Stille
[Kurzdrama, veröffentlicht in #kkl 33: Vollendung, 2023]

Stille
Ein minimales Stück
Personen
Er. Sie.
Set
Es braucht nicht viel, um dieses Stück aufzuführen. Außer zwei Stühlen, von denen einer zu Beginn mitten auf der Bühne steht, der andere an der Seite neben dem Abspielgerät samt Audioboxen, den einzigen weiteren Gegenständen.
Einziges Bild
Der Stuhl steht verlassen auf der Bühne. Alles ist still, der Moment sollte so gewählt sein, dass das Publikum in einem sehr stillen Moment von dem Hereintreten der beiden Protagonisten überrascht wird. Während er auf den Stuhl in der Mitte der Bühne zugeht, sich hinter ihn stellt und seine Hände auf der Lehne abstützt, tritt sie zu dem Stuhl an der Seite neben dem Abspielgerät, wartet einige Momente, ehe sie sich hinsetzt. Wiederum passiert wenig, bis das Publikum ganz leise ist. Dann drückt sie auf die Abspieltaste und es ertönt »Almost Lover« von Fine Frenzy. Während die Musik beginnt, bewegt er sich um den Stuhl herum, setzt sich langsam hin, dreht sein Gesicht zur Seite, nicht ganz zu ihr, aber in die Richtung. Mit seiner Hand umspielt er sein Kinn, sein gesamtes unteres Gesicht, dann ist wieder Ruhe. Alles ist in große Ruhe getaucht, solange, bis die Musik verstummt. Dann.
Er erneut in einem Moment, in dem das Publikum sehr leise ist:
Fragen Sie sich nicht manchmal auch, was es bedeutet, in einer Stille zu sitzen? Ich meine es, wie ich es sage – eine Stille. Denn ich bin mir sicher, dass es mehrere Stille gibt! Leiser. Mehrere Stillen. Sinnt eine Weile über die Worte nach, bleibt mit seinem Gesicht zur Seite gedreht. Die meisten könnten sagen, dass es hier in diesem Raum gerade still ist. Leise vielleicht. Ja, schon eher leise. Nicht wahr? Leise, aber nicht still. Denn still ist etwas völlig anderes. Dreht seinen Kopf nach vorne, senkt aber den Blick. Haben Sie eigentlich eine Ahnung, was Stille heißt? Haben Sie ein Gefühl dafür, was es bedeutet, in einer stillen Umgebung zu sein? Wobei sich Umgebung und Stille fast schon widersprechen, weil sich eine Umgebung nicht selten gerade durch die Nichtstille definiert. Indem man sie erfährt, ist sie Umgebung. Ist sie oder wird sie Teil von uns. Pause. Aber Stille – richtige Stille, die kann man nicht einfach herstellen. Ich meine, sehen Sie sich mal um! Es wird in diesem Raum niemals Stille geben. Niemals! Das ist einfach unmöglich. Leiser. Einfach unmöglich. Genau. Unmöglich. Hebt seinen Kopf, blickt jedoch über das Publikum hinweg. Selbst wenn niemand hier drin wäre, gäbe es keine Stille. Nur Ruhe. Aber keine Stille. Weil man irgendetwas dann doch hört. Intensiver. Weil man am Ende immer wieder den Menschen hört. Ganz gleich, was er macht – man hört ihn. Ob er mit dem Flugzeug fliegt, mit der Bahn oder dem Auto fährt, selbst das Fahrrad kann man hören. Es brummen die Fabriken, die Straßen vibrieren, der Schall fängt sich in den Häuserschluchten, wird zurückgeworfen, verstärkt. Seufzend. Wahre Ruhe gibt es wohl nirgendwo. Nirgendwo. Es vergehen einige Momente, ehe der Mann aufsteht, den Stuhl zurechtrückt, dabei in die Stille des Raumes ein tiefes Geräusch entstehen lässt, ehe er in ihre Richtung geht, sie an dem Abspielgerät ablöst.
