Kaskade

Kaskade

[Kurzgeschichte, veröffentlicht in Fantasia Magazin 1168e, 2024]

Magazin

Kaskade

Tim geht die Straße hinab und sieht gedankenverloren einem Radfahrer mit knallgrünem Helm hinterher, der verbotenerweise und mit viel zu hoher Geschwindigkeit auf dem Bürgersteig fährt, anstatt den Radweg zu nutzen. Ohne einen richtigen Gedanken zu fassen, ist er geschockt von den Nachrichten, die ihm sein unpersönlicher Arbeitgeber in einer unpersönlichen E-Mail geschickt hat. Seine Leistung wäre nicht ausreichend im Vergleich zu den anderen, und da er sich noch in der Probezeit befinde, würde man von einer Kündigung Gebrauch machen wollen, wenn sich die Performance nicht augenblicklich verbessere. Das Merkwürdige war, dass ihm sein direkter Vorgesetzter immer wieder spiegelte, dass Tim zu den Highperformern zähle, was nicht zu der Aussage in der E-Mail passt.

Somit stellt sich Tim die Frage nach dem Hintergrund auf mehreren Ebenen: Ist er überhaupt gemeint? Warum sind die Aussagen so unterschiedlich? Wird zu ihm und von seinem Vorgesetzten nach oben unterschiedlich kommuniziert? Gibt es andere Themen, die die Einschätzung beeinflussen?

Ein Wirrwarr an Gedanken begleitet Tim, als er in einen Laden tritt, kaum mehr als ein Kiosk, in dem er sonst seine Kaugummis kauft, doch an diesem Tag greift er zum Bier – soll ihn doch sein Baldnichtmehrarbeitgeber dabei erwischen, wie er sich in aller Öffentlichkeit ein Bier trinkt!

Tim geht an die Kasse und nimmt sein Portemonnaie aus der Hosentasche, merkt den überraschten Blick seines Gegenübers und legt das abgezählte Geld auf den Tresen.

Aki wundert sich ein wenig über den Namenlosen, der sonst in großer Regelmäßigkeit Kaugummis und mal eine Zeitschrift kauft, aber niemals ein Bier oder anderen Alkohol. Er nimmt ohne zu fragen die Münzen, die abgezählt auf dem Tresen liegen, und sortiert sie in die Kasse. Dann schaut er dem Namenlosen hinterher und kehrt zu seinen Sorgen zurück, dass er von der Universität ein Schreiben erhalten hat, dass er auch durch die zweite Nachprüfung des Pflichtfaches Mathe II gefallen ist, was bedeutet, dass er seinen Studiengang nicht mehr beenden kann.

Akis Gedanken schweifen ab, und er merkt nicht, wie eine Frau in den Kiosk gekommen ist, um zwei Piccolos aus der Kühlung zu holen; erst, als sie die beiden auf den gläsernen Tresen stellt – fast schon knallt – wacht er aus dem Tagtraum auf, mustert die Frau kurz und erkennt, dass sie nicht in seinem Alter ist, ehe er in seinem Kopf den Preis für die Piccolos sucht und in die Kasse eintippt. Indem er ihr den angezeigten Preis zuruft, sieht er, wie sie in ihrer Handtasche das Portemonnaie sucht, um zu zahlen.

Karin findet es mehr als dämlich, dass sie in der heutigen Zeit noch mit Bargeld in einem Geschäft zahlen muss, und es beschleicht sie das Gefühl, dass dieser Laden seine Geschäfte nicht ganz sauber führt. Doch das ist ihr an diesem Tag egal, an dem sie endlich den Brief erhalten hat, dass sie formal und rechtsgültig von ihrem Ex-Mann geschieden ist. Nachdem sie sich jahrelang schikanieren und runtermachen ließ, fand sie nach einem weiteren heftigen körperlichen Angriff endlich den Mut, einen Ausweg aus der Beziehung zu suchen, der ihren Ex aufweckte und der seitdem die Freundlichkeit in Person war. Daher ist Karin auch von ihrem Plan abgerückt, die Stadt zu verlassen, ihr Umfeld zu ihrem eigenen Schutz aufzugeben und alles hinter sich zu lassen – und heute ist der Tag, an dem sie mit ihrer Freundin anstoßen wird: auf das neue Leben, das sie sich erkämpft hat.

