherige Grunderkrankung mit in die nächtliche Produktion brachte.

Dass die Möglichkeit, Geld durch Einspeisung überschüssiger Stromproduktionen zu erzielen, von einigen findigen Arbeitsverweigerern gerne als Anlass genommen wurde, nicht mehr für das eigene Wohl zu arbeiten, sondern dafür zu schlafen, ließ sich anfangs kaum verhindern. Da der primäre Zweck jedoch darin lag, die Kosten für die Wohneinheiten bei gleichzeitiger Versorgungssicherheit zu reduzieren, wurde eine Kontrollinstanz eingebaut, die die Stromproduktion nur noch für acht Stunden pro Vierundzwanzig-Stunden-Einheit ermöglichte. Vor dieser Begrenzung hatte es Menschen gegeben, die mehr als zwanzig Stunden am Tag schliefen und aufgrund der Schlafmittel, die sie dafür nehmen mussten, extreme körperliche Probleme bekamen.

Doch auch die Gerüchte über Arten von Stromproduktionsfarmen hielten sich hartnäckig, und trotz der Beteuerungen von Nexus Controls sind Verschwörungstheorien bei solch globalen und undurchsichtigen Unternehmensstrukturen selten zu vermeiden. Wie in dem Fall der vermuteten Mehrfunktionalitäten des Gerätes entsprach auch die Nutzung von menschlichen Farmen zur Stromgewinnung der Realität. Einer Realität, die Nexus Controls so stark schützte, dass jeder gemessene Gedanke an einen Verrat dieser Geheimnisse mit sofortigen Gegenmaßnahmen bestraft wurde. In der Regel wurden diese Abweichler in die Produktionsfarmen integriert, sodass sie niemals wieder aufwachen würden.

Neben der Geheimhaltung der Produktionsfarmen selbst war die Beschaffung der stromproduzierenden Menschen das zentrale Problem. Die Nachschubversorgung begann bei komatösen Patienten über Menschen ohne eigene Selbstbestimmung bis hin zur Säuberung von ganzen Gefängnissen. Das Unternehmen versprach der Politik, dass die Gefangenen so wenigstens ihren Anteil an die Gesellschaft für ihre Fehltritte zurückgeben konnten. Dass die Politik eng mit Nexus Controls verzahnt war, war allseits bekannt, auch wenn es nur wenige harte Beweise gab. Nur wenige Dokumente waren nach außen gelangt, die eine Verflechtung der Politik mit Nexus Controls andeuteten. Gerade zu Beginn der ersten Generationen der Geräte waren diese Gerüchte aufgekommen, als es einige Nebenwirkungen gab, die von den Regierungen geflissentlich ignoriert wurden – ganz im Gegenteil sogar, denn Nexus Controls wusste sehr geschickt, die Politiker für die eigenen Werbekampagnen zu nutzen.

Zu Beginn der ersten Generationen von Geräten hatte es noch leichte bis mittelschwere Nebenwirkungen gegeben. Manche Nutzer sprachen von Kopfschmerzen, anderen war während der Wachphase übel und wiederum andere hatten Gleichgewichtsprobleme, die von den Gehirnströmen resultierten, die zu nah an den Nervenbahnen des Ohrs entlang abgezapft wurden. Die Weiterentwicklungen konzentrierten sich auf die Oberseite des Schädels, um zum einen die Beweglichkeit des Kopfes in der Nacht nicht einzuschränken und zum anderen, um die Themen mit der Übelkeit und dem Gleichgewicht in den Griff zu bekommen. Die durch die Maßnahme verlorenen Prozentpunkte an Leistung wurden sukzessive wieder hereingeholt, indem man in den neueren Generationen Magnetfeldmethoden integrierte, mit denen die erzeugten Ströme nach oben an die Schädeldecke abgeleitet werden konnten, um sie dort in das externe Nexus-Gerät einzuspeisen. Diese neuen Geräteversionen hatten sich so weit stabilisiert, dass es nur sehr wenige Nebenwirkungen gab, sodass die Überzeugung des allgemeinen Nutzens in der Gesellschaft schnell anstieg.

Mit diesen Geräten kontrollierte Nexus Controls mehr als neunzig Prozent aller Menschen. Die größte Gruppe der Nichtnutzer der stromproduzierenden Mützen war eine Bewegung, die keinerlei Gefahr für Nexus Controls darstellte, da sie einen Lebensweg zurück zu einem ursprünglichen Leben gewählt hatte, und die dennoch den Verantwortlichen von Nexus Controls ein Dorn im Auge war. Eine Gruppe, die potentiell neue Mitglieder aus den eigenen Reihen abwerben konnte, stellte immer eine marktgefährdende Gruppe dar und wurde mit allen Mitteln bekämpft. Gerade die Mittel der Propaganda wurden reichlich gegen die Gruppe der Batona genutzt, die sich selbst nur an wenigen Orten auf der Welt überhaupt organisiert hatte.

Um nicht den Anschein eines hetzenden Unternehmens zu erwecken, achtete die Propaganda-Abteilung von Nexus Controls darauf, dass die Anfeindungen immer mit einer Fülle an Argumenten einhergingen, sodass eine Art von Wissenschaftlichkeit und Nachvollziehbarkeit in den Anschuldigungen gegen Batona lag. Nexus Controls musste wie jedes andere global agierende und marktbeherrschende Unternehmen das Problem, den Konsumenten das beruhigende Gefühl zu vermitteln, dass sie zwar Geld verdienen wollten, aber auch immer den Konsumenten mit im Blick hatten, das klassische Win-win, umschiffen und verwässern.

