Dimensions

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[Kurzgeschichte, veröffentlicht in Fantasia Magazin 1131e, 2024]

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Dimensions

Die private Raumfahrtkapsel Exodus IVb befand sich auf dem Weg zurück vom Mond, zu dem sie vierzehn gutbetuchte Weltraumtouristen gebracht hatte. Die beiden Piloten, Evelyn und Andrew, zwei der erfahrensten Piloten des Weltraumunternehmens, hatten bisher den Eindruck, dass dieser Ausflug zum Erdtrabanten einer der eher unspektakulären in ihren bisherigen Karrieren war. Während es bereits Evelyns neunundzwanzigster Flug war und sie damit beim nächsten Mal in den erleuchteten Dreißigerkreis aufsteigen würde, in dem sich bisher nur die beiden Piloten aus den Gründungsjahren befanden, war es auch schon der fünfzehnte Ritt für Andrew – beides also erfahrene Hasen im All, die auch schon einige brenzlige Situationen gemeistert hatten. Meistens waren die Passagiere für die Mission das größte Risiko – viel mehr als die Technik, die inzwischen sicher und reibungslos funktionierte –, denn während einige gar nicht mehr von der Mondbasis fortwollten, versuchten andere, die Piloten zu überzeugen, nicht zurück zur Erde, sondern zum Mars oder noch zu etwas Absurderem zu fliegen. Doch diese Besatzung war von der Schönheit der Erde aus dem All und dem großen Ödland auf dem Mond viel zu geflasht gewesen, als dass sie etwas anderes diskutiert hätte; es gab keine Rädelsführer oder Fehlgeleitete, sondern ausschließlich im höchsten Maße Interessierte, die viel fragten und sich artig bei dem tollen Team bedankten, das sie flogen. Doch noch waren sie nicht zurück, und bis sie nicht sicher gelandet waren, nahmen die beiden erfahrenen Piloten kein Dankeschön an – das konnte nur Unglück bringen.

Bevor die beiden jedoch das Raumschiff auf eine Erdeintrittsflugbahn bringen konnten, mussten sie es aus der hohen Geschwindigkeit, mit der sie seit dem Verlassen der Mondumlaufbahn flogen, nach unten drosseln, und der Computer hatte bereits eine Simulation des Plans gerechnet, als etwas plötzlich und völlig unvorbereitet am rechten Flügel des Raumschiffes traf und das Schiff in eine massive Drehbewegung zwang. Durch die ruckartige Drehbeschleunigung verloren alle Besatzungsmitglieder nahezu augenblicklich das Bewusstsein, und es dauerte eine Weile, ehe der Bordcomputer die notwendigen Maßnahmen berechnet und zur Freigabe an die Piloten weitergeleitet hatte, doch da niemand der Piloten reagierte, griff die Notfallroutine 420-B-XR3, die besagte, dass bei G-Kräften größer 8 und ausbleibenden Bestätigungen durch das Flugpersonal die Gegensteuerung durch den Bordcomputer initiiert werden musste. Die Schubdüsen wurden dabei so lange angesteuert, bis das Raumschiff nicht nur in der Rotationsachse wieder stabil war, sondern bis auf eine minimale Geschwindigkeit im Prinzip in jeglicher Bewegung angehalten hatte. Es dauerte eine geraume Weile, ehe Evelyn als erste aufwachte und den Zustand kurz feststellte, ehe sie Andrew versuchte, zu wecken. Da seine Vitalfunktionen stabil aussahen, er aber nicht aufwachen wollte, ließ sie von ihm ab und checkte die Zustände der Passagiere, die zu ihrem Glück aber auch alle stabil schienen. Die Anzeigen waren in Ordnung und insgesamt schien das Schiff nicht allzu sehr beschädigt zu sein; auch wenn es noch viel zu früh für eine Prognose war, so schien ein Wiedereintritt in die Erdatmosphäre für denkbar, ohne dass das Unternehmen eine kostspielige Rettungsmission losschicken musste.

Evelyn schnallte sich ab und spürte augenblicklich den Druck, der von ihrem Brustkorb verschwand; langsam schwebte sie umher, kontrollierte weitere Geräte und Anzeigen, ehe sie sich umdrehte und eher im Augenwinkel aus dem kleinen Sichtfenster nach draußen blickte. Das, was sie zu sehen bekam, überforderte ihr Bewusstsein, das sich für einen kurzen, unschuldigen Moment selbst ausschaltete. Als sie wieder schwebend zu sich kam, fragte sie sich kurz, warum es keine Kommunikation von der Station auf der Erde zu ihnen im Raumschiff gab, da Flightcommand den Unfall mitbekommen haben musste, doch dann fiel ihr das Bild ein, dieser Moment, in dem sie nach draußen und Richtung Erde geblickt hatte – und sie zweimal sah.

Wie konnte es sein, dass sie die Erde zweimal sah – und gab es vielleicht noch mehr Erden, nur außerhalb ihres Blickfeldes? Evelyn musste etwas tun, und da ihr nichts Besseres einfiel, versuchte sie, die Basisstation zu erreichen, doch es drang nur Rauschen aus dem Lautsprecher. Sie musste ihren Co-Piloten aufwecken und es dauerte eine lange Weile, ehe sie Andrew so weit hatte, dass sie ihm die Situation erklären konnte. Auch er sah zwei Erden, und indem sie sicherstellte, dass der Schock für ihn geringer war als für sie, blieb er wach und fand mit ihr heraus, dass sie nur zwei Erden – und nicht mehr – sahen.

