Willi Wurm und das Schlaraffenloch
[Kurzgeschichte. Veröffentlicht in Tierisch gut #4. Anthologie, 2025]

Willi Wurm und das Schlaraffenloch
Tief unten im Garten, dort, wo niemand hinschaut, wo es dunkel ist und manchmal ein bisschen müffelt, lebt Willi Wurm. Willi ist kein gewöhnlicher Wurm – nein, er ist ein Kompostwurm mit ganzer Leib und Seele. Sein Zuhause ist der große Komposter hinter dem Schuppen, gleich neben dem alten Pflaumenbaum, wo Frau Runkel ihre Apfelschalen, Kaffeesätze und welke Salatblätter hineinwirft.
„Mein Schlaraffenland!“, ruft Willi jeden Morgen, wenn er die feuchten Reste von Gurkenschalen beschnuppert oder sich durch einen matschigen Bananenstumpen windet. „Was für eine Pracht! Was für ein Fest! Was für ein… huh, ist das etwa… Zucchini?!“ Dann schmatzt er vergnügt, schlängelt sich durch das Buffet und baut dabei seine kunstvollen Gänge.
Willi liebt seine Gänge. Sie sind gewunden wie Spaghetti, geheimnisvoll wie Labyrinthe und voller Abzweigungen, in denen er Nickerchen hält. Manchmal verläuft er sich sogar selbst darin – aber das macht nichts, denn irgendwann trifft er immer wieder auf seinen Lieblingsplatz: die Karottenhöhle. Dort hat er sich aus alten Karottenfasern ein kleines Sofa gebaut. „Wurmsofa, was für ein Luxus“, sagt er dann zufrieden.
Eines Tages jedoch, als Willi gerade dabei ist, ein besonders delikates Stück Eierschale zu zerbröseln, rumpelt es über ihm.
Krach. Plumps. Rumps!
Ein riesiger Klumpen Kartoffelbrei fällt direkt in seine Frühstücksgrube.
„Alarmstufe Matsche!“, ruft Willi und taucht ab, direkt in den Fluchtgang Nr. 7B (Hauptgang, zweite links, hinter dem Teebeutel).
Doch kaum hat er sich beruhigt, entdeckt er mitten im Kartoffelbrei… etwas Ungewöhnliches. Etwas, das sich bewegt. Etwas mit Haaren.
„Wer bist du denn?!“, fragt Willi vorsichtig.
„Ich bin Käthe Krümelkäfer“, sagt das zappelnde Ding. „Ich war eben noch in der Brotdose, habe mich an den schmackhaften Resten gelabt und dann… plumps! Jetzt bin ich hier. Wo bin ich hier überhaupt? Es riecht wie Großmutters Gemüseschrank!“
„Willkommen im Schlaraffenloch!“, sagt Willi stolz und macht eine elegante Wurmrolle. „Ich bin Willi Wurm, Gangleiter und Kompostierungsprofi. Und du, Käthe, hast gerade das Paradies betreten.“
Käthe blickt sich um. Es dampft, es blubbert, es riecht… na ja… speziell. „Das Paradies?“
„Na klar!“, sagt Willi. „Hier gibt’s alles: Frühstück, Mittagessen, Abendbrot – und das rund um die Uhr. Keine Jäger, keine Staubsauger, keine ekligen Schuhsohlen. Nur Bio-Buffet, wohin man schaut!“
„Hm“, macht Käthe. „Aber es ist auch ein bisschen… rutschig.“
„Das ist die Sojasaucenrutsche“, erklärt Willi. „Ein echter Hit bei den Jungwürmern!“
Käthe lacht, und Willi grinst – soweit ein Wurm eben grinsen kann.
Zusammen erkunden sie die Gänge. Willi zeigt ihr den Zwiebelballsaal (nur mit Nasenklammer betretbar), den Kompost-Kino-Gang (eine verrottete Zeitungsseite, auf der sich Schattenbilder abzeichnen) und das geheimnisvolle Pilzparadies, wo alles ein bisschen glitzert, wenn man schielt.
„Und hier“, flüstert Willi schließlich, „liegt der Schatz.“
„Ein Schatz?!“, ruft Käthe aufgeregt, „Was für ein Schatz? Gold? Juwelen?“
„Noch besser“, sagt Willi mit leuchtenden Augen, „eine vollständig intakte, leicht angegammelte Erdbeere!“
Käthe schüttelt erst den Kopf – und beißt dann zu. „Mmh. Du hast recht. Das ist besser als vieles andere!“
Sie richten sich gemeinsam ein kleines Lager ein. Käthe lernt, wie man Teebeutelzelte baut. Willi lernt, dass Krümelkäfer wirklich jeden Krümel finden. Und zusammen erfinden sie neue Gänge mit Namen wie „Kichererbsenschlupf“, „Kraut-Karacho“ oder „Pups-Express“.
Doch eines Tages steht der Komposter plötzlich still. Keine neuen Reste. Keine neuen Apfelschalen. Nur Trockenheit.
„Frau Runkel ist wohl im Urlaub“, murmelt Willi. „Dann sind wir ohne Nachschub… kein Schlaraffenland für eine Zeit lang!“
Die beiden Freunde beschließen, etwas zu unternehmen, um den Grund herauszufinden. Sie starten eine Expedition nach oben, vorbei an alten Zwiebelschalen, Kaffeefiltern und einem geheimnisvollen Joghurtbecher, der niemandem gehört und hier eigentlich nicht sein sollte.
Am Rand des Komposters spähen sie vorsichtig hinaus.
„Siehst du etwas?“, fragt Käthe.
„Nur… einen Gartenzwerg.“
„Vielleicht kann der helfen?“
Willi denkt nach. Dann hat er eine Idee. „Wir bauen ein Wurmzeichen! Einen Hinweis für die Menschen!“
Zusammen schieben sie Bananenschalen, Brotrinden und Salatstücke so hin, dass sie von oben aussieht wie ein Wort: „Mehr!“
Zwei Tage später – schmatz! – fällt eine Melonenschale vom Himmel. Dann eine Handvoll Spaghetti. Und schließlich: ein ganzer Kürbisdeckel.
„Es hat funktioniert!“, ruft Käthe.
„Wir sind gerettet!“, jubelt Willi und macht einen dreifachen Purzelwurm.
Seitdem ist das Schlaraffenloch berühmter denn je. Andere Würmer besuchen es als Touristenziel, und Käthe schreibt Reiseberichte über die besten Apfelschalen des Jahres.
Und Willi? Der hat neue Gänge angelegt. Noch länger, noch schlängeliger – und manchmal, wenn er besonders gut gelaunt ist, schreibt er mit ihnen ein Wort in den Boden: „Danke“.