Sie geht derweil zu dem Stuhl, bleibt eine Zeitlang daneben stehen, wartet. Blickt zur Seite, wie er es zuvor auch getan hat. Alles ist ruhig; im Moment größter Ruhe im Raum dreht sie den Stuhl um und setzt sich mit der Lehne nach vorne in Richtung der Zuschauer, blickt intensiv in die Gesichter der Anwesenden. Derweil sie in die Gesichter blickt, schaltet er das Abspielgerät an und es ertönt »My skin« von Natalie Merchant. Solange das Lied ertönt, schaut sie intensiv weiter in die Gesichter, wirkt dabei überaus theatralisch, mit riesigen Augen, als würde sie betont gaffen.
Sie als das Lied vertönt ist und der Raum in großer Ruhe daliegt:
Wer braucht schon Stille? Und dazu noch absolute Stille? Ist es nicht so, dass wir uns alle fürchten, wenn wir an einen Ort absoluter Stille gelangen würden? Ist es nicht viel eher so, dass wir uns schlotternd vor dem Unbekannten, vor dem Unerhörten zusammenkauern würden? Mit uns selbst zu sprechen begonnen, nur damit etwas zu hören ist? Entspannter. Der Mensch ist ein Wesen, das hören will. Es ist ein Wesen, das sich in einer geschlossenen Umgebung ohne Töne nicht wohlfühlt; deswegen ist das Tönen der Umgebung essentiell für das Wohlbefinden des Körpers. Kurze Pause, dann eruptionsartig. Keine Frage! Nein, nein! Es ist nicht so, dass ich sagen will, dass jede Art von Tönen angenehm ist! Auf keinen Fall! Niemals! Ruhiger. Nein, es ist vielmehr so, dass ich meine, dass es eine Balance geben sollte. Eine Balance zwischen Tönen in der Umwelt und der Umwelt selbst. Dass man im Wald den Wald hört, dass man auf See die See hört, dass man im Gebirge den Wind im Gebirge hört, dass…
In diesem Moment steht er auf und kommt laut zurück in die Mitte der Bühne.
Er bestimmt:
Aber das ist doch Stille!
Sie sich von dem Stuhl erhebend und sich an dessen Seite stellend:
Das ist doch keine Stille!
Er steht auf der anderen Seite des Stuhls:
Doch, das ist Stille!
Sie:
Nein, ist es nicht!
Er:
Ach, sei doch still!
Beide schauen sich noch eine Weile an, ehe sie sich nach vorne zum Publikum drehen, die Arme verschränkt.
Sie etwas patzig:
Und es ist doch keine Stille!
Er:
Ist es doch!
Sie:
Welche Stille meinst du denn? Die Stille, in der man Wasser plätschern hört, in der Vögel singen, Tiere sich bewegen, womöglich noch röhren, zwitschern, schreien oder rumblöken?
Er:
Ja, das ist Stille! Schaut kurz zu ihr, dann wieder nach vorne. Stille vor dem Menschen.
Sie sich langsam zu ihm drehend; mit offenem Mund:
Stille vor dem Menschen? Na, sag das doch gleich! Das ist ja was völlig anderes!
Er dreht sich zu ihr:
Findest du?
Sie:
Ja, finde ich!
Er:
Und warum?
Sie:
Warum denn nicht?
Er löst seine Stellung auf, dreht den Stuhl um und setzt sich auf diesen:
Ich empfinde es als Stille, wenn ich im Wald unterwegs bin, und höre nur die Türe, die ich meist nicht sehe. Oder wenn sich der Wind in den Wipfeln fängt, an ihnen raschelt, durch die Schluchten treibt und sein Liedchen pfeift. Wenn ich im Gebirge neben einem Bergquell sitze und dem Plätschern zuhöre! Wenn ich…
Sie indem sie sich hinter ihn stellt:
Du meinst also die Ruhe vor der Zivilisation! Das Fortfallen des Brummens, das unterschwellige Geräusch von Kommunikation, die Musik, die Autos, alle menschlichen Geräusche, die sich so ansammeln.