Die beiden sprachen sich ab, dass sie die Zeit nutzen wollten, solange die Mitfliegenden noch ausgeknockt waren, um herauszufinden, was ihre Optionen an diesem Ort, draußen im weiten All, waren. Auf den ersten Blick sahen die beiden Erden völlig gleich aus, und Andrew stellte die Frage, wie es sein konnte, dass zwei so massereiche Körper nebeneinander existierten, doch alleine die Frage erschien unwirklich, in dem Moment, in dem er sie ausgesprochen hatte. Evelyn versuchte derweil, logisch an das gestellte Problem heranzugehen, und kam auf den Gedanken, dass es entweder eine optische Täuschung sein musste oder eine Verschiebung in den Dimensionen. Die erste Idee konnten sie einfach bestimmen, indem sie einen kurzen Außeneinsatz durchführten, doch dieser brachte keine Auflösung – ganz im Gegenteil: Die Sorge wuchs, dass es sich um ein Phänomen unbekannter Natur handelte. Es reifte in Gesprächen zwischen den beiden Piloten die Vorgehensweise heran, dass sie drei bestimmte Passagiere wecken wollten, doch das sollte ihnen nicht gelingen – wie es ihnen auch nicht gelang, mit jemandem außerhalb des Raumschiffs Kontakt aufzunehmen. Zusammengenommen betrachtete Evelyn die Situation als klar und gefährlich, während Andrew keinen Zugang zu den Theorien hatte, die ihm seine Pilotin nahezubringen versuchte. Dabei erschien es Evelyn inzwischen als eindeutig, dass sie in einem Zeitkontinuum mehrdimensionaler Natur gelandet waren, ohne das Wie zu verstehen, aber sie glaubte, den Auslöser zu kennen. Sie ließ die Systeme alle möglichen Checks durchführen, doch die Unmöglichkeit, dass alle – trotz des Sichtkontakts von zwei Erden – keinen Planeten vor ihnen anzeigten, mündete in einer großen Theorie, die Evelyn ängstigte. Da sie alle Standardtheorien kannte und darüber hinaus auch jede andere realistische Idee verworfen hatte, drängte die Wissenschaftlerin in ihr zu den unrealistischen Möglichkeiten, denn ihr Geist forschte unentwegt weiter. Die wahrscheinlichsten unter den Unwahrscheinlichen waren real wirkende Traumwelten, der Einzug in ein merkwürdiges Totenreich oder das Gefangensein in einer Parallelwelt, in einer anderen Dimension. Dimension – dieses Wort geisterte Evelyn seit dem ersten Entdecken der beiden Erden im Kopf herum, und sie versuchte, Andrews Gedanken in eine ähnliche Richtung zu entwickeln. Doch seine Gedanken kreisten viel mehr um jedes Panikszenario, das er in seinem Leben erleben durfte. Evelyn ertrug diese unproduktive Art keine weitere Minute und schmiss ihren Co-Piloten aus der Kabine. Sie stellte sich daraufhin alle Beweise und Indizien zusammen, und obwohl das Tippen im Weltall eine besondere Schwierigkeit darstellte, strengte sie sich an, möglichst vollständig zu sein. Da sie keine Hilfe fand, musste sie das Rätsel alleine lösen und vergewisserte sich erneut, dass sie zwei Erden sah, dass die Instrumente hingegen nichts anzeigten, der Funkkontakt zur Erde nicht funktionierte und die Mitfliegenden nicht geweckt werden konnten. Angenommen, sie befände sich in einem Multiversum, forderte sie sich weiter heraus – dann verstand sie zwar, dass sie zwei unterschiedliche Zustände der Erde zu sehen bekam, aber nicht, dass keine Erde auf den Geräten angezeigt wurde. Evelyn musste eine Entscheidung treffen und kam zu dem Schluss, die Kabine zu verriegeln, ehe sie Schub gab und auf einen der beiden Planeten zuflog. Es erschien ihr egal, welche sie auswählte, und daher navigierte sie auf die linke Erde zu, während Andrew versuchte, in die Kabine einzudringen, zunächst klopfend, dann immer gewaltsamer, ehe auch er erkannte, dass das Näherfliegen zu einer unglaublichen Veränderung führte: Aus den zwei wurden drei, dann vier, dann fünf Erden, ehe sich die Reihe in n Dimensionen in alle Richtungen der Ebene vor ihnen auffächerte. Kurz bevor das Raumschiff die Ebene mit den Erden erreichte, gelang es Andrew, ins Cockpit einzudringen, wo er Evelyn bewusstlos auffand – sie hatte sich im aufkommenden Wahn an einem Gerät den Kopf angeschlagen und blutete leicht ins Schwerelose. Andrews Gedanken standen aufgrund der überwältigenden Aussicht still, und daher schien es, als würden alle Insassen des Raumschiffs in einem Moment der geistigen Umnachtung durch die aufgespannte Erdebene fliegen.

Das ewige Verschwinden aller Passagiere in die unterschiedlichsten Dimensionen ließ es zu, dass das Raumschiff auf der anderen Seite der Ebene entleert wieder auftauchte und durch die allzu nahe Erde angezogen wurde, im viel zu flachen Winkel nicht ausreichend abgebremst werden konnte, ehe es sich steuerungslos in die Weiten des Alls verabschiedete.