Weißer Marmor
[Novelle, veröffentlicht in Fantasia 1195e, 2025]

Weißer Marmor
Exposé
Salvatore ist sein ganzes Leben bereits Steinbrecher in den Marmorminen in Carrara, dort, wo der beste Marmor der ganzen Welt herkommt. Sein Leben verläuft ohne sonderliche Spannungen, als er eines Tages auf einem Spaziergang von einem reflektierten Sonnenstrahl geblendet wird, dessen Ursprung er nachgeht. So findet er auf einem versteckten Plateau den weißesten und besten Marmor, den er je gesehen hat. Die erste Euphorie führt dazu, dass er seinen Lebenswandel von dem einen auf den anderen Tag übersteigert, und mit jeder Handlung wachsen seine Neider. Bald schon muss er Vorsichtsmaßnahmen treffen, um seine Entdeckung zu schützen, und aus dem zunächst überglücklichen Lebemann wird ein übervorsichtiger Eigenbrötler. Die dramatischste Veränderung tritt jedoch ein, als er erkennen muss, dass das Marmorflöz bald enden wird. Trotz der schwierigen Lage glaubt er weiter an sein Schicksal, welches mit dem Berg verknüpft ist, und findet etwas, was sein ganzes Leben von dem einen auf den anderen Tag verändern wird…
Text
In einem Jahrhundert, in dem die Sonne noch der Taktgeber des menschlichen Treibens war, stand Salvatore weit vor den ersten Sonnenstrahlen auf, zündete in seiner einfach eingerichteten Hütte zwei Kerzen an, achtete darauf, dass diese nicht im Luftzug standen, sodass sie keinen wertvollen Wachs verschwendeten, und machte sich bereit, einen neuen Tag draußen in der Natur zu verbringen, um seiner Arbeit nachzugehen, die er wie viele andere in dieser Gegend von Italien hatte: die Gewinnung von Marmor.
Die Region um Carrara, die im Nordwesten des italienischen Stiefels lag und die so bekannt für ihren Marmor war, den es in unterschiedlichen Variationen gab, bildete seit nunmehr fast vierundfünfzig Jahren Salvatores Heimat. Davon hatte er mehr als die letzten dreißig damit zugebracht, in einer nahen Mine Marmor für eine große Kooperative zu brechen, zu sägen und zu transportieren, den Stein zu waschen, zu polieren und zu schleifen, ehe er eines Tages auf dem Marsch durch die weitere Umgebung einen massiven Abhang inmitten des dschungelartigen Waldes fand, der fortan sein Leben verändern und seinen Tagesrhythmus bestimmen sollte.
Ursprünglich aus San Luca, also zwischen Carrara mit den dahinterliegenden Bergen und dem Meer bei Marina di Carrara aufgewachsen, entschied sich Salvatore im Alter von vierzehn Jahren, die Arbeit des Vaters als Fischer nicht aufzunehmen, sondern dem Weg seines Onkels in die Berge im Hinterland zu folgen. Jeden Morgen stand er auf, ging zuerst zu seinem Onkel und dessen beiden Söhnen, schnappte sich von seiner Tante etwas zu essen für den Weg zur Arbeit, und gemeinsam machten sie sich zu viert auf den steinigen Anstieg zu ihrer Mine, wo sie Tag für Tag dem Berg das weiße Gold des nördlichen Italiens entrissen. So schwer diese Arbeit auch war, so einfach war Salvatores Leben: morgens aufstehen, zur Arbeit gehen, mittags etwas essen, dann in der Hitze oder Kälte des Tages weiterarbeiten, bis der Abend die Dunkelheit mitbrachte, die das Arbeiten zwar unter dem elektrischen Licht noch möglich machte, doch irgendwann wollte der Körper nicht mehr, sodass die Männer sich auf den Weg nach Hause machten, um am nächsten Morgen in die entgegengesetzte Richtung wieder loszumarschieren. Das machten die Arbeiter der Minen an sechs Tagen der Woche; nur der Sonntag gehörte dem Herrn. Für Salvatore galt der Sonntag ab und an nach der Kirche dem Meer, wenn er seinen Vater auf einer Tour rund um die Felsen der Strände begleitete, sie in der Sonne abwechselnd ruderten, rauchten und das Boot treiben ließen, um sich der Stille der Natur und dem sanften Tragen der Wellen zu erfreuen. Wenn er jedoch nicht mit seinem Vater sonntags ausfuhr, stand er früh am Morgen auf, packte einen Leinenrucksack und machte sich auf den Weg durch die Landschaft, wobei er immer darauf achtete, in einer der benachbarten Gemeinden die Kirche zu besuchen. Seine Mutter schüttelte immer den Kopf, wenn der Sohnemann sich aufmachte, auch an dem Tag des Ruhens weite Wege durch die Landschaft zu machen, die erst recht an einem Sonntag, aber auch schon in der Woche nur von sehr wenigen Menschen durchschritten wurden. Somit konnte sich Salvatore auf seinen Märschen ganz seinen Gedanken widmen, die ihn über San Luca, Carrara und dann nördlich über Sorgnano, Gragnana, Noceto und Castelpoggio führten, ehe er sich nach Osten wandte, Richtung Vinca im weiteren Sinne, doch Salvatore wollte zu den Ausläufern der Apuanischen Alpen, die in der Luftlinie die beiden Orte La Spezia und Pistoia voneinander trennten.
Dort, wo der Wald und die Wiesen begannen, wo sie das Gestein und Geröll des Massivs zurückeroberten – oder, von unten betrachtet, an das massive Berggestein verloren –, wanderte Salvatore den ganzen Sonntag entlang, genoss die Einsamkeit und den Frieden der Gegend, trank von den Quellen, die ein so reines und kühles Wasser besaßen, dass es kein besseres zu geben schien, und nicht selten sah er, wie Gämse, Alpensteinböcke und Schneehühner die steilen, geröllübersäten Steigungen besiedelten, ohne dass sie Angst davor haben mussten, vom Menschen gestört zu werden.
Auf einer dieser Wanderungen geschah es, dass Salvatore für einen kurzen Moment geblendet wurde; es ging so schnell, und er war so sehr überrascht von der Blendung, dass er nicht sofort stehenblieb, sondern erst einen Augenblick brauchte, ehe er sich fragte, was die Blendung hervorgerufen hatte. Doch obwohl er überall umherging und die Stelle suchte, von der er geblendet worden war, kannte er nur ungefähr die Richtung, aus der die Sonnenstrahlen in Richtung seiner Augen abgelenkt worden waren. Sie kamen aus Richtung der ansteigenden Steilwände, die sich auf der rechten Seite vom Weg abgrenzten; wenige Schritte musste er durch dorniges Gestrüpp und disteliges Gras machen, ehe er an den Fuß des Hanges kam, auf dem er ein Plateau ausmachen konnte, von dessen grober Richtung aus das Blendwerk geschehen war. Mit seinen Blicken suchte Salvatore einen Weg nach oben, doch es sollte ihn Mühe und Geduld kosten, einen gangbaren Weg ohne allzu große und gewagte Kletterei zu finden, der ihn allerdings um einiges vom eigentlichen Ziel, dem Plateau, entfernte. Endlich gelangte er auf den kleinen Absatz des Geröllanstiegs, und Salvatore schien es, als befände er sich in einem Traum aus weißem Licht, denn aufgrund seiner langjährigen Erfahrung in den Massiven der Berge erkannte er sofort, was er entdeckt hatte: den weißesten Marmor, den er je in seinem Leben gesehen hatte. Große und kleine Brocken des weißen Goldes lagen auf dem Plateau verteilt und ein beinahe kreisrunder Ausschnitt im Massiv des Berges deutete an, dass es dort noch mehr zu holen gab – wenn man sich die Mühe machte und den Berg an dieser Stelle abtrug. Doch noch lagen genügend Geröllstücke herum, von denen sich Salvatore einen mittleren von herausstechender Qualität in seinen Rucksack lud, diesen auf seinem Rücken schnallte und nun sehr froh darüber war, dass er vorhin den Weg nach oben suchen musste, denn dieser gangbare Weg war notwendig, um ihn mit der zusätzlichen Last wieder sicher nach unten zu bringen. Unten angekommen orientierte sich Salvatore Richtung Heimat, und ohne den Umweg über Castelpoggio zu gehen, wanderte er direkt am Massiv entlang, ließ Torano links liegen und marschierte voller Aufregung über seinen Fund in Carrara ein, auf der Suche nach einem alten Freund der Familie, der sich mit den Qualitäten des Marmors auskannte wie kaum ein anderer in dieser Gegend. Zunächst war Angelo, der alte Freund der Familie, nicht sehr erfreut, an diesem Sonntagnachmittag von irgendwem beim Mittagsschlaf gestört zu werden, doch als er den Marmorblock in seinen Händen hielt, verschlug es ihm die Sprache, und Salvatore wusste nun endgültig, dass er einen Ort ausgemacht hatte, an dem es den besten, reinsten und weißesten Marmor gab, den die Welt bisher gesehen hatte – und in Carrara habe er bereits viel Marmor gesehen, doch nie einen von dieser absoluten Reinheit, meinte Angelo als Bestätigung.
