Nachbarn
[Kurzgeschichte, veröffentlicht auf textmanege.com, 2023]
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Nachbarn
Rastlos ziehe ich neuerdings Bahnen durch meine Wohnung. Es sind die Nachbarn, die mich dazu bringen – dazu zwingen. Denn ich habe keine Ahnung, was ich machen soll. Ich, der sonst immer schnell eine Lösung parat hat, um eine entstandene Situation sinnvoll zu meistern oder sie aber schon im Entstehen zu verhindern. Mit diesem Talent rühme ich mich in meinem Bekannten- und Freundeskreis. Nun muss ich mir aber selber eingestehen, dass mir die Lösungsmöglichkeiten fehlen.
Unsere Nachbarn sind jung, sehr jung. Und schon Eltern. Sie sind laut, das Kind schreit dauernd, die beiden schreien sich öfters an. So sehr, dass man sie in ein Seminar für Konfliktlösungsstrategien schicken will – wenn die Hoffnung bestünde, dass es etwas bringen würde. Aber das Geschrei wird wohl nicht weniger werden. Was in einem hellhörigen Haus dazu führt, dass man bei der Zeugung, der Geburt, dem ersten Stillen, dem ersten Zahn und dem ersten Wort dabei gewesen ist. Was aber kein Problem darstellt, wenn man diese Zwischengeräusche gekonnt ignorieren kann. Dann machen wir halt die Musik etwas lauter – quid pro quo.
Schwierig ist es aber erst seit ein paar Tagen. Ich hatte an einem Wochentag frei und war zu Hause, beschäftigte mich mit dem müßigen Nichtstun, als plötzlich in der Etage über mir ein Streit ausbrach. Es hörte sich wie immer an, und ich war schon gewillt, die Musik anzumachen, als ich einen dumpfen Ton hörte. Sogleich war es augenblicklich leise. Dann knallte eine Türe und ich hörte im Treppenhaus, wie jemand nach draußen stürmte. Ich war wie in Schockstarre. Nach und nach wurde ich eines Wimmerns gewahr, und ehe ich mich durchringen konnte, aufzustehen und nachzusehen, hörte ich das Kind schreien. Nur wenige Momente später wurde das Kind getröstet und ich war für den Augenblick beruhigt.
Aber konnte ich tatsächlich beruhigt sein? Ich ging davon aus, dass er sie geschlagen hatte und sie zu Boden gestürzt war. Wollte ich sie darauf ansprechen oder lieber abwarten? Oder den Vorfall gar an eine offizielle Stelle melden? Polizei, Jugendamt, dem Seelsorger? Nichts schien mir die richtige Lösung zu sein, und als ich sie einen Tag später humpelnd mit dem Kinderwagen den Bürgersteig entlanglaufen sah, war die Konfusion raumgreifend. Ich sprach mit meiner Frau über dieses Thema und musste sie von übereilten Schritten abhalten – was, wenn wir mit einer Meldung mehr kaputtmachen, als dass wir heilen? Wie die meisten persönlichen Entscheidungen haben gerade solche, die direkt in die Beziehung von zwei Menschen eingreifen, nicht nur positive Eigenschaften. Und die Negativen konnte ich mir lebhaft ausmalen. Am Ende wären wir vielleicht sogar dafür verantwortlich, dass das Kind ohne Vater aufwächst. Allerdings: Was wäre, wenn wir das Kind vor einem gewalttätigen Vater beschützen könnten? Und die Mutter gleich dazu. Was, wenn dieser Ausraster eine einmalige Sache war, aus der er gelernt hatte? Die Wahrscheinlichkeit scheint zwar gering, aber sie existiert. Wo kann man hierbei die Verhältnismäßigkeit ansetzen, hinter der sich die Gerichte meist verstecken, wenn sie unliebsame Entscheidungen treffen müssen?
Meine Frau ist eben nach Hause gekommen. Wir unterhalten uns mal wieder über dieses eine Thema, das wir seit Tagen haben. Es gibt nichts Neues, nichts, das die Entscheidung einfacher oder wenigstens klarer macht. Keine neuen Erkenntnisse, keine neuen Lösungsmöglichkeiten. Die sinnvollste Variante, die wir uns überlegt haben, ist die direkte Ansprache an die Mutter. Sie scheint das Opfer zu sein, daher müssen wir sie als erstes darauf ansprechen. Ich raffe mich auf, ringe mich zu einer endgültigen Entscheidung, schaue aus dem Fenster, ob der Nachbar da ist, doch er ist noch auf Arbeit oder woanders. Auf jeden Fall steht sein Auto nicht vor dem Haus. Ich wage es und gehe die Treppe nach oben, klopfe, warte. Ich spüre den Kloß im Hals, und als die Türe aufgeht, habe ich das Gefühl, sie weiß, was ich von ihr will.
In weniger als einer Minute bin ich wieder in meiner Wohnung. Meine Frau schaut mich mit großen, erwartungsfrohen Augen an, doch alles, was ich berichten kann, ist, dass wir uns mal am Arsch lecken und uns um unsere eigenen Probleme scheren sollen. Diese feindselige Aussage der Nachbarin lässt die fragile Ruhe meiner Frau implodieren und beruhigt keinen von uns beiden. Wir beide sind uns im Klaren, dass zwischen den beiden Jungerwachsenen noch ein kleines Kind lebt, das schutzlos ist, wenn es zwischen die streitenden Fronten gerät. Was aber machen, wenn keine der möglichen Alternativen wirklich zu helfen scheint? Ich ziehe wieder rastlos meine Bahnen und suche angestrengt nach einer Lösung. Und ich muss zugeben, dass mir trotz meiner Fähigkeit, Lösungsmöglichkeiten zu finden, jedwede Lösung fehlt.