Sie tritt mit den Piccolos in der Tasche aus dem Laden hinaus auf den Bürgersteig; Es ist diesiges Wetter, bei dem ab und an die Sonne durchscheint, und sie zieht den Kragen höher, geht die Straße hinab zur Bushaltestelle, und kaum, dass sie wartet und ihr Handy aus ihrer Handtasche hervorkramt, um die nächste Ankunft zu prüfen, kommt auch schon der Bus, der sie die wenigen Stationen zu ihrer Freundin bringen wird. Sie wartet, bis der Bus an die Haltestelle herangefahren ist, und sieht, dass der Bus von der Fahrerin gesteuert wird. Karin steigt vorne ein und zeigt ihre Monatsfahrkarte, die die Fahrerin eingehend prüft.

Kiki – eigentlich heißt sie Anna, aber das findet sie zu altmodisch – schaut sich den Fahrausweis sehr genau an; jedoch nicht, da sie etwas Unregelmäßiges darin vermutet, sondern um den Moment zu verlängern, in dem die mitfahrende Fremde neben ihr steht. Seit sie vor einigen Tagen einen tränenreichen Brief von ihrer langjährigen Partnerin erhalten hatte, dass sie sich beide auseinandergelebt hatten, und dieses Gefühl seit längerem auch in Kiki beherrschend war, fühlt sie sich wie befreit und ist seit langem wieder auf der Jagd. Für Kiki ist das Freisein ohne Partnerin eine wilde Zeit, denn sie kennt sich: Alles, das ihr gefällt und bei drei nicht auf dem Baum ist, wird gnadenlos angemacht – so auch die Mitfahrende, die ein hinreißendes Lächeln und einen tollen Duft versprüht, jedoch wenig auf Kikis Werben anspringt. Da ihr Arbeitgeber sie bereits einmal für das Ansprechen eines Gastes abgemahnt hat, sieht Kiki von einem weiteren Anbaggern ab und winkt sie durch. Der nächste Gast ist schon etwas ungeduldig geworden, denn er will nur eine Station fahren, um Zeit zu sparen, und huscht schnell an der Fahrerin vorbei nach hinten. Nico ist sich inzwischen sicher, dass er zu Fuß genauso schnell gewesen wäre wie mit dem Bus. Da es ihm zu peinlich ist, wieder aus dem Bus zu treten, ganz demonstrativ, wartet er und mimt den Ungeduldigen, bis er endlich durch kann und umgehend zum hinteren Ausgang geht, da er nur eine Haltestelle mitfährt. Nico will zu einem Plattenladen; in seiner Tasche hat er einen zerknüllten Werbebrief, in dem mit einer Special Edition eines Doors-Vinylalbums geworben wird, und trotz des immensen Preises wünscht er sich nichts sehnlicher, als dass wenigstens noch ein Exemplar käuflich zu erwerben ist. An der nächsten Bushaltestelle ist es ihm, als würde die Busfahrerin extra lange auf das Aufdrücken der Türe warten – einfach um ihn zu ärgern – und er springt nach draußen, hechtet in den Laden, als ginge es um Leben und Tod – und tatsächlich will er sterben, als ihm nach wenigen Minuten des Suchens klar wird, dass keines der Exemplare noch verfügbar ist; zum Glück kann der Besitzer des Ladens ihm eine Platte bestellen, wobei unklar ist, wie lange es dauern wird, er würde angerufen werden, sagt ihm der Besitzer, und diese Ungewissheit macht Nico nervös, so nervös, dass er einen Frustkauf tätigt, außerhalb seines Budgets für den Monat, einfach so, eine LP, die er einfach nicht braucht und sicher bald wieder verkaufen wird.

