Ein mysteriöser Fall auf der Nürburg
[Kurzgeschichte, veröffentlicht in Regionale Schlossgeschichten, 2023]
Ein mysteriöser Fall auf der Nürburg
Grafen und Burgen
So langsam begann Meierhoff zu verstehen. Mehr und mehr setzte sich das Puzzle der letzten Tage zusammen, das er zu Anfang nicht zusammenzusetzen vermochte.
Zwei Tage zuvor war er am frühen Morgen zur Nürburg gerufen worden, da ein Touristenpärchen bei der Erkundung der Fluchtburg eine Leiche inmitten der alten Kernburggemäuer gefunden hatte. Sogleich begann die Fahndung nach einem Unbekannten. Der Zustand des Toten ließ darauf schließen, dass der Tod am Vorabend der Entdeckung von einer fremden Hand eingetreten sein musste. Selbstmord wie auch ein natürlicher Tod wurden von den Experten ausgeschlossen – dafür gab der Körper der Leiche zu viele unmittelbare Hinweise.
Während die Kollegen der Spurensuche begannen, die Beweise zu sichern, machten sich andere auf den Weg, die Anwohner zu befragen, doch dabei kamen – außer einigen diffusen Mutmaßungen – keine verwertbaren Informationen heraus. Schnell wurde klar, dass niemand gesehen hatte, wie der Tote die Burg betreten hatte, und als man dessen geparktes Auto und Brieftasche mitsamt den Ausweispapieren in einem nahen Waldstück fand, wusste Meierhoff, dass der Tote ein Auswärtiger war. Wer aber hatte den Toten in diesen Wald gelockt, um ihn dort umzubringen und zur Burg zu schleppen? Oder hatte er an Ort und Stelle geparkt und der Tod fand auf der Burg statt? Einen Kampf konnten die Kollegen von der Spurensuche am Fundort nicht feststellen, doch das konnte auch an dem glatten Steinboden liegen, auf dem die Leiche lag. Viel Blut hatte sie nicht verloren, sodass eine eindeutige Blutspur ausgeschlossen schien.
Das war zwar nicht Meierhoffs erster Mordfall, doch der erste, der so wenige eindeutige Informationen bot. Außer der Herkunft des Toten und dem geparkten Auto im Wald wusste er rein gar nichts. Zumeist hatte er es mit Mordfällen zu tun, bei denen die Verdächtigen oder sogar der Täter schnell klar schienen und deren Aufenthaltsorte zu ermitteln waren. Das war dieses Mal völlig anders.
Von der Spurensuche wurden auf Verdacht Unmengen an Proben genommen und Bilder vom Tatort geschossen, die sich Meierhoff immer wieder auf seinem Computer ansah, um etwas darauf zu entdecken.
Plötzlich fiel ihm auf einem Bild etwas auf, das er vorher nie gesehen hatte, auch wenn er sich fragte, wie ihm das durch die Lappen hatte gehen können. In einer hinteren, abgedunkelten Ecke des Fundorts der Leiche hing ein altertümlich wirkendes Schild an der Wand. Meierhoff druckte das Foto aus und wusste sogleich, dass das Schild nicht dorthin gehörte. Die Burg war kein restauriertes Museum, sondern eine Ruine, und kaum dass er das Bild in seinen Händen hielt, fuhr er zur Burg und fand den Tatort unbetreten vor. In der Ecke hing weiterhin das Schild im Schatten der halbzerstörten Wand. Dieses Schild musste der Schlüssel zu dem Mord sein, ahnte Meierhoff und dachte über die mögliche Motivation des Täters nach.
Es brauchte den Schlaf einer Nacht, ehe er bei diesem Rätsel weiterkam. Da es sich um eine Burg aus dem Mittelalter handelte, vermutete er, dass das Schild eine Anspielung auf die früheren Besitzer der Burg sein sollte. Meierhoff setzte einen jungen Kollegen auf die Recherchearbeit an und erhielt schon bald die benötigten Infos. Mit diesen machte er sich wieder auf den Weg zur Ruine und glich sie mit den neuen Informationen vor Ort ab. Mit jedem Schritt ergaben sich neue Abzweigungen, denen er folgen konnte.
Er untersuchte den Tatort erneut und versuchte sich vorzustellen, in welchem Raum der Burg er sich befand. Doch es gab keine näheren Hinweise, denn dafür war die Zerstörung viel zu groß. Aber dass es sich vor einigen Jahrhunderten um das Schlafgemach des Grafen zu Are gehandelt haben konnte, vermochte er sich vorzustellen.
Inzwischen gelangten auch die angeforderten Ermittlungsergebnisse der Kollegen aus dem Landkreis des Toten zu Meierhoff. Wie er vermutet hatte, gab es keine Gründe, in dessen näherem Umfeld nach dem Mordgrund zu suchen, und seine Frau musste nach den Ermittlungsberichten ein einziges Nervenbündel gewesen sein. Doch der Umstand, dass der Tote das Verkleiden und Besuchen von Mittelalterfesten als Hobby hatte, unterstützte Meierhoffs These, dass das Motiv im Tod selber liegen musste. Es ging nicht um den Tod als Auslöschung eines Lebens, sondern um das Ritual des Sterbens – und es war in dem Hobbyumfeld des Toten zu suchen.
