Der Elefant

Der Elefant

[Novelle, veröffentlicht in Fantasia Magazin 1156e, 2024]

Magazin

Der Elefant

Als sich in einem kleinen indischen Dorf plötzlich ein Elefant inmitten der Häuserreihen wiederfand, einer dieser uralten Elefanten, die zum Sterben ihre Herde verlassen, legten alle Dorfbewohner ihre Arbeit umgehend nieder und liefen nach Hause. Auch Salil ließ seine Arbeit ruhen, legte das Schneidewerkzeug weg und folgte dem Strom der Dorfbewohner zurück in die Häuser. Erschrocken von dem Aufwallen der Bewegungen im Dorf kam Salils Frau mit dem Neugeborenen just in dem Moment aus dem Haus, als Salil hineinstürmte. Was denn los sei, rief sie ihm hinterher, und er rief zurück, dass ein Elefant im Dorf sei, sodass sie sich nun endlich von den Sünden der Zeit reinigen könnten. Salil jagte in den hinteren Raum, suchte in einer mit Steinen beschwerten Truhe nach seiner Machete und eilte an seiner Frau vorbei in Richtung Ortsmitte. Sie rief ihm viel Glück hinterher und ging zurück ins Haus, um dem Neugeborenen, das die Unruhe zu spüren schien, die Brust zu geben.

Salil schloss sich einem Strom von bewaffneten Männern an, die in die Dorfmitte drängten. In Scharen sammelten sie sich um den zentralen Platz, auf dem in der Mitte ein Brunnen thronte und beinahe jeden Tag Markt abgehalten wurde, wenn die Bauern aus der Umgebung ihre Ernte feilboten. Doch zu dieser Stunde, in der schwülen Hitze des frühen Nachmittags, lag über dem Dorf eine merkwürdige Stille, und außer dem gelegentlichen Klappern der metallenen Waffen war nichts zu vernehmen. Salil sah, wie die anderen Männer den Elefanten beobachteten, der neben dem Brunnen auf die Knie gegangen war, um sich auszuruhen. Wenn der Koloss sich zur Seite, auf den Brunnen, fallen ließe, wäre das steinerne Rund binnen eines Augenblicks dahin, denn das Gewicht des Bullen war immens. Doch nichts regte sich und keiner der Männer machte auch nur einen Schritt nach vorne, denn so wollte es die Legende der Reinigung der Zeit, dass sich niemand dem Elefanten nähern durfte, sollte dieser nicht auf seinen vier Beinen stehen. Somit hielten sie alle den Abstand vom Bullen, beobachteten aber jede seiner Bewegungen, denn wenn er sich noch einmal aufraffen würde, begänne das zeremonielle Kämpfen um die Reinigung.

Salil stand neben zwei Männern, die, wie er, das Gewicht auf das eine Bein verlagerten, bereit, nach vorne zu springen, sobald sich der Elefant bewegte. Er hörte, wie angestrengt sie atmeten, wie sie keuchend immer wieder den Atem anhielten, um ihn stoßweise auszupusten. Sie alle schwitzten in der prallen Sonne, und Salil meinte auch, den Elefanten schwitzen zu sehen, obwohl das eher eine Fata Morgana sein musste.

Langsam wurde die Menge ungeduldig, denn jeder befürchtete, dass sich der Bulle bald zur Seite werfen würde, um seinen Todeskampf anzutreten. Damit wäre aber alles verloren, alle Chancen, sich für alle Lebenszeiten zu reinigen, wären dahin, und das Dorf würde weiter in der bisherigen Unreinheit leben müssen, solange, bis der nächste Elefant in das Dorf kommen würde – was allzu selten geschah. Salils Gedanken wanderten während des Wartens in der prallen Sonne umher; er fragte sich, ob er von einem Dorf gehört hatte, in das ein Elefant zum Kampf um sein Leben gekommen war, und ob er die Geschichte nicht ins Reich der Legenden verfrachten würde, sondern sie echt war. Ihm fiel kein Beispiel ein, sondern nur Erzählungen seiner Eltern und Verwandten, die ihm von rituellen Reinigungen in Dörfern berichteten, deren Namen er schon wieder vergessen hatte, da es keine in der Nähe waren.