Wo er ihn gefunden habe, wurde Salvatore umgehend gefragt, und obgleich ihm die Antwort schon auf der Zunge lag, konnte er sich kontrollieren und verriet nichts – selbst dem alten Freund der Familie nicht, der auch sogleich ärgerlich wurde. Doch Salvatore blieb hart und sagte Angelo, dass es ein Geheimnis zwischen ihm und dem Berg bleiben würde, und nach einigen weiteren Versuchen und der Zusicherung Salvatores, einen Teil des Erlöses an Angelo abzutreten, gab der Freund der Familie auf und einigte sich mit Salvatore darauf, dass er herausfinden wolle, welchen Preis er für diesen reinen Weißmarmor erzielen konnte.
Am folgenden Tag vermochte Salvatore seine Ungeduld kaum vor den anderen seiner Familie zu verbergen, denen er immer wieder sagen musste, dass alles in Ordnung war – immer mit der Hoffnung im Hinterkopf, dass Angelo eine stolze Summe würde aushandeln können. So verlangsamte sich der Arbeitstag in den Phasen, in denen Salvatore angst und bange war, genauso wie er sich immens beschleunigte, wenn er davon träumte, wie ihm Angelo um den Hals fiel, ihn auf die Wange küsste und ihm ins Ohr flüsterte, dass er ab nun der glücklichste Mensch in ganz Carrara sein würde.
Als der Arbeitstag endlich vorbei war, hielt Salvatore nichts mehr bei seinem Onkel und dessen Söhnen, sondern er lief wie ein Blitz Richtung San Luca, erwischte Angelo in seiner Werkstatt und war so außer Atem, dass er kaum verstand, was ihm sein Freund sagen wollte. Erst nach und nach wurde Salvatore klar, dass er mit dem Erlös, den ihm Angelo nach Abzug seines Lohnes gab, mehr als einen Wochenlohn in seinen Händen hielt, und auch wenn Angelo erneut versuchte, Salvatore das Geheimnis des Fundortes abzuschwatzen, blieb es auch an diesem Abend sicher bei ihm verwahrt.
Salvatore ging über den Umweg des Fleischers der Stadt nach Hause, kaufte eine Lammhälfte und erregte mit dieser Handlungsweise ein ungewöhnliches Interesse, denn nur sehr wenige Menschen in der Umgebung und noch weniger Menschen in San Luca hatten das Geld zur Verfügung, sich eine ganze Lammhälfte auf einmal zu kaufen – nicht in einer Gegend, in der es zwar öfters Fisch, aber nur ganz selten einmal Fleisch auf den Tellern der Arbeiter gab. Doch ehe Salvatore seinen Fehler gewahr wurde, liefen bereits mehrere Kinder hinter ihm her, bestaunten den riesigen Berg Lammfleisch und fragten unablässig, woher Salvatore das frisch geschlachtete Stück Lamm habe.
»Das habe ich geschenkt bekommen«, log Salvatore und hoffte, damit die Meute loszuwerden, zu der sich nun auch immer mehr Erwachsene gesellten; allein die Tatsache, dass der Sohn des Fleischers unter den Kindern war und mitbekommen hatte, dass Salvatore die Hälfte soeben bei seinem Vater gekauft hatte, führte dazu, dass der Glückliche an diesem Tag nicht nur einen groben Fehler, sondern gleich zwei gemacht hatte.
Schnell sprach sich das ungewöhnliche Ereignis in San Luca herum, und je mehr Ohren davon erfuhren, desto weiter entfernte sich die erzählte und weitererzählte Geschichte von der wahren, die bereits ohne Überhöhung ausgereicht hätte, um Salvatore auf eine andere Stufe in der Ortschaft zu erheben. War er am Sonntag noch ein einfacher Arbeiter gewesen, der allenfalls durch sein tadelloses Auftreten und seine harte Arbeit auffiel, so war er jetzt eine Person, die mit einem Mal Neider hatte; schon am nächsten Morgen spürte er die Veränderung, als er in das Haus seines Onkels trat, mit seiner üblichen Freude nach den Leckereien seiner Tante griff und dafür einen verdutzten Blick erntete, der sonst nie auf dem Gesicht der Tante lag. Auf dem gesamten Weg in den Steinbruch sprachen seine drei Begleiter kein einziges Wort mit ihm, und Salvatore spürte, dass sich etwas seit dem vorherigen Tage verändert hatte. Kurz bevor sie die Mine erreichten, fragte Salvatore in die Runde, was der Grund ihres Schweigens sei, doch ohne eine Antwort zu erhalten, blickten die drei starr an ihm vorbei und betraten die Arbeitsstelle, ohne auf Salvatore zu warten. Dieser Nackenschlag saß tief, und er machte sich den ganzen Tag darüber Gedanken, was denn zwischen ihm und den dreien vorgefallen war, doch er konnte sich keinen anderen Reim darauf machen, als dass sie neidisch waren. Erst einige Monate später, als Salvatore längst nicht mehr in der Mine arbeitete, erzählte ihm sein Vater, dass ihm sein Bruder endlich erklärt habe, warum sich das Verhältnis zwischen Salvatore und den dreien von dem einen auf den anderen Tag völlig umgekehrt hatte: Salvatore hatte an dem Abend, an dem er das halbe Lamm mit nach Hause brachte, vergessen, einen Teil davon seinem Onkel und dessen Familie zu geben, die jeden Morgen darauf geachtet hatten, dass Salvatore etwas zu essen mit auf den Weg zur Arbeit nehmen konnte. Wie peinlich berührt war Salvatore, als er sein Fehlen erkannte; umgehend ging er in den Ort zum Fleischer und kaufte ein ganzes Schwein, das ihn mehr kostete als einen ganzen Monatslohn – doch das war ihm die Schmach wert. So sehr ihm das Herumtragen des halben Lamms Neider und Missgönner beschert hatte, so verärgerte dieses ganze Schwein einen Teil der Arbeiter, die vermuteten, dass Salvatore damit seinen neuen Reichtum zur Schau stellen wollte; als er dann jedoch in das Haus seines Onkels trat, in dem er seit jenem Tag nicht mehr gewesen war, missgönnten nicht nur ihm die Einwohner den neuen Reichtum, sondern nun auch der gesamten Familie. Daher war es kein Wunder, dass sich der Onkel kaum über das ganze Schwein freute, und obwohl er Salvatores Entschuldigung mit ganzem Herzen annahm, da ihm sehr an seinem Neffen gelegen war, so ahnte er auch, dass das Schwein das Leben seiner Familie nicht erleichtern, sondern weiter erschweren würde. Salvatore hingegen spürte vor allem, dass die Beziehung zu seinem Onkel und dessen Familie durch das Geschenk erneuert worden war, sodass er mit neuer Kraft an die Besorgung des reinsten und weißesten Marmors der Gegend gehen konnte.