Madita hat sich den komischen Kerl von der Seite angesehen, der hypernervös im Laden herumlief und irgendetwas suchte. Sie hat ihn schon öfter gesehen, aber ihr Musikgeschmack ist grundverschieden von seinem, und sie kommt gerade aus einer toxischen Beziehung und sucht nicht gleich die nächste Achterbahnfahrt durch ihr Leben. Interessanterweise hat sie an diesem Morgen beim Ausräumen der letzten Kartons vom Umzug einen an sich selbst gerichteten Brief gefunden, in dem sie sich vor Jahren, als träumerische Anfangzwanzigerin, schrieb, was für eine Art Beziehung sie sich wünschen würde – und von welchem Typus Mann sie Abstand halten soll. Dieser Brief befindet sich nun in ihrer Handtasche, damit sie einen Ankerpunkt hat, wenn das nächste Liebesgefühl vorbeifliegt – denn Alleinsein ist einfach nichts für sie, das weiß sie auch. Madita schiebt den Gedanken beiseite, den The Doors-Fan anzuquatschen – das gäbe nur Ärger am Abend, wenn sie sich an ihn kuschelt und diese alte Musik hören müsste! Um sich selbst vor dem Anflug einer größeren Unsicherheit zu schützen, lässt sie ihren eigentlichen Plan, ein neues Album zu finden, sausen und geht schnurstracks nach draußen, will nach Hause, weg von diesem Ort. Als sie aus dem Laden auf den Bürgersteig tritt, wird sie kurz von der Sonne, die sich für einen Moment durch das diesige Wetter kämpft, geblendet und macht einen weiteren Schritt nach vorne, ehe sie ein lautes, wütendes Geklingel aus ihren Gedanken reißt.

Nur mit Mühe und Not kann Paul den Zusammenstoß mit dieser Blinden verhindern, macht einen waghalsigen Schlenker und kann geistesgegenwärtig noch mehrmals wütend die Klingel betätigen, ehe das kurze Drama vorbei ist – die Tatsache, dass er unerlaubterweise auf dem Bürgersteig fährt, ist ihm dabei völlig egal. Er hat sowieso einen Hass auf die Polizei, die ihm geschrieben hat, dass er seinen Führerschein abgeben müsse, da er einen Unfall verursacht hatte, als er mit einem waghalsigen Manöver zwischen Autos hindurch wollte. Zum Glück hatte er – wie auch heute – seinen knallgrünen Helm aufgehabt, der ihn schon einige Male von größeren Verletzungen bewahrt hat. Nach dem Beinahezusammenstoß fängt sich Paul wieder und tritt mit Kraft in die Pedale, da er auf keinen Fall zu spät zu seinem Training kommen will. Die letzten beiden Male war er bereits zu spät gekommen, und sein Trainer hatte ihn ermahnt, sich mehr an die Regeln zu halten, da dies die Basis für weitere Veränderungen in seinem Leben sein sollte: das Anerkennen, dass es gesellschaftliche Regeln gibt, die es zu beachten gilt. Während Paul den Gedanken an ein Zuspätkommen zum Training davonschiebt, tritt er noch fester in die Pedale und rast an einigen unpersönlichen Glasfront-Bürogebäuden vorbei, hinter denen ein Park folgt, an dessen Rand das Gebäude steht, in dem der Trainer seine Praxis hat.

Tim geht die Straße hinab und sieht gedankenverloren einem Radfahrer mit knallgrünem Helm hinterher, der verbotenerweise und mit viel zu hoher Geschwindigkeit auf dem Bürgersteig fährt, anstatt den Radweg zu nutzen. Ohne einen richtigen Gedanken zu fassen, ist er geschockt von den Nachrichten, die ihm sein unpersönlicher Arbeitgeber in einer unpersönlichen E-Mail geschickt hat. Seine Leistung wäre nicht ausreichend im Vergleich zu den anderen, und da er sich noch in der Probezeit befinde, würde man von einer Kündigung Gebrauch machen wollen, wenn sich die Performance nicht augenblicklich verbessere. Das Merkwürdige war, dass ihm sein direkter Vorgesetzter immer wieder spiegelte, dass Tim zu den Highperformern zähle, was nicht zu der Aussage in der E-Mail passt.

Somit stellt sich Tim die Frage nach dem Hintergrund auf mehreren Ebenen: Ist er überhaupt gemeint? Warum sind die Aussagen so unterschiedlich? Wird zu ihm und von seinem Vorgesetzten nach oben unterschiedlich kommuniziert? Gibt es andere Themen, die die Einschätzung beeinflussen?

Ein Wirrwarr an Gedanken begleitet Tim, als er in einen Laden tritt, kaum mehr als ein Kiosk, in dem er sonst seine Kaugummis kauft, doch an diesem Tag greift er zum Bier – soll ihn doch sein Baldnichtmehrarbeitgeber dabei erwischen, wie er sich in aller Öffentlichkeit ein Bier trinkt!

Tim geht an die Kasse und nimmt sein Portemonnaie aus der Hosentasche, merkt den überraschten Blick seines Gegenübers und legt das abgezählte Geld auf den Tresen…