Die Sonne zog weiter am Himmel voran und die Männer im Kreisrund schwitzten.

Ob sich die Zeit nun eine Stunde oder ein ganzes Jahr weiterbewegt hatte, konnte wohl keiner der wartenden Männer genau beantworten, denn alle befanden sich in einer rituellen Trance, die stärker war als jedes Gefühl, das sie in der Welt hielt. Einige tuschelten, andere setzten sich hin, jedoch wandte keiner die Augen von dem Elefanten ab, der mit schwerer Atmung weiterhin am Brunnen kniete und sich nicht bewegte. Was in seinem Kopf vorgehen mochte, konnte ebenfalls keiner der Männer vermuten, und außer dem Grund, dass der Elefant zum Sterben seine Herde verlassen hatte, gab es keinen anderen, denn zur Futtersuche verließen die Elefanten den schützenden Wald nur dann, wenn absolute Not herrschte, doch die Regenzeit war noch nicht lange her, sodass alle Gräser in gutem Wuchs auf den Lichtungen standen.

Salil stand an der linken Flanke des Elefanten und beobachtete sehr genau jede seiner Bewegungen, das schwere Atmen und die halb geschlossenen Augenlider, die ihm ein Gefühl dafür gaben, wie es dem Elefanten in diesem Moment gehen musste. Um sich die Zeit nicht zu lange werden zu lassen, dachte Salil darüber nach, was er alles von seinem Vater und den anderen Dorfbewohnern über das Leben der Elefanten wusste. Außer dass sie in Herden und im Wald, bevorzugt auf den Trampelpfaden und Lichtungen lebten und sich von Gras und Sträuchern ernährten, dazu den Menschen mieden, aber keinen wirklichen natürlichen Feind hatten, außer wenn sie Junge hatten oder sich zum Sterben aus der Herde verabschiedeten, wusste er von einem tiefen Wesen, von vielen Aufgaben, die sich, wenn sie einmal domestiziert waren, für den Menschen, Hand in Hand, übernehmen konnten, und so zu treuen Wegbegleitern wurden, die eine tiefe Verbundenheit entwickelten, so zärtlich, dass sie trotz ihrer körperlichen Statur niemals etwas aus Boshaftigkeit zertrampelten, sondern nur, wenn sie in Rage oder in einen Angstzustand versetzt wurden, der sie dann blind umhertrampeln und Schaden anrichten ließ. Die Menschen hingegen, die mit den Elefanten umgingen, versuchten, ihnen die Arbeitsschritte beizubringen, und gingen dabei nicht immer sanft mit den sanften Dickhäutern um, sondern zwangen sie, brachen ihren Eigensinn, ehe beide, nach der Unterwerfung des weitaus größeren Lebewesens, eine lebenslange Symbiose eingingen, die tiefer als vergleichbare Zustände unter vielen Menschen werden konnte. Elefantenführer, die in der hiesigen Sprache Mahut genannt wurden, waren gesellschaftlich angesehene Menschen, die eine ehrenwerte Arbeit mit Tieren durchführten, die für viele Bewohner dieser Landstriche heilige Tiere waren. Und doch, trotz der Heiligkeit der Tiere für die Menschen, wurden sie immer seltener, sie zogen sich tiefer und tiefer in die Wälder zurück und vermieden jeden Kontakt mit den Menschen und deren zivilisatorischen Gründungen, da sie gelernt hatten, dass sie in einem Konkurrenzverhältnis um den biologischen Raum immer den Kürzeren zogen, wenn der Mensch nicht freiwillig den Rückzug antrat.