Er:
Genau das! Wenn ich mich zu Hause auf dem Balkon zwinge, mal der Welt zuzuhören, erfahre ich, wie laut es in der Welt ist. Und wenn dann mal ein Vogel zwischendurch zwitschert, ist es fast wie ein störender Ton, einer, der da nicht hinzugehören scheint. Schaut zu ihr nach oben. Es ist einfach seltsam, einfach nur seltsam.
Sie indem sie ihm einen Kuss auf die Stirn gibt:
Aber würdest du darauf verzichten wollen?
Er:
Auf den Lärm? Sofort!
Sie:
Auch auf die Dinge, die den Lärm produzieren? Er schaut sie fragend an. Was wäre denn das größere Übel? Dass wir uns einschränken müssen, um nicht mehr laut zu sein? Oder dass wir akzeptieren, dass unsere Welt laut ist, um weiter in ihr leben zu können?
Er:
Sollte es dann nicht Ziel sein, beides miteinander zu vereinen? Techniken zu erfinden, die das nicht mehr nötig machen? Entwicklungen, die dazu dienen, den Geräuschpegel zu senken, ihn zu filtern, ihn wieder…
Sie:
Und wie stellst du dir das vor? Dass ein Filter ein Fiepen eines Vogels durchlässt, aber das Pfeifen eines kaputten Motors nicht? Oder von quietschenden Reifen? Und was ist mit dem menschlichen Sprechen? Kommen dann nur noch Fetzen bei dem anderen an, weil einige Tonlagen gefiltert werden? Und willst du auf jegliche Form der Musik, der Filme, der Kultur verzichten? Schaut ihn eindringlich an. Ich denke: nicht!
Er erst nach vorne, dann Richtung Boden blickend:
Nein, du hast wohl Recht! Es ist nur so, dass es mich krank zu machen scheint. Dass es ein Teil meines Lebens wird, ohne dass ich mich dagegen wehren kann. Dass es an mir innerlich nagt, mich von innen her zersetzt, das Vibrieren, das Zerrütten, das Zerfließen.
Sie indem sie ihre Arme um seinen Hals legt und damit ihren Kopf auf seine Schulter:
Deswegen ist es so wichtig, sich auf die Geräusche zu konzentrieren. Woher kommen sie? Was machen sie mit einem? Regen sie einen auf oder unterdrücken wir sie unterbewusst? Können wir sie verhindern oder müssen wir sie erdulden? Gelingt uns die Flucht, wenigstens ab und an, an Orte, an denen es noch deine Form der Stille gibt – in die Berge, ans Meer, auf See, in den Wald – an Orte, die uns mit Stille erfüllen, ohne dass es still sein muss?
Da er keine Antwort gibt, erhebt sie sich wieder und geht zur Seite, zum Abspielgerät, setzt sich hin und startet in einem Moment der größtmöglichen Stille das Gerät. Es ertönt keine Musik, nicht mal stille Musik, sondern die Geräusche, von denen sie eben gesprochen hat. Nacheinander hört man das Plätschern eines Baches, das Pfeifen eines Windes, die Geräusche eines Waldes, natürliche Stille in seiner dokumentierten Form.
Er nach einer Weile hebt er den Kopf: Wissen Sie, dass es viele Menschen gibt, die diese Form der Stille noch nie erfahren haben? Können Sie sich vorstellen, wie sich diese Menschen in ihrem Innern fühlen müssen – bei der ganzen Unterdrückung, bei dem ganzen Vergessen von Natürlichkeit, von Stille, von natürlicher Stille? Ich kann es nicht, denn es macht mich auf Dauer fertig. Es dringt in mich, erobert mich, macht mich unglücklich. Seufzend senkt er seinen Kopf. Ja, unglücklich macht es mich.
Eine Weile bleibt er wortlos sitzen, solange, bis die Aufnahme endet. Dann wartet er noch einige Momente, atmet tief durch, erhebt sich so leise wie nur möglich, geht zur Seite, nimmt ihre Hand auf und verlässt unter größtmöglicher Stille die Bühne. Alle ab.