In dieser Anfangszeit war es für Salvatore ein Leichtes, die Brocken, die sich auf dem Plateau verteilten, einzusammeln, in seinen neuen, großen, ledernen Rucksack zu packen, um sich mit diesem Richtung San Luca aufzumachen. Worauf er vielmehr Acht geben musste, waren jene Neider, die versuchten, das Geheimnis seiner Mine herauszufinden, indem sie Salvatore auf seinem Weg durch die ansteigenden Berge verfolgten. Bei der Entdeckung des ersten Verfolgers hatte Salvatore noch das Glück auf seiner Seite, denn als er gerade den Blick auf das Plateau richtete, sah er im Augenwinkel, wie sich eine Gestalt hinter einem Baum versteckte; sogleich wusste Salvatore um die Gefahr, die in dem Entdecken seines Marmorplateaus lauerte, und ohne eine Miene zu verziehen, wanderte Salvatore weiter durch die Berge, an der Mine vorbei, hoffte darauf, dass der andere, sein Verfolger, nicht ebenso wie er vom glänzenden Weiß des Marmors geblendet wurde, doch zu seinem Glück waren an diesem Tag genügend Wolken am Himmel – oder aber das Schicksal wollte es nicht, dass jeder die Mine finden konnte. Nach einem langen Tag mit einem riesigen Gewaltmarsch hatte er seinen Verfolger bis auf das Zahnfleisch zermürbt, denn als beide zurück in die Stadt einzogen – an Salvatores Heim vorbei –, konnte der Verfolgte genau sehen, wie griesgrämig der Verfolger ob des fehlgeschlagenen Versuches war, das glücklich gehütete Geheimnis zu entdecken. Seit diesem Tag war Salvatore deutlich mehr auf der Hut und riskierte eine Woche lang nicht, zu seiner Mine zu gehen, sondern suchte auf dem Weg dorthin nach günstigen Gelegenheiten, um mögliche Verfolger frühzeitig zu entdecken. Eine Woche später fand er auf seinen Streifzügen ein riesiges Geröllfeld, durch das ein Bachlauf zog und nach allen Seiten gut zu überblicken war, sodass sich kein Verfolger trauen würde, näher heranzukommen, und obgleich der Marsch über das Feld einen enormen Umweg bedeutete, war dieser Salvatore nur recht, denn schlimmer noch als der Mehraufwand war ein Entdecken der Mine durch einen Anderen. Dennoch kam es zu Beginn häufig vor, dass er einen oder mehrere Verfolger hatte, und immer, wenn sich Salvatore sicher war, dass er die Verfolger nicht abschütteln konnte, entschied er sich, einen völlig anderen Weg als den zur Mine einzuschlagen, und bereits nach kurzer Zeit wussten die meisten Neider, dass es keinen Sinn machte, dem Geheimniskrämer folgen zu wollen.
Aber nicht nur die Neider, die ihm aus San Luca heraus folgten, sondern auch die Händler, die bereit waren, einen hohen Preis für die edelsten aller Marmorstücke zu zahlen, machten Druck auf Salvatore, denn sie versprachen sich durch eine Bekanntgabe des Fundortes die Möglichkeit, im großen Stil diese herausragende Qualität vor allem ins Ausland zu verkaufen; immer häufiger lockten sie Salvatore mit großen Geldsummen, und obwohl er mit einigen Angeboten für seinen Lebtag ausgesorgt hätte, misstraute er den Händlern, da keiner von diesen ihm ehrlich genug erschien, als dass er ihnen seinen Reichtum in die Hände geben wollte. So suchte Salvatore jeden Tag von Neuem seine Mine auf, ging an ihr in weitem Bogen vorbei, wenn er verfolgt wurde, und sammelte die Brocken auf dem Plateau ein, wenn er allein unter dem Himmel unterwegs war.
Doch schon bald war das einfache Einsammeln vorbei; nachdem er zunächst die größeren Brocken und dann immer vermehrt auch die kleineren mit nach San Luca brachte – zunächst einen größeren und einen kleineren, dann zwei bis drei kleinere, ehe die Stücke so klein wurden, dass die Händler ihm nur einen Bruchteil des vormals erlösten Satzes auszahlten, der dazu führte, dass Salvatore kaum besser dastand als zu jener Zeit, als er noch einfacher Minenarbeiter gewesen war. Aber im Berg war noch genug von dieser herrlichsten aller Marmorsorten vorhanden, sagte er sich, ehe er gewahr wurde, dass er zum Herauslösen des Marmors aus dem Herzen des Berges kein Dynamit einsetzen konnte, da der Knall über weite Entfernungen zu hören gewesen wäre und Rückschlüsse für die Verfolger gegeben hätte, wo die Mine zu suchen war. Notgedrungen musste Salvatore zur Spitzhacke, zum Hammer und zum Meißel greifen und sah sich in der Folgezeit Schwerstarbeit verrichten, um aus dem Berg einen Teil des kostbaren Gutes zu lösen. Doch diese Schwerstarbeit hatte auch etwas Gutes für sich, denn sobald die Verfolger sahen, mit welchen Gerätschaften Salvatore loszog und mit welch kleiner Ausbeute er zuweilen nach San Luca kam, änderten sie ihre Meinung und erzählten sich untereinander, dass die großartige Mine wohl alsbald erschöpft sein müsse, wenn sich ein Mann den ganzen Tag anstrengen müsse, um eben so viel Marmor mitzubringen, dass sich die Mühen überhaupt lohnen. Dabei lebte Salvatore keineswegs schlecht; in normalen Wochen erlöste er bei den Händlern zwei- bis dreimal so viel wie sein alter Lohn als Minenarbeiter – und auch das hatte er gelernt, dass er seinen neuen Verdienst nicht immer zur Schau stellte und fleißig mit vollen Händen sein erarbeitetes Geld ausgab. So verbrachte Salvatore die nächsten Jahre damit, dasselbe Leben wie vor der Entdeckung zu leben und den überschüssigen Teil des Erlöses zu sparen, um für den Zeitpunkt, an dem er nicht mehr für sich selbst sorgen konnte, gerüstet zu sein, da er selbst keine Familie besaß, außer seinen Eltern und der Familie des Onkels.
Die einzigen zwei Frauen in seinem Leben, mit denen Salvatore etwas anfangen konnte, waren jene beiden Frauen, die mit ziemlicher Sicherheit nichts von ihm wollten: seine eigene Mutter und seine Tante, die mit ihrem Mann und den tüchtigen Söhnen ein gutes Los gezogen hatte. Ansonsten waren Salvatore die Frauen des Ortes und der anderen Ortschaften geradezu suspekt – nie wusste er, was sie von ihm wollten, wenn sie ihm ein Lächeln schenkten oder sich auf einer Feierlichkeit der Familie oder des Ortes besonders adrett anzogen und ihn dann baten, mit ihnen zu tanzen. Im Gesamten war Salvatore ein Mensch, der mehr mit der Natur als mit dem anderen Geschlecht im Bunde war. So war es auch kein Wunder, dass sich Salvatore viel lieber in die freie Natur zum Wandern oder gemeinsam mit seinem Vater auf die weite See zurückzog, als im Trubel des örtlichen Lebens eine sonderlich tragende Rolle zu spielen – und gleichzeitig führte es dazu, dass die anfängliche Euphorie um seine Person und seine Entdeckung nachließ und sich jedermann damit abfand, dass Salvatore ein seltsamer, aber keineswegs unerfreulicher Zeitgenosse war, der wie die meisten anderen auch am Morgen auszog, um den Bergen der Apuanischen Alpen das weiße Gold der Carrara-Region abzuringen.