Diese Gedanken durchstreiften den Kopf des jungen Vaters Salil, der nicht nur an den Elefanten und seine Beweggründe dachte, sondern auch an seine Familie, an seine Ehefrau, die vor einigen Wochen das zweite Kind zur Welt gebracht hatte, kurz nachdem das erste an einer nicht diagnostizierbaren Krankheit nach kurzem, fiebrigen Kampf gestorben war. Der Schamane des Dorfes hatte alles versucht, um den Anstieg der Temperatur des kleinen Sohnes zu bremsen, und war so weit gegangen, den kleinen Jungen in sehr heißes Wasser einzutauchen, um den Körper zur Kühlung zu zwingen, doch es half nichts – nach einem Kampf, der nach weniger als zwei Tagen zu Ende war, erlag sein kleiner Sohn dem Todeskampf, völlig erschöpft von den Anstrengungen in den Armen seines Vaters, der zum ersten Mal seit dem Erwachsenwerden heftig weinte. Sogleich hatte sich Salil um die Bestattung des kleinen Sohnes kümmern müssen, da seine Frau kurz vor der Entbindung des zweiten Kindes stand, und kaum, dass die Tränen vom Verlust versiegt waren, hielt er auch schon seine neugeborene Tochter in seinen Armen, die ihm wie das schönste Geschenk der Welt vorkam. Auch wenn er sich in diesem Moment trauriger und schuldiger als alle anderen Menschen der Welt fühlte, weil er sich so sehr freute, obgleich sein Sohn vor so kurzer Zeit gestorben war, schien ihm seine Tochter wie ein neues Geschenk, das ihm die Kraft zum Leben wiedergab. Seiner Frau war die zweite Geburt zwar leichter gefallen als die erste, doch kaum, dass sie entbunden und das erste Mal gestillt hatte, bekam sie, wie ihr Sohn zuvor, ein hohes Fieber und überstand den Todeskampf nur nach langem Wachen und Hoffen am Krankenbett. Derweil versorgte Salils Mutter das Neugeborene, und nach einigen Wochen der Trauer, des Hoffens, des Bangens und des Freuens über die Rückkehr ins Leben kehrte die Normalität in Salils Haus zurück, sodass er glaubte, dass alles wieder seine normalen Bahnen zog – bis zu dem Zeitpunkt, an dem er den Elefanten ins Dorf wanken sah, um sich am Brunnen niederzuknien. Nach allem, was er die letzten Wochen erlebt hatte, konnte Salil nicht anders, als in dem Erscheinen des Elefanten ein Zeichen zu sehen, die Sünden der Zeit loszuwerden und mit dem Tod seines kleinen Sohnes abzuschließen, über den er bisher nicht ausreichend trauern konnte, da er in Furcht um seine Frau und seine kleine Tochter gewesen war.

Nach und nach stieg Salil die Hitze in den Kopf; den Elefanten nahm er nur noch verschwommen wahr und wähnte sich in einer Art Delirium, das einem Fiebertraum nahe kam. War der Elefant überhaupt noch in der Dorfmitte, neben dem Brunnen? Träumte er das ganze Schauspiel vielleicht nur und lag eigentlich zu Hause auf dem Bett und fieberte im Wahn vor sich hin? In einem Fiebersturm, den auch seine Frau nach der Geburt durchleiden musste? Salil schloss die Augen, atmete tief durch, wartete, ob sich etwas änderte, ob er vielleicht das Bett spüren konnte, auf dem er lag, doch nichts als der tuschelnde Lärm der anderen und die sengende Hitze von der Sonne auf seiner Haut, ohne dass sich ein laues Lüftchen regte, waren zu vernehmen, und somit öffnete er die Augen wieder und sah den Elefanten so scharf wie nie zuvor. Dieser hatte seine Augen nun ganz geöffnet und starrte in seine Richtung, starrte ihn an und schien ihm etwas mitteilen zu wollen. Salil nahm den Blickkontakt an und suchte darin, was ihm der Elefant mitteilen wollte, doch ehe er es erraten konnte, schloss der graue, mit Warzen und Abszessen übersäte Elefant seine Augen und brach den Blickkontakt ab.