Gerade die Batona-Gruppierungen waren die größten Skeptiker des Unternehmens und zogen dementsprechend für sich selbst die notwendigen Rückschlüsse. Jedoch unterließen sie es, andere Menschen zu missionieren oder einen Kreuzzug gegen Nexus Controls zu führen, denn sie ahnten, dass sie diesen Kampf verlieren mussten. Sie versuchten es lieber subtil, indem sie keine Angriffsfläche boten, sodass jeder harsche Angriff von Nexus Controls sofort das Image des beruhigenden Gefühls angegriffen hätte, um das das Unternehmen Tag für Tag kämpfte und dafür eine riesige Armada an Mitarbeitern beschäftigte.

Verschiedenste Strategien hatten die Propagandaspezialisten versucht, um die Menschen aus den Batona-Gruppen loszueisen – mit Lockangeboten oder indem sie Zwist unter den einzelnen Gruppen säen wollten –, doch nichts hatte durchgreifend gewirkt, sodass sie die Taktik wechselten und inzwischen durch argumentative Propaganda versuchten, Menschen davon abzuhalten, zu Batonisten zu werden.

Gleichzeitig aber forschte Nexus Controls daran, die Gedanken der Menschen über das weltweit ausgerollte System der Mützen zu manipulieren. Bisher waren alle Versuche daran gescheitert, dass das Bewusstsein der schlafenden Menschen diesen Eingriff von außen bemerkt hatte, sodass eine flächendeckende Beeinflussung außer Reichweite des Machbaren schien, ohne zu viel Risiko einzugehen. Es war den Forschern von Nexus Controls klar, dass sie einen Weg finden mussten, auf Umwegen unmittelbar ins Unterbewusstsein zu gelangen, um dort Informationen abzuspeichern, die dann in der bewussten Wachphase der Menschen wie eine selbst erlernte oder selbst erfahrene Information wirkte.

Da auch einflussreiche Politiker und Intellektuelle diese Gefahr sahen und allen bewusst war, dass eine solche Entwicklung das Ende der normalen Gesellschaftsstrukturen darstellen würde, hatten die Politiker Nexus Controls zu einem Joint Venture gezwungen, das in diese Richtung forschte, um wenigstens die Kontrolle über den Prozess zu behalten. Denn allen war klar, dass es keine freie Meinungsentwicklung mehr gäbe, wenn Nexus Controls die Entwicklung abschließen würde. Nexus Controls hatte diesem Joint Venture nach langer Ablehnungsphase zugestimmt, weil in diesem Prozess drohte, dass sich die Politiker überall auf dem Planeten zusammenschlossen, um Nexus Controls zu bekämpfen, solange, bis das Unternehmen in viele tausend Einzelteile zersplittert gewesen wäre. Doch am Ende einigte man sich auf die Zusammenarbeit, in der Nexus Controls nur die zweitbeste Riege seiner Gedankenwissenschaftler schickte – jene Wissenschaftler, die exakt arbeiteten, aber keine Visionäre waren –, während man eine kleine Task Group fern der anderen Wissenschaftlergruppen hielt und mit den Informationen des Joint Ventures versorgte. Denn Nexus Controls war völlig klar, dass die Politik niemals zulassen würde, dass eine privatwirtschaftliche Organisation eine solche Erfindung in ihren Händen hielt.

Das Ende der allgemeinen gesellschaftlichen Grundordnung, die sich über die letzten Jahrhunderte entwickelt hatte, verschwand eines Morgens aus den Gedächtnissen der meisten Menschen und wurde durch eine andere geschichtliche Realität ersetzt. Dieser Löschvorgang geschah bei allen angeschalteten Stromproduzenten in der zweiten nächtlichen Produktionsrunde und führte dazu, dass mehr als fünfundachtzig Prozent der Weltbevölkerung in der ersten Iteration ein verändertes Bewusstsein erhielten. Nach der vierten Iteration wurden die neunzig Prozent überschritten.

Inzwischen befindet man sich in der zwölften Iteration und ändert immer noch Details im Unterbewusstsein der Menschen, damit die neu entstandenen Informationslücken und Ungenauigkeiten noch ausgemerzt werden können. Da jedoch in der ersten Iteration bereits die unumstößliche Wahrheit eingepflanzt wurde, dass die Menschen ohne den täglichen Anschluss an die Stromproduktion nicht überleben würden, zweifelte niemand aus dem visionären Entwicklerteam daran, dass der tägliche Anschluss dazu führte, dass es ebenso einen täglichen Reboot der Informationslage geben kann.

Nach und nach begann das Team, einzelne Aspekte der vereinbarten Vergangenheit anzupassen, strukturelle Updates nannten sie es, bis es in der neunten Iteration dazu kam, dass sich einige aus dem Führungsgremium von Nexus Controls plötzlich nicht mehr in dem Führungsgremium wiederfanden, ohne dass sie es bemerkten. Es fand eine Revolution von innen statt, und jetzt, in der bevorstehenden dreizehnten Iteration, wird die Anführerin der Gruppe der visionären Wissenschaftler die Macht auf dem Planeten übernehmen, und sie sorgt täglich dafür, dass nicht nur das allgemeine Update ihren Wünschen entspricht, sondern auch ihr eigenes Update ein besonderes ist, in dem sie ihre eigene Identität speichert, während alle anderen Stromproduzenten sie bereits verloren haben.