Als Salvatore das vierzigste Jahr seines Lebens beendete, stand er bereits mehrere Meter tief im Berg; nach und nach hatte er die beinahe kreisrunde Öffnung ausgehöhlt und einen Gang nach innen gegraben, den er in der Zeit, in der er nicht bei der Mine sein konnte, mit einem großen Stein versteckte, den er jeden Morgen mühselig wegrollte und abends wieder mit derselben Mühe – dann jedoch ohne die Kräfte des nächtlichen Schlafes – wieder vor das Loch schob, damit es wachsamen Augen verborgen war, die sich in dieses Gebiet der auslaufenden Berge verirrten. In seinem fünfzigsten Jahr war der Stollen bereits so tief in den Berg getrieben, dass er an mehreren Stellen Stützstreben zur Absicherung der nicht immer sicher wirkenden Bergwände aufgestellt hatte, und zugleich hatte er an vielen Stellen Lampen aufgehängt, die er mit Petroleum betrieb, das er aus San Luca mitbringen musste, während er die Stützbalken selbst gefällt und zurechtgeschnitten hatte.
Die ersten drei Jahre nach seinem fünfzigsten zogen ebenso ins Land wie die zwanzig davor, und als er im vierundfünfzigsten angekommen war, schien noch alles auf einen ruhigen Lebensabend hinauszulaufen; doch dann merkte Salvatore, dass die Mine an ihr Ende angelangt war. Nach allen Seiten hatte er sorgsam alles abgebaut, was er an reinem, weißem Marmor finden konnte, und als die weiße Spur im Berg immer spitzer zulief und kurz vor dem vierundfünfzigsten Geburtstag Salvatores für immer verschwand, stand er ohne einen Gedanken vor der nichtweißen, eher grau-bräunlichen Wand des Stollens und ahnte noch nicht, dass das bisherige Leben damit vorbei war. Die letzten Brocken des strahlend weißen Marmors nach San Luca bringend, verstand Salvatore immer noch nicht, welche Auswirkungen diese Entwicklung auf sein Leben haben würde; selbst am nächsten Morgen schien es, als mache er sich wie jeden Tag – außer am Sonntag – auf den Weg zu seiner Mine, und erst als er das Plateau erreichte und sah, dass er auch am vorherigen Abend vergessen hatte, den Stein vor das Loch zu rollen, wurde ihm bewusst, dass damit dieses Kapitel seines Lebens unweigerlich zu Ende geschrieben war. Vor Jahren bereits hatte Salvatore begonnen, den Berg und die umliegenden Abschnitte nach ebenso weißen Marmorminen abzusuchen, doch seltsamerweise fand er in dieser Gegend nicht einmal irgendeinen Marmor, sondern überall, wo er hinblickte, war nur nackter, grauer Fels ohne jedweden Glanz, der ihn hätte blenden können.
Menschen, die in ihrem Leben im Grunde nur diese eine Aufgabe wahrgenommen haben und sie jahrelang ausübten, stehen genau dann vor dem Nichts, wenn ihnen diese Aufgabe verwehrt bleiben muss. Salvatore kehrte jeden Tag zu seiner Mine zurück, erkannte mit jedem neuen Anlauf, dass ihm auch an diesem Tag die Mine keinen weiteren Marmor allerbester Qualität schenken würde, und er begann, von seinen Ersparnissen zu leben, die nach dem Zurückgehen der anfänglichen Mehreinnahmen für zwei knappe Jahre ausreichen würden, wenn er so weiterlebte wie bisher – und auch wenn Salvatore nicht verstand, dass die Zeit, in der die Mine ihn allein zu ernähren vermochte, vorbei war, so konnte er dennoch mit seinen Ausgaben haushalten; zumindest solange seine beiden Eltern, die das für diese Zeit stattliche Alter von siebzig Jahren bereits überschritten hatten, noch für ihn mit sorgten, denn sein Vater fuhr immer noch jeden Tag – außer sonntags – zum Fischen raus und kam abends spät mit dem Fang wieder. Als jedoch zunächst sein Vater und kurz darauf auch seine Mutter verstarben und sich Salvatore ein ehrenvolles Begräbnis für die beiden liebsten Menschen auf der Welt wünschte, stürzte er sich mit seinen Ersparnissen in Unkosten, die mehr als die Hälfte des Ersparten auffraßen. Ganz San Luca schien auf der Prozession zum Friedhof anwesend zu sein; und so sehr sich Salvatore über die Beileidskundgebung des Dorfes freute, so sicher war auch, dass die meisten nur gekommen waren, weil sie wussten, dass Salvatore ein Fest zu Ehren seiner Eltern veranstalten würde, auf dem sich all jene vornahmen, Salvatore wie eine weihnachtliche Gans auszunehmen, die er beizeiten mit seinen schier ziellosen Wanderungen durch die Gegend genarrt hatte. Der Tag zu Ehren seiner verstorbenen Eltern wurde zum Festtag für all jene, die neidisch auf Salvatore waren, der mit seiner ehrenhaften und nicht selten kühl-distanzierten Art unbewusst dieses Verhalten ihm gegenüber geschürt hatte; und obgleich sich Salvatore wünschte, diese Leichenfledderer von dem Fest seiner Eltern verbannen zu können, wollte er jedoch an diesem Trauertag keinen Zwist im Dorf auslösen – nicht am Gedenktag seiner Eltern. Somit ertrug Salvatore die verspätete Schmach seiner Mitbewohner von San Luca, zahlte mit vollem, tiefem Groll die Zeche für so viele Menschen, mit denen er im Leben nichts zu tun gehabt hatte, außer dass diese neidisch auf ihn waren, und er wusste am Ende des Festes, dass die Ersparnisse für ein Jahr an einem Tag aufgebraucht worden waren.
Der nächste Morgen war kein Sonntag, und obwohl er seit seiner Entdeckung der Mine an keinem einzigen der ersten sechs Wochentage verpasst hatte, zur Mine zu gehen, blieb er an diesem Morgen zu Hause, trat nur am späten Morgen kurz aus dem Haus, ging hinüber zum Friedhof, zum Grab seiner Eltern, und bat diese um Vergebung für das, was am vorherigen Tage geschehen war. Es war lange her, dass Salvatore geweint hatte, doch in diesem Augenblick, vor dem frischen Grab beider Eltern, mit denen er noch vor wenigen Wochen so glücklich gewesen war, brach er schließlich zusammen und weinte sich nicht nur den Schmerz über den Tod seiner Eltern aus dem Leib, sondern auch den Schrecken, dass er vor dem Nichts stand, da seine Mine keinen Marmor mehr hergab.
Mehrere Wochen trat Salvatore nur noch dann aus dem Haus, wenn er im Ort Besorgungen zu machen hatte; niemand kam vorbei, auch nicht die beiden Cousins, mit denen er früher jeden Tag gemeinsam auf die Arbeit gegangen war und deren Eltern vor einigen Jahren mit einer bedeutend kleineren Zeremonie zu Grabe getragen worden waren. Salvatore wusste, dass ihm der Weg in die Minen der Kooperationen versagt bleiben würde, da er mit seiner besten Qualität einen wahren Preiskampf zwischen den einzelnen Händlern ausgelöst hatte, der die Kooperationen zwang, ihre Erzeugnisse aus den Bergen zu deutlich niedrigeren Preisen zu veräußern. Dieser Weg war ihm versperrt, und mit dem Boot seines Vaters aufs Meer zu fahren, um zu fischen, erschien ihm kaum als die rechte Lösung, da er außer mit der Angel nie gelernt hatte, wie man Fische im größeren Maße fängt – und vor allem fehlte ihm das Wissen darum, wo die besten Plätze sind, von denen der Vater immer berichtet hatte, ohne genau zu sagen, wo diese denn wären.
Somit war Salvatore in der misslichen Lage, eine Entscheidung treffen zu müssen, die sein weiteres Leben bestimmen würde. Etwa zur gleichen Zeit tobte im weiten Norden Carraras ein Krieg zwischen dem Königreich Sardinien und dem Kaisertum Österreich, sodass eine Wanderung nach Norden, in die reichen Städte, ebenso ausgeschlossen war. Da Salvatore aus vielen Mündern nichts Gutes über die Zustände im Süden gehört hatte, schien für ihn die Frage beantwortet, ob er sein Glück an einem anderen Flecken Erde suchen wollte.