Jetzt erst schien es, dass Salil den Elefanten zum ersten Mal über seine Bewegungen und Gründe für sein Hiersein am Brunnen in der Dorfmitte genauer betrachtete. Der alte, graue Dickhäuter hatte nicht nur Abszesse und Warzen überall an seinem Körper verstreut, sondern auch eine für Elefanten an manchen Stellen sehr hell wirkende Haut, während andere Körperstellen aufgrund der vielen Altersfalten sehr dunkel wirkten. Seine Stoßzähne waren sehr lang und elegant gebogen, leicht verdreckt an den Seiten und nicht mehr mit der vollen Strahlkraft junger Stoßzähne. Seine gesamte Körperstatur wirkte wie ein drahtiger, durchaus ausgemergelter Körper, der in den letzten Tagen und Wochen nicht mehr die volle Kraft besaß, um sich ausreichend zu ernähren. Aber nicht, dass der Bulle kraftlos wirkte, nein, vielmehr war er trotz der schweren Atmung immer noch kräftig genug, um im rasenden Modus eine Menschenmasse zu sprengen und notfalls niedertrampeln zu können. Es erschien Salil viel mehr, als dass der Elefant hier am Brunnen Kraft sammelte, um sich bald wieder aufzurichten, viel eher, als dass er gleich zur Seite umfiel, um die letzten Atemzüge zu machen. Nicht nur deshalb hielten die Männer Abstand zum Bullen, der nur dann bei der traditionellen Reinigung mitwirken konnte, wenn er auf seinen vier Beinen stand und kämpfend besiegt wurde.

Salil sah auch die vielen Narben, die der alte Elefantenbulle in seinem Leben davongetragen hatte. Vor allem seine großen Ohren zeugten von den Kämpfen und Widrigkeiten, die das Tier in seinem Leben erfahren musste. Ob es nun Kämpfe oder stachelige Sträucher gewesen waren, konnte er nicht erkennen, doch die Einkerbungen in den Ohren sprachen Bände. Vor allem eine Einkerbung im linken Ohr, aus dem mehrere Zentimeter fehlten, schien von einem Kampf herzurühren, den der Elefant mit einer langen zusätzlichen Narbe oberhalb quer über die Stirn bezahlt hatte. Doch diese beiden Verletzungen waren längst verheilt und sicher nicht der Grund, warum der Elefant zum Sterben die Herde verlassen hatte.

Diese und viele andere Fragen stellte sich Salil, als er den Elefanten mit seinem erneut verschleierten Blick untersuchte, und die möglichen Antworten schienen mit einem Mal völlig unwichtig, genau in dem Moment, als sich der Elefant zu bewegen begann, ein Ruck durch den grauen Riesen ging und er versuchte, mit dem knienden rechten Bein aufzustehen. Der erste und zweite Versuch misslang, doch mit dem dritten Schwung stand der Bulle nicht nur auf seinem einen Bein, sondern auf allen Vieren, und plötzlich waren alle Männer, die vorher drohten, im Delirium einzutauchen, hellwach, denn nun war jedem klar, dass mit dieser Entwicklung die Reinigung des Dorfes beginnen konnte, ganz so, als hätte der Elefant die erste Runde in einem nun folgenden Boxkampf eingeläutet und wartete jetzt auf die Angriffe der Menschen, die tatsächlich auf einen möglichen Angriff lauerten.

Da weder Salil noch irgendein anderer aus dem Dorf jemals an einer rituellen Reinigung teilgenommen hatte und niemand wusste, wie die Spielregeln waren, außer dass der Elefant aus eigener Kraft stehen und wehrhaft sein musste, hielten sie sich zunächst mit einem Angriff zurück und beobachteten nicht nur den Elefanten, sondern auch die Menge der Männer, die allesamt die Waffen erhoben hatten, um sich gegen einen Angriff des Elefanten erwehren zu können.

Die Zeit floss wie ein schlickversetzter Sturzbach, zäh und ohne das Gefühl eines Fortkommens, als aus dem Nichts heraus einer der jungen Männer von der Gegenseite mit lautem Gebrüll auf den Elefanten losstürmte und vor Schreck zu Boden ging, als dieser den Kopf drehte und mit seinen Stoßzähnen auf ihn zuschwenkte. Dieser Schwenk war der Startschuss für die anderen Männer zum Angriff, und Salil beobachtete aus seiner Position heraus, wie sich immer mehr Männer aus der Gruppe lösten, um auf den Elefanten loszustürmen, und der eine oder andere vermochte es auch, mit seiner Waffe die Haut des Elefanten einzuritzen, wobei sie jedoch nicht an die Stellen gelangten, die sie anzugreifen beabsichtigten.