Als dem Ermittler dieser Gedanke durch den Kopf ging, hatte er das Gefühl, das Puzzle zumindest in seinem Rahmen zusammengesetzt zu haben. Jetzt musste noch die Mitte zurechtgelegt werden, doch das würde sich sicherlich mit der Zeit der fortschreitenden Ermittlungen fügen. Da war er sich aus einem nicht näher bekannten Grunde sicher.
Als Nächstes nahm er sich die Notizen seines Kollegen vor und untersuchte diese nach einer rituellen Handlung, die sich rund um das Schild abgespielt haben musste. Er fand in den Notizen eine Geschichte aus dem zwölften Jahrhundert, in der Ulrich von Are, der als Wegbegleiter von Königen und Kaisern große Schlachten geschlagen hatte, kurz vor seinem Tod seine Söhne Gerhard und Lothar auf die Burg rief. Er erzählte ihnen die Geschichte von seinen großen Taten und zeigte mit bestimmter Hand auf das Schild am rechten Bettpfosten, das an seiner Schulterschnur festgemacht war. Wenn dieses Schild beim Sonnenaufgang des dritten Tages von alleine auf den Boden fallen würde, presste der sterbende Graf zwischen den Zähnen hervor, wäre er ins Paradies eingezogen. Soweit sagte es die Legende.
In Meierhoffs Kopf setzte sich nun auch das Innere des Puzzles zusammen. Er holte seinen jungen Kollegen dazu und erzählte ihm von seiner Idee. Dieser sah ihn mit großen Augen an und konnte sich im ersten Moment nicht vorstellen, dass sein erfahrener Kollege das soeben Erzählte ernst meinte. Doch er ließ sich breitschlagen, mit Meierhoff die folgende Nacht auf der Burg zu verbringen. Sie packten sich warme Kleidung und ausreichend Verpflegung ein, fuhren zur Burg, parkten in einiger Entfernung und schlichen sich an den Tatort. Dort angekommen prüften sie die Anwesenheit des Schildes und legten sich auf die Lauer. Die Ruine bot ihnen einen schwer einsehbaren, kleinen Unterbau, den sie auch bitter benötigten, als mitten in der Nacht dichte Wolken aufzogen und mit der Morgendämmerung ein starker Regen einsetzte.
In der nasskalten Höhle sitzend, kaum geschützt vor dem peitschenden Wind, verfluchte der junge Kollege seine Bereitschaft, mitzumachen, als urplötzlich ein Schatten unterhalb des Plateaus vorbeihuschte. Sogleich war die angespannte Stille zurück bei den Polizisten und sie beobachteten, wie tatsächlich eine vermummte Person den Tatort betrat und sich Richtung Schild orientierte. Zur großen Überraschung der beiden Ermittler war die Person eine Frau, die sich einige Schritte vor das Schild stellte und im niederprasselnden Regen wartete. Durch den Regenschleier vermochte es Meierhoff nicht, die Frau mit den Fotos der Ehefrau abzugleichen, doch er wusste, dass sie bisher unbemerkt geblieben waren, und hielt den jungen Kollegen vom Zugriff ab, da er sehen wollte, was passierte.
Dann geschah es. Obwohl die Frau mehrere Schritte vom Schild entfernt stand, löste sich dieses von der Wand und fiel scheppernd zu Boden. Die beiden Polizisten erschraken bis ins Mark und verrieten sich durch ihre Bewegungen. Die Frau blickte durch den Regenschauer in ihre Richtung und es entstand eine kurze Pause, in der alle drei jeden Tropfen des niederprasselnden Regens hören konnten. Die Frau kam jedoch bald zu Sinnen und wollte wegstürmen, doch Meierhoff reagierte am schnellsten und schnitt ihr mit einigen weiten Schritten den Fluchtweg ab. Die Frau rannte in seine Arme und ließ sich nach kurzem Gerangel widerstandslos festnehmen. Es war eindeutig die Frau des Toten und Meierhoff nahm sie als Mordverdächtige fest.
Die Polizisten brachten sie zur Wache, vermeldeten den Fahndungserfolg und überließen die Frau den Psychologen der Untersuchungshaft, da sie in den polizeilichen Vernehmungen kein einziges Wort sagte, sondern immer nur freudestrahlend lächelte, wenn die Sprache auf das Schild und die Todesumstände ihres Mannes kam. Da sich Meierhoff sicher schien, dass der Mordfall damit aufgeklärt war, widmete er sich wieder seinen anderen Fällen.
Eines jedoch beschäftigt Meierhoff noch über Wochen und Monate. Er fragte sich immer wieder, ob es einen Mechanismus gegeben hatte, der das Schild just zur rechten Zeit von der Wand fallen ließ. Die Frau konnte nicht der Auslöser gewesen sein. Aber welcher Mechanismus war so gut versteckt, dass er am dritten Sonnenaufgang ohne Auslöser und von den Ermittlern unentdeckt funktionierte? Dieser Frage würde er allein für sein eigenes Seelenheil nachgehen müssen. Dessen war sich Meierhoff hingegen sehr sicher.