Seit Monaten war Salvatore nicht mehr bei seiner Mine gewesen, doch an einem herrlichen Spätsommertag entschied er sich spontan zur Wanderung durch die Gegend, und ohne dass er es beabsichtigt hatte, führte ihn seine Erinnerung auf direktem Wege zur Mine, was er jedoch erst bemerkte, als er am Fuße des Plateaus stand, und genauso wie er nicht wusste, wie er an diesen Ort gelangt war, hatte er auch keine Ahnung, woher auf einmal das Wissen kam, dass dieser Berg, der ihn über einen so langen Zeitraum – fast ein Vierteljahrhundert – mit allem versorgt hatte, was er brauchte – dass dieser Berg noch mehr zu geben hatte, ihm treu bleiben würde, auch wenn die Marmormine vollständig erschöpft war.
Ohne zu zögern stieg Salvatore nach oben auf das Plateau, fand im Stollen seine alten Gerätschaften und machte sich im Lichte der Petroleumlampen daran, an genau jener Stelle weiterzugraben, wo er vor einigen Monaten die letzten Stücke des besten und herrlichsten Marmors herausgebrochen hatte. Doch auch wenn für diesen Tag die Suche erfolglos bleiben sollte, so fühlte sich Salvatore mit einem Mal wie neugeboren; es war, als ob die Last des letzten Jahres an ihm vorbeizog, sich wie von selbst abstreifen ließ, und als er nach Hause ging, pfiff er ein feines Lied, das ihm über die Lippen kam.
In San Luca fragten sich alle, die den Wandel und die gute Stimmung des zuvor Trauernden und Trübsinnigen bemerkten, ob dieser nicht vielleicht sogar auf eine neue Mine gestoßen sei; aber da er keinen Marmor mitbrachte, mussten ihre Fragen ohne Antworten bleiben, auch, weil sich niemand traute, den Sonderbaren etwas zu fragen. Am nächsten Morgen hielt es Salvatore dann, wie auch an den folgenden Tagen außer sonntags: Er stand früh auf, marschierte Richtung Mine, achtete trotz der Leere der Mine darauf, dass ihn keiner verfolgte oder beobachtete, und musste daher die ersten beiden Tage, da er tatsächlich aus Neugier verfolgt wurde, einen Umweg machen, sodass er nicht zu seiner Mine kam. Doch im Gegensatz zu früher, als Salvatore auf diesen Wanderungen fern seiner Mine nervös und zuweilen innerlich ungehalten zornig wurde, machte es ihm an diesen zwei Tagen rein gar nichts aus, wie ein normaler Wanderer durch die Berge zu wirken. Auf jeden Fall schienen diese beiden Manöver ihre Wirkung nicht zu verfehlen, denn nach den zwei Tagen sollte erst einmal für eine längere Zeit Ruhe mit Verfolgungen sein, sodass sich Salvatore weiter in den Berg hineinarbeiten konnte, zu dem er das Vertrauen wiedergewonnen hatte.
Am vierten Tag fand er ebenso wenig wie am ersten eine Spur des Marmors, der ihn so lange ernährt hatte; dafür vernahm er in San Luca, wie sich zwei Menschen über ihn unterhielten, ohne dass sie mitbekamen, dass der Angesprochene direkt hinter ihnen stand; dabei hörte Salvatore, wie die beiden sich erzählten, dass zwei Buben aus dem Dorf dem Eigenbrötler in die Umgebung gefolgt seien, in der er nur spazieren ginge. Die beiden Frauen, die Salvatore belauschte, glaubten zudem, dass Salvatore für sein Leben lang ausgesorgt hätte, denn welcher Mann in diesem Alter könne es sich schon erlauben, den ganzen Tag in der Natur herumzulaufen, wenn er nicht satt und reichlich eingedeckt war. Wie sehr sich Salvatore diesen Zustand wünschte, konnte er ihnen nicht sagen, doch als die beiden den Lauschenden bemerkten, zuckten sie erschrocken zurück, machten große, schreckhafte Augen und wähnten sich in einer Falle, als Salvatore nett grüßte und von dannen zog, nach Hause, in die Einsamkeit des Abends.
Eine alte Katze hatte die beiden Eltern überlebt; nun kümmerte sich Salvatore um das einzige Lebewesen, das noch in seiner unmittelbaren Umgebung lebte, und jetzt, da seine Eltern nicht mehr lebten und seine Mutter abends nicht mehr für ihn gekocht hatte, war es, als würde Salvatore vermissen, dass er keine Frau hatte. Auch wenn er kein geselliger Mensch war, so war er auch kein ganz Einsamer; jeden Tag, wenn er fort war, machte er sich wachsende Sorgen um seine Katze, die er umso lieber gewann, als sie sich abends zu ihm an den Ofen kuschelte, auf die Decke gekrochen kam, die er über die schmerzenden Knie gezogen hatte, und darauf wartete, dass etwas vom Essen absichtlich oder unbeabsichtigt herunterfiel, das Salvatore von einer Nachbarsfrau gebracht bekam, da er selbst nie das Kochen erlernt hatte. Alle anderen Tätigkeiten im Haushalt waren bisher auch nicht von ihm, sondern von seiner Mutter übernommen worden, und Salvatore war sich sicher, niemals die Hausarbeit erlernen zu können, doch als er merkte, wie sehr eine vollbeschäftigte Haushaltshilfe in seine Kasse ging, begann er, eine nach der anderen Tätigkeit aufzunehmen, und musste feststellen, dass er es zwar bei weitem nicht so gut wie seine Mutter oder die Haushaltshilfe konnte, doch immerhin so gut, dass er sich nicht schämen musste, wenn dann doch mal jemand vorbeikam – und sei es auch nur, um nachzusehen, was der alte Salvatore denn noch so trieb.
Bei jeder Wegnahme einer helfenden Tätigkeit im Haushalt musste Salvatore das Gespräch mit seiner Nachbarin suchen und scheute sich dabei, gegenüber der Mutter von vier Kindern, die sie ohne ihren Mann aufziehen musste, unehrlich zu sein, sodass er ihr beichtete, wie es um seine Geldreserven stand – in der Hoffnung, dass sie aus der eigenen Situation heraus Salvatore verstand und ihm trotz der Mindereinnahmen nicht böse war. Obwohl er damit Recht behielt, was das Gemüt der Nachbarin Georgia betraf, so besaß sie jedoch ein überall bekanntes, loses Mundwerk, und kaum dass sie von den bald erschöpften Reserven Salvatores wusste, wusste es die ganze Stadt. Kaum noch eine Ecke, an der nicht über das Leben und das Vermögen des Eigenbrötlers geredet, spekuliert und gelästert wurde; allein Salvatore glaubte tief in seinem Innern zu wissen, dass sich dieses Blatt irgendwann wieder drehen würde, wenn der Berg ihm seine zweite Chance gäbe.
Stur hielt er an dem Gedanken fest, stand weiterhin jeden Morgen in der Frühe, weit vor der Dämmerung, auf, machte sich etwas Karges zu essen für den Weg und den Mittag, ging den Umweg über das steinige Geröllfeld, auf dem er kontrollieren konnte, ob er verfolgt wurde, und erreichte seine Mine mit den ersten warmen Sonnenstrahlen, die er sogleich wieder hinter sich ließ, indem er in das Dunkle des inneren Berges eintrat.
Das Ave-Maria murmelnd, zündete er die Petroleumlampen nur an den Stellen an, wo es gefährlich für ihn wurde, alle anderen ließ er aus, um das Petroleum zu sparen, das ihm in San Luca vom einzigen Händler für Petroleum aus einer der vielen persönlichen Eifersüchteleien sehr teuer verkauft wurde. Bei jedem Anzünden fragte sich Salvatore, ob diese Lampe notwendig sei. Er untersuchte den Boden nach Unebenheiten und löschte die eine oder andere wieder, trat dann ins Dunkle, ließ sich von den Wänden führen und gelangte so an das Ende des Stollens, der mit einigen Kurven gut und gerne knapp hundert Meter in den Berg getrieben war. Einer Schlange ähnlich hatte sich das Marmorflöz durch den Berg gezogen und war dann verschwunden, doch je weiter Salvatore mit der Hacke gegen den nackten Felsen schlug, desto sicherer wurde er, dass er irgendwann bald wieder Marmor sehen würde.