Nun waren mehr als die Hälfte der Männer bereits einmal auf den Bullen zugestürmt, und Salil verstand so langsam, was seine Aufgabe bei diesem Ritus sein würde, und somit spannte er seine Muskeln an, schloss kurz die Augen, murmelte einen Spruch zu sich selbst, öffnete die Augen wieder und stürmte ohne Gebrüll auf den Elefanten zu, der noch vor kurzem in die andere Richtung geschaut hatte, jetzt aber den Kopf zu ihm drehte, wodurch Salil abbremsen musste, um nicht vom Schwung der Stoßzähne verletzt zu werden. Dieser Schwung des Elefanten ließ die Anstürmenden von der anderen Seite jedoch an seinen Stoßzahn gelangen, wo sie ihm tiefe Schnitte zufügten. Voller Schmerzen drehte der Elefant seinen Kopf zurück, und Salil ergriff die Gelegenheit, um seine Machete tief in das aufgerissene Fleisch neben dem Stoßzahn auf seiner Seite zu stechen. Es blieb ihm kaum Zeit, denn der Elefant drehte seinen Kopf wie wild zurück, sodass Salil die Machete loslassen musste, um nicht getötet zu werden, und nun begann der Bulle, sich nicht nur mit dem Kopf zu verteidigen, sondern bewegte auch seinen massigen Körper. Wie durch ein Wunder erwischte der zentnerschwere Bulle den am Boden liegenden Salil nur mit der Kante seines Fußes und quetschte ihm so ein Stück Haut und Fleisch darunter, aber es brachen keine Knochen in Salils Körper. Sogleich vermochte es Salil, sich wegzudrehen, auf seine Beine zu kommen und im Wahn auf den Elefanten zuzustürmen, um ihm die Machete aus der Backe zu reißen, was ihm mit einem waghalsigen Manöver auch gelang. Unter dem schwenkenden Rüssel hindurchtauchend lief Salil Richtung Platzende und musste sich dort an eine Häuserwand anlehnen, da er drohte, keine Luft mehr zu bekommen. Völlig außer Atem und ohne jedwede Kraft beobachtete Salil hinter einem Schleier aus Schweiß und Tränenflüssigkeit, wie die anderen Männer mit den Waffen auf den Elefanten einstachen und ihnen immer tiefere Wunden rund um die Stoßzähne zufügten. Der Turm aus Fleisch wankte unter den Schmerzen, hielt sich jedoch noch auf den Beinen.

Der blutige Kampf hielt an und die Salven der Heranstürmenden ließen den Elefanten merklich kraftloser werden, als für Salil unerwartet einer der Männer nicht seine Waffe in das Fleisch des Tieres treiben wollte, sondern mit voller Wucht an einen der beiden Stoßzähne sprang, abrutschte und zu Boden fiel. Dabei schlug er hart auf und blieb bewusstlos liegen. Anstatt dass ihm einer zur Hilfe kam, spurten nun auch andere los und schmissen sich an die Stoßzähne. Immer und immer wieder rutschte einer von ihnen ab und fiel hart auf den steinigen Boden, und nicht wenige von ihnen wurden von dem umhertollenden Bullen getreten, sodass nicht nur deren Knochen brachen; doch die Attacken verfehlten nicht ihr Ziel, denn ohne jede Vorwarnung löste sich der linke der beiden Zähne und zusammen mit der Trophäe fielen die beiden Männer zu Boden und hielten den Gewinn fest. Umso lauter und wilder schrie nun der Elefantenbulle, dessen Gesicht blutüberströmt war, und jene Angreifer, die gerade losstürmen wollten, hielten sich zurück und beobachteten erst einmal die neuen Entwicklungen.

