Metamorphose / der Gewalt
[Essay, veröffentlicht in Gewaltige Metamorphose, 2015]

Metamorphose / der Gewalt
Wenn man sich anschaut, welche Metamorphose Europa und auch Deutschland in den letzten 100 Jahren vollzogen haben, dann kann mit Fug und Recht das Adjektiv „gewaltig“ herangezogen werden.
Die Demokratie als Regierungsform wird nicht mehr angezweifelt und steht auf festen Säulen. Der Bürger kann sich in den allermeisten Fällen auf die Rechtsprechung und den Schutz durch die behördlichen Kräfte verlassen, und jedem stehen vielerlei Mittel zur Verfügung, seine Rechte zu wahren. Wenn man sich überlegt, dass Frauen erst seit gut 100 Jahren wählen dürfen und heute gesellschaftlich eine freie Form der Lebensplanung (Scheidung, Wiederheirat, homosexuelle Ehen etc.) akzeptiert ist, dann hat sich vieles zum Positiven gewandelt. Die weibliche Selbstbestimmung hat inzwischen einen hohen Stellenwert in der Gesellschaft erlangt, die wiederum weitere wichtige Diskussionen anstößt: Aufteilung der Hausarbeit bei vergleichbarer Arbeitsbelastung, gleicher Lohn für gleiche Arbeit, wer übernimmt das Großziehen der Kinder, Frauen in Führungspositionen etc. Von jeder dieser Diskussionen profitiert die Gesellschaft, auch wenn manche daraus resultierenden politischen Entscheidungen mit einem großen Fragezeichen zu versehen sind. Aber auch die Politiker können nur begrenzt in die Zukunft blicken und abschätzen, wie sich die Gesellschaft gerade in diesem Spannungsfeld entwickeln wird. Die Hauptsache dabei ist aber, dass es keinen Stillstand gibt, denn den gab es viel zu viele Jahrhunderte lang.
Trotz der Verbesserungen gibt es aber immer noch viele Themen, die einer Tabuisierung unterliegen, die nicht zu der modernen Gesellschaft zu passen scheint. Obwohl die Zahl der offiziellen Straftaten im Bereich Vergewaltigung und sexuelle Nötigung im Jahr 2013 rückläufig war (um 8 % auf 7.408 Fälle), ist die Statistik im Bereich Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung unter Gewaltanwendung oder Ausnutzen eines Abhängigkeitsverhältnisses von 2012 auf 2013 ebenso deutlich gesunken (um 6 % auf 14.082 Fälle), und die Aufklärungsquote liegt konstant bei über 80 %, ist die Dunkelziffer um ein Wesentliches höher. Allein die Zahl 46.793 bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (Steigerung von 2 % von 2012 auf 2013) muss in jedem einzelnen Fall nachdenklich machen. Denn: Offizielle Zahlen können eben auch nur das offiziell Gemeldete widerspiegeln:
»Körperliche und seelische Gewalt findet überwiegend im engen sozialen Nahraum, also »zu Hause«, statt und gehört für viele Opfer leider zum Alltag. Sie wird dabei überwiegend gegen Frauen durch den Partner oder ehemaligen Partner ausgeübt. Rund 25 Prozent der Frauen im Alter von 16 bis 85 Jahren haben Gewalt in der Beziehung erlebt. Differenziert nach der Schwere der Gewalt haben zwei Drittel der von häuslicher Gewalt betroffenen Frauen schwere bis sehr schwere körperliche und/oder sexuelle Gewalt erlitten; ein Drittel leichte bis mäßig schwere körperliche Gewalt.«
Wenn man bedenkt, dass ein singuläres Erlebnis, das nicht selten nur einige wenige Minuten andauert, ein ganzes Leben massiv beeinflussen kann, dann sind diese Zahlen, die eben aufgezählt wurden, immer noch für ein Land dieses Entwicklungsstandes und Wohlstandes beschämend. Weil es meistens die trifft, die sich nicht wehren können, oder wenn sie sich wehren, massive Konsequenzen für ihr Leben ertragen müssen.
»Leidtragende von Partnergewalt sind immer auch die im Haushalt lebenden Kinder, selbst wenn sich die Verletzungshandlungen nicht unmittelbar gegen sie richten. Gewalt zwischen den Eltern mitzuerleben, bleibt nicht ohne Folgen für ihre Entwicklung. So hat die Repräsentativstudie zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland ergeben, dass Frauen, die in ihrer Kindheit und Jugend körperliche Auseinandersetzungen zwischen den Eltern miterlebt und beobachtet haben, später mehr als doppelt so häufig selbst Gewalt durch den (Ex‑)Partner erlitten wie nicht betroffene Frauen.«
Erfahrungen, die wir im Leben machen, bestimmen den Fortgang unseres Lebens immens. Daher wäre eine Gesellschaft zu wünschen, die sich aktiv und offen mit diesen Themen auseinandersetzt. Besteht Hoffnung auf Besserung? Die besteht immer, auch wenn der Weg bis zu einer aufgeklärten und gewaltärmeren Gesellschaft wohl noch lange dauern wird. Grundlage dieser veränderten Gesellschaft muss eine umfassende Aufklärung und eine breitere Bildung der Menschen sein, damit dieses Thema nicht als Kavaliersdelikt abgetan wird, dem sich die Opfer unterwerfen müssen. Insbesondere im Bereich der Konfliktlösungsstrategien müssen Wege gefunden werden, wie häusliche Gewalt verhindert werden kann.
Quellen:
BmFSFJ (2010): Mehr Schutz bei häuslicher Gewalt. Informationen zum Gewaltschutzgesetz.
BKA (2014): Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) 2013.