Auf diese Weise vergingen drei Monate, und der Winter rückte bereits heran, doch obgleich Salvatore seine Anstrengungen noch vergrößerte und zusammen mit der Hausarbeit ein weitaus höheres Tagespensum als noch vor einigen Jahren hatte, blieb der ersehnte Marmor aus; keine auch noch so kleine Spur wollte sich finden lassen, keine Ader zeigte sich in dem grauen Gestein, und wenn er einmal glaubte, dass er eine Ader gefunden habe, die ihn zu einer neuen Quelle führen würde, so erwies sie sich als Trugschluss oder als linienförmige Quarzform, die nichts mit dem herrlichen Marmor gemein hatte, der in seinen Gedanken noch weitaus herrlicher war, je länger er darüber nachsann und ihn vermisste.
Während bei den meisten Menschen in dieser langen Warte- und Leidenszeit die zornige Unzufriedenheit wuchs, erwuchs in Salvatore ein so starker Glaube an die zweite Chance, die ihm der Berg bieten würde, dass er keinen einzigen Moment daran zweifelte, dass er irgendwann vor dem erlösenden Augenblick stünde, den er durch seine Beharrlichkeit und Anstrengung herbeischaffen würde. Nichtsdestotrotz musste er seiner Nachbarin auch noch den Auftrag für das täglich zubereitete Essen wegnehmen, da seine Reserven auf ein Minimum gesunken waren, und als es zu Beginn des neuen Jahres so weit war, dass er keine Geldreserven mehr hatte, musste er sich auf anderen Wegen über Wasser halten.
Die Fischer, die während der drei Wintermonate zumeist zu Hause blieben und sich nur selten dem rauen Wind und dem hohen, gefährlichen Seegang auf dem Meer aussetzten, staunten nicht schlecht, als sie Salvatore, den Sohn des alten Weggefährten, jeden Morgen bei schlechtem Wetter und sehr schlechten Bedingungen herausfahren sahen, und wie durch ein Wunder gelang es Salvatore, auf diese Weise unbeschadet durch den Winter zu gelangen; in aller morgendlichen Frühe ging er fischen, um dann am Nachmittag wenigstens eine halbe Tagesschicht in seinem Stollen einzulegen. Dass er bei dieser Doppelbelastung die Ordnung in seinem Haus ein wenig vernachlässigte, ärgerte ihn zwar schon, aber eigentlich nur dann, wenn er für das warme Essen, das meistens aus Fischsuppe oder gebratenem Fisch bestand, kein sauberes Besteck mehr fand. Aber alles in allem konnte sich Salvatore mit der neuen Situation abfinden, in der er genug zu essen und Zeit hatte, um in seinem Stollen weiter nach seinem Glück zu graben.
Der Winter ging und die ersten Knospen und kräftiger werdende Sonnenstrahlen kündigten den kommenden Frühling an, und dieser war Salvatore so lieb wie noch kein Frühling zuvor, denn die doppelte Belastung, einerseits im kalten Nass auf dem Meer und andererseits in der Kälte des Bergstollens, dazu die Anstrengung mit dem Netz und der Hacke, führten dazu, dass er aus dem Winter einen Husten mitschleppte, der ihm so sehr in der Lunge schmerzte, dass er zuweilen dachte, ihm würde jemand mit heißen Nadeln in die Innenwände seiner Lunge stechen. Salvatore wusste, dass er einen weiteren Winter auf diese Art und Weise nicht überleben würde, und arbeitete daher umso härter in den Stunden, in denen er in der Mine war; diese Vorgehensweise verschlimmerte seinen Husten und die Schmerzen in seiner Brust, sodass er eines Morgens, als sich der Winter ein letztes Mal aufbäumte und das zuvor milde Wetter nochmal verscheuchte, nach dem Aufstehen zusammenbrach und erst von der Nachbarin gefunden wurde, die wie durch einen Zufall an diesem Tag vorbeigekommen war, um Salvatore etwas vom warmen Brot vorbeizubringen, das sie gebacken hatte. Totengleich und ohne Bewusstsein fand sie den alten Mann auf dem Boden, rief nach den zwei stärksten ihrer Kinder, hievte gemeinsam mit den beiden Salvatore in dessen Bett und kümmerte sich die nächsten Wochen um den kranken Mann, dessen Kräfte zwar am Ende waren, doch den Lebenswillen schien er noch nicht aufgegeben zu haben. Als er aufgrund der fürsorglichen Pflege und der kräftigenden Nahrung zurück bei Kräften war, versprach er der Nachbarin, ab diesem Tage jeden Fang mit ihr zu teilen, und gab ihr einen kleinen Notrest an Ersparnissen, den er sich aufbewahrt hatte, damit er niemals mit nichts dastünde, doch in diesem Moment fühlte er, dass er ihr aus Dankbarkeit diesen Notnagel geben musste.
Salvatore kam wieder auf die Beine, doch das Alter hatte seinen Körper nunmehr fest im Griff; er merkte, dass er das hohe Tempo, das er vor der Krankheit vorgelegt hatte, nicht mehr halten konnte; so entschied er sich zur Aufteilung seiner Woche in drei Tage Fischfang und drei Tage Bergbau, wobei bald klar wurde, dass drei Tage Fischfang nicht ausreichten, um ihn und seine Nachbarin mit den vier Kindern ausreichend zu versorgen. Auch wenn sich Georgia gegen jeden Fisch wehrte, den er ihr vorbeibrachte, so hielt er sein Versprechen und teilte artig und sich selbst gegenüber gerecht jeden Fang auf – und wenn er einen bevorteilte, dann immer seine Lebensretterin.
Irgendwann im späten Frühjahr geschah es dann, dass Salvatore eine ganze Woche aufs Meer fuhr; am Samstag musste er die Netze flicken und nach dem Boot schauen, es aus dem Wasser ziehen, aufbocken und nach Schäden untersuchen. So blieb ihm allein der Sonntag, doch dieser war wie alle Sonntage in seinem Leben zuvor dem Herrn gewidmet, und es kam, dass er nach dem Gottesdienst sich anzog, um in der Natur spazieren zu gehen, und direkt und ohne Umwege zu seiner Mine ging, in die Dunkelheit des Berges eintrat, einige wenige Lampen mit Petroleum füllte und anzündete, bis zu der Stelle vordrang, an der seine Hacke an der rückwärtigen Wand stand.
Er werde wohl Fischer werden, sagte sich Salvatore mit Wehmut im Herzen, denn er habe eine Familie zu versorgen, die sich darauf verlassen würde, dass er nicht mit leeren Händen nach Hause kam. Vielleicht habe er noch einige Jahre bis zu seinem Lebensende, dachte er so bei sich, und vielleicht könne er die Familie mit den vier Kindern noch so lange ernähren, bis die Ältesten selbst mit ihrer Arbeitskraft in der Lage dazu waren.
Dann blickte er wieder zurück zur Wand, und als müsse er seinen Wehmut über den Abschied von seinem Berg irgendwie ausdrücken, schnappte er sich seine Hacke, wog den hölzernen Schaft in seiner Hand, spürte die Unebenheiten im Holz, die ihm die Unebenheiten in seinen Händen gezeichnet hatten, nahm seine gesamte Kraft für einen allerletzten Schlag zusammen, erhob die Hacke über seinen Kopf, presste die Luft in seine Lungen und schwang die Spitze voran gegen den Stein, so fest, wie er es seit langem nicht mehr geschafft hatte – und siehe da, ein riesiges Stück Stein zersprang in viele Teile und fiel auf den Boden hinab.
Was er aber jetzt sah, wovor er in diesem Augenblick stand – das konnte Salvatore erst so richtig erfassen, als er den Brocken gänzlich aus der Wand geschlagen hatte, in dem sich eine feine, aber deutlich abzeichnende Linie zeigte, im Lichte der Petroleumlampen matt glänzend und so golden, dass selbst der aus ärmlichen Verhältnissen stammende Salvatore wusste, dass es sich um Gold handelte. Überwältigt von seinen Gefühlen ließ er sich auf seine Knie fallen, streichelte und küsste den nackten Stein und dankte dem Berg für dieses Zeichen, dass er ihn in der tiefsten Not nicht alleine ließ.