Für Salil war nun klar, dass die beiden auf dem Boden liegenden Männer für alle Zeiten gereinigt sein würden und dass der Elefant nun nicht mehr zwei Gelegenheiten bieten würde, sondern nur noch eine. Salil hatte sich inzwischen genügend ausgeruht, um in der nun folgenden Welle mit anzugreifen, als der Bulle plötzlich und unerwartet seinen blutenden Kopf in die Höhe reckte, das erste und einzige Mal während seiner Anwesenheit im Dorf trompetete und, ohne auf die Angreifer zu achten, loslief, um den Platz und damit das Dorf in Richtung Wald zu verlassen. Vom Trompetenstoß und der augenblicklichen Entwicklung überfordert, waren die Männer wie paralysiert und bahnten dem heranlaufenden Elefanten sogar eine Schneise, durch die er laufend den Platz, dann die ersten Häuser und schlussendlich das Dorf verließ. Eine triefende Blutspur hinterlassend, folgten dem Elefanten die Augenpaare der Angreifer, von denen sich die ersten aus ihrer Paralyse lösten, um dem Elefanten hinterherzueilen. Auch Salil stürmte los, hielt seine Machete fest umklammert und jagte der Spur des Elefanten nach, der einen gehörigen Vorsprung hatte und trotz seines Alters und seiner Verletzungen kein langsamer Läufer war. Nach nur wenigen Augenblicken hatte der Bulle den Rand des Dorfes hinter sich gelassen und tauchte in das Dickicht der Sträucher ein, die nach einer weiteren Strecke in einen nahen Wald übergingen.

Salil sprach sich Mut für die Jagd nach dem letzten Zahn zu, denn er kannte diesen Wald wie kaum ein anderer im Dorf und ging in Gedanken die Möglichkeiten durch, die dem Elefanten offenstanden. Salil vermutete, dass sich der Elefant den naheliegendsten Weg zum Gewässer suchen würde, und hastete daher einen Weg durchs Dorf entlang, den nur die nahmen, die den Elefanten nicht nur verfolgen, sondern ihm den Weg abschneiden wollten, wenn er sich nach dem Eintritt in das schattige Reich der Pflanzen nach rechts wendete, um zum Wasserlauf zu gelangen. Insgesamt waren sie zu sechst, wie Salil mit einem kurzen Blick zur Seite und nach hinten feststellte – die anderen waren dem Elefanten einfach auf dessen Spur gefolgt. Unter seinen fünf Mitverfolgern waren zwei ältere, erfahrene Männer, die den Wald wohl ebenso gut kannten wie er selbst, während zwei andere wohl nur deswegen diesen Weg nahmen, weil Salil ihn genommen hatte; beide waren ihm seit langer Zeit bekannt und im selben Alter, und scheinbar ahnten sie, dass Salil den Weg durch den Wald wie kaum ein Zweiter kennen würde. Den sechsten im Verbund, der diesen sonderbaren Weg nahm, war einer aus der obersten Kaste, die dieses Dorf seit Jahrhunderten regierten, ein jugendlicher Draufgänger, dem es auf keinen Fall gelingen durfte, dass er sich von seinen gesamten Sünden reinwaschen konnte, denn nicht nur Salil wusste von einer Unmenge von Sünden, die dieser junge Mann in seinem kurzen Leben bereits angehäuft hatte.

Diese Erkenntnisse schossen Salil durch den Kopf, als er an der Spitze der sechs Männer durch die erste grüne Wand des Waldes preschte und plötzlich im Schatten stand. Die Augen mussten sich erst an die neue Dunkelheit gewöhnen, doch da Salil die ersten Meter auswendig wusste, konnte er loslaufen, während die anderen alle innehielten und warteten. So gewann er einige Meter und war bereits um die nächste Ecke verschwunden, als er hörte, wie die anderen fünf sich in Bewegung setzten. Schnell sprang er zur Seite, durchschlug mit seiner Schulter eine Blätterwand, lief einige Schritte, duckte sich unter einem hervorstehenden Ast hinweg und warf sich auf den Boden. Er sog die Luft ein und versuchte, möglichst lautlos zu atmen, obwohl sein Herz wie wild raste. Er schien seine Mitläufer abgehängt zu haben, denn nach einer kurzen Weile des regungslosen Liegens auf dem Boden vernahm er ihre Stimmen weiter voraus. Langsam kämpfte sich Salil nach oben und überblickte seinen Standort. Wenn er sich runter an den Wasserlauf durch das dichte Gestrüpp kämpfen würde, könnte er den Weg entlang des Wassers, gegen den Strom, laufen und wäre somit – wenn seine Annahme stimmte, welchen Weg der verwundete Elefant nähme – vor allen anderen an jenem Ort, an dem seine Sünden reingewaschen werden würden.

