Feine Linien

Feine Linien

[Kurzgeschichte, veröffentlicht in eXperimenta 10-2013]

Feine Linien

Unsere Wege hatten sich schon mehrfach getrennt und immer wieder gekreuzt. Diese Frau war wie eine Sucht, die ich zwar temporär bändigen, aber nicht besiegen konnte. Sobald sie mir über den Weg lief, kamen alle Erinnerungen an unsere gemeinsamen Zeiten hoch – doch, wie durch einen Filter gesiebt, nur die guten. Das war das Dilemma, in dem ich steckte!

Gestern war es wieder so weit gewesen. Wir hatten uns vor einem knappen halben Jahr getrennt und waren unsere eigenen Wege gegangen. Mir war es wunderbar gelungen, sie bald schon, wie bei einem erfolgreichen Cold Turkey, aus meinem Kopf und den Gedanken zu verbannen. Ihr wäre es nicht sehr viel anders gegangen.

Aber dann – aus heiterem Himmel rief sie bei mir an. Sie müsste mit mir über ein Thema reden. Einem Problem, bei dem nur ich ihr helfen könnte. Weil ich doch ihr Seelenverwandter sei.

Ihr Seelenverwandter! Da war es wieder! Bäm! Wie aus dem Nichts schossen mir Bilderserien durch den Kopf, ich sah uns beide, wie wir über einen Boulevard Arm in Arm schlenderten und ich ihre Haare küsste; ich meinte sogar, den Duft ihres Haares in der Nase zu haben. Und das, obwohl ich sie seit so langer Zeit nicht mal mehr gesehen hatte!

Mir verblieb noch gerade genug Zeit, mich auf ihren Besuch vorzubereiten, doch auf diese Naturgewalt kann man sich nicht vorbereiten. Sie stand vor der Türe, ich ließ sie herein, und von den folgenden Stunden blieb nichts weiter als ein farbenreicher Rausch in meinen Erinnerungen zurück. Zwischen meinen Küssen auf ihrer Haut und den leidenschaftlichen Spielen müssen wir irgendwann auch geredet haben. Da bin ich mir felsenfest sicher!

Jetzt stand ich also wieder vor der Aufgabe, die feine Linie zwischen unseren Lebensentwürfen zu finden. Einfach, um diese feine Linie erneut als Grenze zu markieren. Denn sollte ich das nicht schaffen, würde mein Leben in einem einzigen Rausch versinken, und ich wäre ihr hoffnungslos ausgeliefert.