An diesem glücklichen Sonntag missachtete Salvatore sein selbstauferlegtes und sein Leben lang erfülltes Gebot, sonntags nur dem Herrn zu dienen – doch wer anders als der Höchste konnte ihm eine solche Gnade widerfahren lassen? Den ganzen Tag über schlug er weiter auf den Stein ein, und sein Gefühl hatte ihn nicht getäuscht – er war auf eine Goldader gestoßen, die sich vor ihm durch den Berg zog und der er einfach nur folgen musste. Am Ende des Tages hatte Salvatore so viel glänzendes Gestein aus der Wand geschlagen, dass er kaum alles transportieren konnte; indem er die aussichtsreichsten Stücke zusammensuchte und in seinen Rucksack verpackte, wurde es Abend, und erst spät, weit nach Einbruch der Dunkelheit, kehrte er nach San Luca zurück, ging zu Georgia und den vier Kindern herüber und versuchte, die Mutter zu wecken, ohne dass die Kinder davon aufwachten, doch alsbald war er von allen Vieren umgeben, während die Mutter noch in aller Seelenruhe tief und fest schlief. Die Kinder ahnten natürlich, dass etwas Besonderes passiert sein musste, wenn der Nachbar nach Einbruch der Dunkelheit versuchte, die Mutter zu wecken, und fragten ihn, was er in seinem Rucksack mit sich führte. Erst in diesem Augenblick erkannte Salvatore seinen Fehler, den Rucksack nicht vorher in seinem Haus versteckt zu haben, doch nun musste er mit der Wahrheit heraus und entnahm dem Rucksack einen kleinen Stein, dessen feine Linien in der grauen Oberschicht so golden im Scheine der einen angezündeten Kerze glänzten, dass selbst die unverständigen Kinderaugen wussten, dass dieses Gold etwas ganz Besonderes darstellen musste. Inzwischen war auch die Mutter der vier vom Lärm wach geworden und in die Küchenstube getreten. Als sie beim Eintreten erkannte, was Salvatore da in seinen Händen hielt, ließ sie einen kurzen, spitzen Schrei los, um sich sogleich ihre Hände vor den Mund zu halten. Obwohl Georgia bei Salvatore mehrmals um Entschuldigung bat, war dessen Hochstimmung nicht dafür angetan, irgendeinen anderen Menschen zu tadeln; vielmehr war er beseelt von einem Glück, das Menschen nur dann empfinden, wenn sie zu spüren glauben, wie irgendwer eine schützende Hand über das eigene Leben hält.
Weder Salvatore noch Georgia konnten in dieser Nacht ein Auge zutun; gespannt warteten beide auf den nächsten Morgen, an dem sich Salvatore vorgenommen hatte, mit den Goldsteinen nach Carrara zu wandern, da er verhindern wollte, dass sich der Goldfund allzu schnell in San Luca herumsprach. Daher brach er am Montagmorgen in aller Frühe, weit vor den ersten Sonnenstrahlen, nach Carrara auf, achtete darauf, dass er beim Verlassen des Dorfes von keinem gesehen wurde, und gelangte in die gewünschte Stadt ohne Zwischenfälle. Erst in Carrara selbst sollten die Schwierigkeiten für Salvatore beginnen, denn auch wenn es viele Gesteinshändler gab, so kannten sich die meisten jedoch ausschließlich mit Marmor aus, und nur zwei sagten, dass sie Gold im Urzustand bereits einmal gesehen hätten. Der eine von ihnen riet Salvatore, nach La Spezia zu gehen, da dort ein großer und weit über die Landesgrenzen hinaus bekannter Goldschmied säße, doch er erwähnte auch, dass La Spezia bereits in Ligurien liege, was selbst zum Königreich Piemont zählte, weswegen es scharfe Kontrollen an den Grenzen zur Toskana gab. So musste Salvatore sein Glück im Süden suchen und wanderte auf die Stadt Massa zu, in der es zwar keinen Goldhändler gab, aber dafür die Information, dass im Ort weiter in Montignoso ein alter Herr leben würde, der früher einmal viel mit Gold zu tun gehabt hätte.
Am frühen Nachmittag erreichte Salvatore Montignoso und hatte keine Schwierigkeiten, von den neugierigen und geschwätzigen Einwohnern zu erfahren, wo Umberto Dell’Agli, der große Goldhändler aus Florenz, der sich im Alter in diesem Örtchen zur Ruhe gesetzt hatte, wohnte. Als Salvatore einen kleinen Hügel hinanstieg, auf dem der Monsignore wohnen sollte, merkte er, wie er von einem Haufen Kinder verfolgt wurde, die sich aller Wahrscheinlichkeit nach in einer Umgebung, die sie wie ihre Hosentasche kannten, kaum vertreiben oder abhängen ließen. Salvatore nahm es mit einem für ihn seltenen Anflug von Humor, betrat das große Grundstück des ehemaligen Händlers, sah, wie die Kinder respektvoll Abstand hielten, und er selbst erhielt vom Diener Eintritt in das kühle Haus, das einen edlen Prunk zur Schau trug. Er zeigte den Inhalt seines Rucksacks dem Diener, der sofort wusste, dass Umberto Dell’Agli, obwohl dieser im wohlverdienten Ruhestand war, immer an einer neuen Möglichkeit, seinen Reichtum zu vergrößern, interessiert war, sodass der Diener den Fremden aus San Luca bei seinem Herrn ankündigte und wie von ihm erwartet auch vorgelassen wurde. Somit bekam Salvatore die Gelegenheit, sich bei dem Goldhändler vorzustellen, der sogleich an der Kleidung des Wanderers bemerkte, welche Art des Goldhandels mit diesem Fremden zu treiben war, ließ sich wohlfeil den goldenen Klumpen Gestein vorlegen, betrachtete diesen mit einer Mischung aus Langeweile und kühlem Finanzinteresse, bejahte die Frage Salvatores, dass es sich um Gold handeln würde, und bekam auf die Frage, wie viel in der Mine noch zu holen sei, ein großes Schulterzucken zurück. Da Salvatore keine Ahnung hatte, wie lange die Mine halten oder wie weit diese sich noch durch den Berg ziehen würde, erzählte er seine Geschichte vom Fund des Marmors, von den letzten Jahrzehnten, ohne genau zu sagen, wo sich diese Mine befand. Umberto Dell’Agli hörte sich die Erzählung genauestens an und entschied im Anschluss, dass es durchaus einen Sinn machen würde, dem Ganzen auf den Grund zu gehen. So bescheinigte er dem Wanderer aus San Luca, dass er ihm alles Gold zu einem ehrlichen Preis abnehmen würde, das er nach Montignoso bringe, und Salvatore erhielt vom Diener für den ersten, mitgebrachten Stein so viel Geld, wie er sonst nur nach zwei Wochen Abbau des weißesten und besten Marmors erhalten hatte. Vor Glück taumelnd verließ Salvatore das große, kühle Haus des Monsignore und trat in die Wärme des späten Nachmittags.
Auf dem Weg nach Massa musste sich Salvatore noch anstrengen, diesen wiederzufinden, doch als er Massa hinter sich gelassen hatte und auf San Luca zuging, das er bereits im Hintergrund ausmachen konnte, wurde ihm eigentlich erst richtig bewusst, dass ihn sein Glaube an den Berg nicht enttäuscht hatte, denn die Goldader war seine zweite Chance, ein sorgenfreies Leben zu führen – ohne sich den Gefahren des Wetters aussetzen zu müssen, das ihm im Alter immer mehr zu schaffen machte. Zudem konnte er es sich bei dieser Marge erlauben, auch mal eine Krankheit auszukurieren, anstatt gegen sie und mit ihr weiterzuarbeiten, was es nur noch schlimmer machte.
