Arbeitsethos

Arbeitsethos

[Kurzdrama, veröffentlicht in der Anthologie Zeitgeist, 2023]

Anthologie kann hier gekauft werden: Link

Arbeitsethos

Ein kurzer Einblick ins Altsein

Personen:

Josef, 71, Maurer.

Martin, 17, Lehrling.

Kurzer Einblick.

Eine Baustelle. Martin macht, was Lehrlinge zuweilen machen müssen: Er räumt auf. Von der Seite kommt Josef dazu. Josef ist alt, aber rüstig, bewegt sich nicht mehr so schnell wie früher, doch die volle Schubkarre schiebt er immer noch souverän. Als er an dem Lehrling vorbeikommt, stellt er die Schubkarre ab.

Josef wischt sich über die Stirn:

Ach, wie schön war es damals, als ich noch Lehrling war! Das ist jetzt… denkt nach …sechsundfünfzig Jahre her, dass ich in die Lehre ging! Eine unfassbar lange Zeit!

Martin aufblickend:

Spaß macht das Aufräumen trotzdem nicht! Warum arbeitest du eigentlich immer noch? Bist du nicht langsam alt genug, um in Rente zu gehen?

Josef:

Ob du es glaubst oder nicht – ich bin jetzt seit sechs Jahren in Rente!

Martin verwundert:

Wieso arbeitest du dann immer noch? Wenn du doch zu Hause sein kannst?! Reicht das Geld nicht?

Josef:

Geld habe ich genug! Mehr, als dass ich ausgeben kann! Außerdem kommen meine Frau und ich gut mit dem aus, was ich als Rente bekomme!

Martin:

Aber wieso arbeitest du dann immer noch hier? Wenn ich du wäre, würde ich zu Hause sitzen und fernsehen oder einfach nur rumhängen!

Josef lächelnd:

Es ist schon klar, dass du so denkst! Ich war ja auch das erste Jahr nach meiner Rente zu Hause! Das war aber die reinste Hölle für mich!

Martin fassungslos:

Zu Hause sein dürfen und nicht arbeiten müssen, ist für dich die Hölle?!

Josef:

Ich weiß, dass das schwer für dich zu verstehen ist! Aber ich habe fünfzig Jahre gearbeitet, war kaum mal krank und bin jeden Morgen früh aus dem Haus gegangen, um spät zurückzukommen! Ich habe mehr Zeit auf der Arbeit verbracht als irgendwo anders in meinem Leben! Und als ich in Rente ging, da fühlte ich mich kerngesund, fit wie ein Turnschuh, würde die Jugend heute sagen! Aber nach einem Jahr habe ich mich einfach nur alt gefühlt. Ich hatte keine Muskeln mehr, alle Knochen taten mir weh, und ich dachte, dass ich in weniger als einem Jahr sterben würde!

Martin:

Und was ist dann passiert?

Josef:

Ich bin wieder arbeiten gegangen! Erst habe ich zehn Stunden die Woche gearbeitet, heute sind es vierundzwanzig. Sechs am Tag reichen, mittwochs habe ich frei. Ich bin ja auch kein junger Hüpfer mehr. Aber wenn ich sehe, was ich manchmal mit meinen einundsiebzig Jahren stemme – dagegen sehen manch Jüngere richtiggehend alt aus! Greift sich an den Rücken, drückt diesen etwas durch. Aber ich muss schon aufpassen, dass ich mich nicht an was Schwerem verreiße. Das geht dann doch nicht, dass ich alles so mache wie noch vor zwanzig Jahren. Doch wo ich mich nach der Rente wie achtzig gefühlt habe, fühle ich mich heute, als wäre ich sechzig! Lacht. Außerdem hätte mich meine Frau längst rausgeschmissen, wenn ich nicht wieder arbeiten gegangen wäre! Ich gehe ihr auf den Keks, wenn ich zu viel zu Hause bin, sagt sie immer! Dann würde ich nur nörgeln! Deswegen ist es wohl besser, wenn ich ein paar Stunden hier draußen arbeite, bevor ich mich zu Hause langweile und dafür auch noch Ärger mit meiner Frau bekomme!

Martin:

Es ist so unglaublich! Ich kann mir gar nicht vorstellen, lieber arbeiten zu gehen als frei zu haben!

Josef:

Glaub mir! In deinem Alter habe ich das auch nicht anders gesehen! Aber komm erst einmal in mein Alter! Dann werden wir sehen, ob du nicht auch merkst, wie wichtig dir deine Arbeit über all die Jahre wird! Die wird dann so wichtig, dass du dir kein Leben ohne eine Aufgabe vorstellen kannst! Hebt mühelos, aber langsam die Schubkarre wieder an. So, jetzt lass uns weiterarbeiten! Das Haus baut sich auch nicht von alleine!

Indem Josef mit seiner Schubkarre zur Seite abgeht, blickt ihm Martin noch eine Weile hinterher. Dann beugt sich der Lehrling wieder zu seiner Aufgabe und räumt weiter auf. Alle ab.