Der Weg, der keiner war, ging steil bergab, teils musste er auf seinem Hosenboden einen gerölligen Abhang hinuntergleiten, teils robbte er sich unter dichten Verästelungen hindurch, um im nächsten Moment einem seiltänzerischen Affen gleich an einem Ast hängend über eine kleine Senke hinüberzuturnen. Endlich erreichte er, indem er sich mitten durch ein Dornengestrüpp zwängte, den Wasserlauf, der vor ihm in aller Friedfertigkeit mit gemächlichem Tempo entlanglief. Salil blieb für einen Moment stehen und atmete tief durch, ließ die Ruhe der Szenerie in sich eindringen und genoss die friedliche Stille, die nur durch das sanfte Plätschern des Wassers getrübt wurde.

Dann erinnerte er sich an seine Aufgabe, untersuchte seine Haut nach Riss- und Schürfwunden, fand davon einige, jedoch keine ernsthaft gefährlichen, beugte sich zum kristallklaren Wasser hinab und wusch sein Gesicht und seine Arme, die neben seinen Beinen vor allem die Widerspenstigkeit des dschungelartigen Waldes erleiden mussten. Trotz des Brennens der Haut aufgrund der Berührung mit dem kalten Wasser erschien es Salil als das Wegwaschen des gesamten Schmutzes, der sich in der letzten Zeit auf ihn gelegt hatte, und als er sich gereinigt fühlte, hatte er für einen Augenblick den eigentlichen Grund seines Aufenthalts im Wald vergessen.

Erst als er sich anstrengte, über den Grund nachzudenken, entdeckte er die Machete, die auf dem nackten Stein neben dem Flusslauf lag, hob diese auf und drückte sich nach oben, um den Elefanten und dessen zweiten Zahn zu jagen. Salil lief zwar in einer hohen Geschwindigkeit und mit waghalsigen Sprüngen am Fluss entlang, doch es hatte sich etwas verändert. In seiner Entschlossenheit, dem Elefanten den zweiten Zahn abzujagen, waren Risse aufgetaucht. Die drängendste Frage war jene, ob seine Sünden von allen Zeiten überhaupt gereinigt werden könnten, wenn sich der Elefant nicht mehr im Dorf befand, sondern mitten im Wald, dort, wo er zu Hause war, in seinem Reich. Dazu kam die Unsicherheit, warum er überhaupt losgelaufen war, anstatt erst einmal über diese Tatsache nachzudenken.

Salil war mit einem Mal verwirrt und blieb stehen, um sich seine Situation durch den Kopf gehen zu lassen. Der Elefant würde zur Not auch auf ihn warten, da war er sich sicher, doch sollte er den Elefanten überhaupt noch suchen? Was würde es ändern, wenn er den zweiten Zahn mit ins Dorf brächte? Wäre er dann ein anderer Mensch? Wäre er dann für alle Zeiten gereinigt oder nur für den Moment ein besonderer Mensch, einmal aus dem Schatten der Zeit hervorgetreten, um vom Schicksal ausgeleuchtet zu werden, einmal und dann nie wieder? Würde er Teil einer jener Legenden werden, die sich andere Männer in anderen Dörfern anhören würden, um an ihnen zu zweifeln?

Salil trat zum Wasser, das sich an dieser Stelle zu einem kleinen Stausee sammelte, ging in die Knie und beobachtete sich im Spiegelbild des Wassers. Leichte Wellen zogen durch sein Gesicht, wie Wellen der Zeit, die um ihn herum kreisten, doch es war nicht, als würde er sich in einem Strudel gefangen sehen, sondern mitten im Fluss, genau dort, wohin er auch gehörte, im Hier und Jetzt. Salil verstand auf einmal, dass er nicht von den Sünden der Zeit gereinigt werden müsse, sondern sich selbst und seine Familie nur durch seine Taten reinigen konnte. Ein heftiger Ruck ging durch seinen Körper, und er richtete sich auf, spannte seine Muskeln an und lief mit neu erwachter Kraft den Flusslauf entlang, dem Elefanten entgegen, von dem er trotz der Weitläufigkeit des Flusslaufs wusste, wo dieser sich zum letzten Sterbeakt niederlegen würde.

