Die Legende vom Diktator, dessen Volk vernichtet wurde, weil es marschierte

Die Legende vom Diktator, dessen Volk vernichtet wurde, weil es marschierte

[Kurzgeschichte, veröffentlicht in #kkl 36: Anarchie, 2024]

Die Legende vom Diktator, dessen Volk vernichtet wurde, weil es marschierte

Diktatoren fürchten sich vor nichts – und – Diktatoren müssen nichts fürchten.

Nach diesen zwei Grundprinzipien, die in sich eine Verkettung von Furchtlosigkeit ergeben, lebt der Diktator dieser Geschichte. Furchtlos hat er sich bei einer Revolution seines Volkes, das für mehr Freiheit, Wohlstand und allgemeine Glückseligkeit gestorben ist, nach oben gearbeitet – manche sagen sogar hinter vorgehaltener Hand, dass er sich nach oben gemordet hat –, doch diese Kritiker waren selbst bald dran und verbreiten keine Furcht und Schrecken mehr.

Jener Diktator, der Anlass zu dieser Geschichte gibt, war so furchtlos, dass er sich nicht einmal vorstellen konnte, Angst zu haben – und so handelte er auch. Furchtlos schritt er voran und veränderte die gesamte Rechtsprechung des Landes, die zuvor auf Betrug und Vetternwirtschaft gegründet war, jagte die alten Richter aus dem Amt, setzte die Beamten ab, die in die eigene Tasche gewirtschaftet hatten, und ernannte neue – jene, die nun an der Reihe waren und deren Taschen noch nicht bis zum Rand mit dem Reichtum anderer Leute gefüllt waren. Da der Diktator furchtlos war, waren es auch seine Untergebenen – oder besser, sie taten so, als wären sie furchtlos, was dazu führte, dass die sich Fürchtenden furchtlos agierten und damit Angst und Schrecken verbreiteten, um nicht die einzigen zu sein, die vor etwas Angst hatten.

Diktaturen, die länger als bis zum nächsten Aufstand halten sollen, sind auf Furcht aufgebaut, wobei die Furcht zunehmen muss, je weiter die Schere nach unten zum einfachen Volk geöffnet ist; nicht unerheblich ist dabei die Furchtlosigkeit des Diktators, der in dieser Geschichte furchtloser als jeder andere Mensch auf der Welt war.

Eines Tages entschied der Diktator, dass ein befreundeter Diktator die Möglichkeit erhalten solle, einmal seine überaus gut ausgestattete Armee zu besichtigen – wie es unter Diktatoren zum guten Ton gehört. Ein mancher neutraler und nicht-diktatorischer Mensch kommt bei solchen Aufmärschen immer zum Schluss, dass eine derartige Machtdemonstration aus taktischen Gründen bereits keine sinnvolle Sache ist, da jeder zuschauende Feind genau weiß, gegen welche Waffen er potentiell zu kämpfen hat, doch die beiden Diktatoren trafen sich kaum zwei Wochen später bereits auf dem großen Platz inmitten der Hauptstadt und schauten von der großen Balkonetage des Diktatorenhauptquartiers auf die vielen Soldaten, die unter ihnen im Gleichschritt marschierten. Ein ganzes Volk schien entweder zu marschieren oder der marschierenden Menge zujubeln, die wiederum ihrerseits alles dafür tat, dass nicht nur die beiden Diktatoren, sondern auch das Volk mit ihnen zufrieden sein konnte. So standen zwei Diktatoren auf dem Balkon, einer Empore, die schöner und weitblickender nicht sein konnte – einer furchtloser als der andere, und beide mit dem Wissen darum, dass sie nichts in der Welt aufhalten könne.

Links, rechts, links, rechts, links, rechts – ein ganzes Volk im Gleichmarsch durch die Straßen der Hauptstadt, in Reih und Glied, in strenger Ordnung, mit strenger Haltung, mit strengem Takt – alles war so perfekt, wie es noch nirgends auf der Erde an Perfektion zelebriert worden war – und eben jene Perfektion war es, die die Diktatoren zunächst das Fürchten lehrte und dann auch noch das Leben nahm.

Als der Boden schwankte und sich im Gleichschritt der Marschbewegungen gegen den Takt wehrte, der ihm von den trampelnden Menschen aufoktroyiert wurde – da geschah es für einen kurzen Augenblick, dass die nackte, blanke und schreckhafte Furcht in den Augen der beiden Diktatoren stand – doch nur solange, bis das Trägersystem des Balkons aufgrund des gestampften Bebens riss und die beiden Diktatoren unter sich begrub, wo sie vielleicht heute noch liegen, unter all dem Schutt, der an Ort und Stelle liegen blieb, da es nach dem völkermordenden Beben niemanden mehr gab, der sich für einen Berg Schutt interessierte.