Als er in San Luca eintraf, ging er zur einzigen Fleischerei des Dorfes – die vom Sohn des damaligen Metzgers betrieben wurde, bei dem er vor mehr als fünfundzwanzig Jahren die Lammhälften erstanden hatte – und kaufte an diesem Abend den besten und feinsten Schinken des Ladens, und dazu die edelste Flasche Rotwein, die ihm der Fleischer eigens aus dem Kellergewölbe holte. Mit diesen Leckereien bestückt ging Salvatore zu seiner Nachbarin, trat wie der Hausherr in das ärmlich eingerichtete Haus und fand die Familie gerade in der Vorbereitung auf das abendliche Essen, das unter normalen Umständen dürftig ausgefallen wäre – doch an diesem Tag durften sie alle schlemmen und sich des Glücks erfreuen, das Salvatore zuteil geworden war.
Mit dem Glück ist es wie mit der Liebe: Man kann nicht planen, wann sie auftaucht, und sollte man das Glück oder die Liebe erzwingen wollen, kann es geschehen, dass es einem verlorengeht. Salvatore hatte sein Glück wiedergefunden, doch es sollte nicht lange halten, denn wo bereits das Auffinden des besten, weißesten Marmors dazu führte, dass ihn andere gierige Menschen verfolgten, so folgte dem Finden von Gold eine ganze Welle von Neidern, die sich nicht so einfach abschütteln ließen wie jene zuvor. Obgleich Salvatore über das steinige Geröllfeld ging, um Tag für Tag nachzuprüfen, ob ihm jemand folgte, ließen die Verfolger nicht von ihm ab, welche er noch niemals in seinem Leben gesehen hatte. Erst nach einer Woche der Abstinenz ging ihm ein Licht auf, dass es wohl keine Neider aus San Luca waren, sondern aus den anderen Orten, durch die er zum Monsignore gewandert war – oder von noch viel weiter her, die alle dem Ruf des Goldes gefolgt waren.
Salvatore spürte mit jedem Tag, wie die Geduld seiner Verfolger sank, wie sie immer näherkamen und ihn offensichtlich zermürben wollten – er aber ging jeden Tag in die Natur hinein und führte die Verfolger quer durch die Gegend, ohne auch nur einmal in die Nähe seiner Mine zu kommen. In der zweiten Woche jedoch änderten die Verfolger ihre Taktik, stellten sich nunmehr Salvatore in den Weg, begegneten diesem mit finsterem Blick und hielten kaum mehr Abstand, sondern liefen ihm ganz offensichtlich hinterher. Da sie ihm keine Gelegenheiten gaben, das Geheimnis der Mine in Gefahr zu bringen, entschied sich Salvatore am dritten Tag der zweiten Woche, aufs Meer hinauszufahren, um zu fischen; den ganzen Tag über vermeinte er, irgendwelche Gestalten an der Küste auszumachen, die sein Boot im Visier behielten, aber als er an Land zurückkam, sah er keinen von ihnen. Er fragte sich, ob seine Verfolger vielleicht aufgegeben hatten, doch als er am nächsten Morgen, einem Donnerstag, so früh wie noch nie aufstand und nach draußen in die Kühle der Nacht hineinging, wusste er, dass die Verfolger nicht aufgegeben hatten – vielmehr belagerten sie sein Haus, um das er mehrere niedergebrannte Lagerfeuer ausmachen konnte, die kaum eine andere Erklärung zuließen. Auch an diesem Tag änderte Salvatore seine ursprünglichen Pläne und fuhr auf das Meer hinaus, fing Fische und empfand die Flucht vor den übel aussehenden Gestalten als reinste Befreiung. Dieses Spiel trieb er mit seinen Gegnern bis zum Samstag, denn als er an diesem Tag vor dem Sonnenaufgang vor das Haus trat, waren alle Lagerfeuer plötzlich verschwunden. Salvatore wunderte sich über diese Entwicklung und meinte, dass dies wohl eine neue Taktik seiner Gegner sei, schnappte sich seine Netze und ging bis zum Meer hinab, wo er den ganzen Tag über kaum Fische fing. Er hatte so wenig Fangglück, dass er beinahe jeden Moment an seine Mine und an die goldene Ader denken musste, die ihn vermutlich bis an das Ende seines Lebens versorgen konnte.
So war es kaum verwunderlich, dass Salvatore am nächsten Morgen entschied, gegen alle drohenden Gefahren eine Wanderung durch die Natur zu machen, so unauffällig wie möglich, und doch mit einer einzigen Absicht: zu seiner Mine zu gehen. Wie jeden Sonntag machte er sich früh morgens fertig, um in die Kirche zu gehen, doch an diesem Sonntag sollte es das bisher einzige und letzte Mal in seinem Leben sein, dass er auf dem Weg zur Kirche an ihr vorbeiging, sich, ohne gesehen zu werden, aus dem Pulk der Menschen schlich, fernab der Wege aus dem Ort floh und zum Geröllfeld ging, auf dem er das erste Mal seit zwei Wochen aufatmete, da er von keinem Menschen verfolgt worden war. Den Weg voraus und die Mine immer in Gedanken, freute er sich auf die bevorstehenden Mühen, die ihm einen entsprechenden Lohn verhießen.
Den Grund, warum ihn niemand verfolgte und den er sich bisher nicht erschließen konnte, ebenso wenig wie das Verschwinden der Belagerung seines Hauses, erkannte Salvatore erst, als er unterhalb des Plateaus stand und vernahm, wie oben auf der Anhöhe lautstark gearbeitet wurde. Sie hatten seine Mine entdeckt!
In einem zornigen Aufbrausen stiefelte er nach oben auf das Plateau, und als die Goldsucher den Herankommenden sahen, bauten sie sich wie eine Front vor der Mine auf und hielten ihre Gewehre geladen und entsichert, zum Boden gerichtet – noch! Dennoch ging Salvatore auf die Männer zu und sah mit an, wie diese ihre Waffen erhoben und auf ihn zielten; alsdann sprach ihn einer der Männer direkt an und verlangte von ihm, dass Salvatore verschwinden solle, wenn ihm sein Leben lieb sei. Salvatore hingegen wusste nicht mehr, ob er sein Leben lieben konnte, wenn er die Mine verlor, den Berg, der ihm den Marmor und dann, als er die Hoffnung bereits aufgegeben hatte, auch noch das Gold geschenkt hatte. So trat er einen weiteren Schritt nach vorne und vernahm nur allzu dumpf das Brüllen des Mannes, der ihn angesprochen hatte, während die Minenarbeiter weiterhin auf den vermeintlichen Gegner zielten, der sich keine zehn Schritte mehr von ihnen befand. Die ganze Situation schien unauflösbar, als Salvatore seine Nachbarin Georgia und ihre vier Kinder durch den Kopf schossen, er für sich sagte, dass er den fünf nicht helfen konnte, wenn er tot sei, und lächelte über diesen Gedanken, im Frieden mit sich selbst und dem Berg, bereit, für den Rest seines Lebens ein einfacher Fischer zu sein, der jeden Tag aufs Meer hinausfuhr, wie sein Vater und sein Großvater, wie viele andere, die ihr Leben mit der Fischerei bestritten – doch dann war es ihm plötzlich, als hätte man einen heißen Eisenstab in seinen Brustkorb gerammt, und als er an sich hinabblickte, sah er, wie sich sein Hemd rot färbte; nur langsam begriff Salvatore, dass einer der Männer auf ihn geschossen hatte. Alles um ihn herum schien in einer Starre zu versinken, jeder auf dem Plateau war wie gelähmt, und je mehr das Blut aus dem Körper Salvatores floss, desto mehr kribbelten seine Arme und Beine, ehe er zuerst auf die Knie sackte, ehe er zusammenbrach und auf dem kalten, nackten Stein landete, der so gar nichts mit dem weißen, hellstrahlenden Marmor oder dem glänzenden Gold des Berges gemein hatte. Und dennoch war es ihm, als würde er in den Schoß seines Berges zurückkehren, zur Quelle, zu sich selbst, als er dort auf dem nackten, kalten Steinboden des Plateaus lag und zum letzten Mal in seinem Leben die Sonne sah.