Kalt

Kalt

[Kurzgeschichte, veröffentlicht in Leben pur – Wintergefühle, Papierfresserchen Verlag, 2025]

Kalt

Durchgefroren von der eisigen Kälte des Tages trat Sören in die warme Stube und setzte sich auf seinen Stuhl, auf dem er immer saß. Draußen waren es deutliche Minustemperaturen, in denen er den ganzen Tag über gearbeitet hatte. Sören war für das Asphaltieren der Autobahn zuständig. Eigentlich ein gutes Zeichen für die Autofahrer, dass er schon asphaltierte. Denn bald konnten sie die Autobahn wieder normal nutzen und mussten nicht elendig lange im Stau stehen. Doch die Wirklichkeit sah anders aus. Obwohl er sogar am Wochenende arbeitete, im Schichtdienst und in der Kälte, wurde er ausgehupt und beinahe täglich angefahren – dabei wollte er den Autofahrern doch nur helfen!

Die Stiefel standen vor Sören auf dem Boden und ihm war immer noch kalt. Die Kälte hatte sich in seinem Inneren festgesetzt. Eine Kälte, die nicht so leicht zu vertreiben war, selbst wenn man sich direkt in eine heiße Badewanne legen würde. Das würde Sören auch gleich machen, doch für den Moment wollte er nur einen heißen Tee.

Seine Frau Annelore brachte ihm eine Tasse und stellte sie vor ihm auf den Tisch. Dazu stellte sie die Kanne mit dem heißen Tee auf das Heizstövchen und setzte sich auf ihren Stuhl. Er nahm den Löffel und ließ einen Zuckerbrocken in die Tasse gleiten. Er griff zur Kanne und goss den dampfenden Tee ein, der eine rötlich, leicht braune Farbe hatte.

Nun hielt er für eine kurze Zeit inne. Auch seine Frau schwieg und lauschte dem Knistern des brechenden Zuckers, der den Tee am Boden der Tasse süßte. Sören griff zum Sahnelöffel und hob eine kleine, gar feine Haube aus der Schale. Langsam senkte er die kleine, weiße Haube an den Rand des Tees und ließ die Sahne hineingleiten. Jedes Mal war es ein besonderes Schauspiel, wie die Sahne zu einem Bild verfloss, das immer einzigartig war. Beide sahen wie gebannt zu und erst, als die Sahne verteilt war, nahm Sören die Tasse auf und blies den Dampf von der Oberfläche.

Jetzt probierte er den heißen Tee. Erst den reinen Tee, dann die Sahne und zum Schluss die letzte, süße Schicht zur Abrundung des Schlucks. Sören spürte, wie er unter seiner kalten Haut langsam an Wärme gewann. Nach und nach kehrte das Leben in ihn zurück. Es kribbelte zuerst in seinem Bauch, dann in seinen Beinen. Ihm ging es mit jedem Schluck besser.

Den Kampf gegen die Kälte hatte er einen weiteren Tag gewonnen. Die Rücksichtslosigkeit der Autofahrer hatte er ebenfalls überlebt. Nun blieb ihm der Rest des Abends, um sich zusammen mit seiner Frau des Lebens zu erfreuen. Bevor es am nächsten Morgen in aller Frühe wieder aus dem Haus ging. Raus auf die Autobahn, raus in die Kälte. An einem Sonntag, an dem es keine Aussicht auf bessere Temperaturen gab. Und an dem die Autofahrer besonders rücksichtslos fahren würden. Doch das war Sören in diesem Moment, in dem er das Spiel der Sahne im Tee beobachtete, ganz egal.