Dann erreichte er den Ort, an dem der Elefant vor ihm blutend und schwer atmend auf dem Boden lag.

Alle schienen sie gekommen zu sein. Wie zu einem Totengericht hatten sich die Tiere des Waldes, darunter Affen, Panther, Vögel jedweder Art und andere Tiere, versammelt und schauten hinunter auf Salil und den am Boden liegenden Elefanten. Salil beobachtete den völlig erschöpften und sterbenden Elefanten und ahnte mit jedem neuen Moment, dass dies nicht das Totengericht des Elefanten war, sondern sein eigenes. Nicht, dass die Tiere in den Wipfeln der Bäume ihn angreifen würden, nein, Salil wurde bewusst, dass er als fühlender Mensch sterben würde, wenn er dem Elefanten in seiner wehrlosen Haltung den zweiten Zahn abtrennte und danach auf dieser Lichtung inmitten des großen, weiten Waldes verbluten ließe.

Salil kniete sich vor den Kopf des Elefanten und weinte. Ihm rannen die Tränen über die Wangen, stumm und ohne Wimmern, und wenn ihn einer der anderen Dorfbewohner so gesehen hätte, läge auf ewig Schande auf seiner Familie – doch wer sollte ihm gefolgt sein, an diesen Ort, den so recht niemand kannte? Hinter dem verschleierten Vorhang, der vor seinen Augen klebte, betrachtete Salil den Elefanten und suchte dessen Auge, das ihm zugedreht war. Es schien ganz ohne Hass zu sein, vielmehr voller Angst, dass der Elefant nun über die nächsten Stunden elendig in der Hitze und Feuchte des Waldes verbluten würde. Salil betrachtete den sterbenden Koloss, wie er so dalag, schwach atmend, wissend, dass es jetzt zu Ende ging. Und er traf eine Entscheidung für sich und seine Familie.

Er würde sich nicht dem Diktat der Tradition unterwerfen. Er würde sich nicht dem Aberglauben der Schamanen unterwerfen. Er würde sich nicht vor den Weisen des Dorfes verbeugen, weil sie die Wahrheit zu kennen glaubten. Er würde nicht den Weg seines Vaters, seines Großvaters und seiner Ahnen gehen. Er würde nicht darauf warten, dass eines Tages ein Wunder kam, um ihn aus seiner jetzigen Situation zu retten. Er würde nicht darauf warten, dass ihm ein anderer Mensch aus reinem Herzenswillen aus seiner Not helfen würde. Und er würde nicht warten, um ein neues Leben an einem anderen Ort zu suchen.

Salil wusste, was er zu tun hatte. Er kämpfte sich nach oben und betrachtete ein letztes Mal den mit dem Tode ringenden Elefanten. Seine Augen nach oben gerichtet, wollte sich Salil die Zustimmung der anderen Waldbewohner holen, doch zu seinem Erstaunen waren sie alle verschwunden, alle außer einem Affen, der dort oben im Wipfel saß und mit dem Eindringling in den Wald mehrere Momente lang Blicke austauschte, ehe er zu nicken schien, sich umdrehte und ebenfalls verschwand. Mit dem Wissen, dass der Wald und seine Bewohner ihre Zustimmung zu Salils Wiederaufnahme in den großen Kreislauf der Natur gegeben hatten, ging Salil an sein Machwerk und gab dem Elefanten mit schnellen Bewegungen seinen Todesstoß. Mit dem letzten Atemzug des Elefanten hatte Salil das Beklemmnis, einen Teil von sich selbst getötet zu haben, doch kaum, dass der Elefant von seinen Leiden befreit war, erwuchs in ihm eine neue Zuversicht, die viel stärker war als alles andere, das er in seinem Leben bisher kennenlernen durfte: Er hatte sich selbst gereinigt.