Die Traumverwandtschaft der eigenen Seele
[Novelle. Veröffentlicht in Fantasia 1215e. 2025]

Die Traumverwandtschaft der eigenen Seele
Es war bisher ein äußerst erfolgreicher Tag gewesen, als ich mit meinem Wagen jene Straße entlangfuhr, in der wir unser kleines Häuschen gebaut hatten, und die alleenartige Anreihung von Bäumen betrachtete, die zugleich den Anmut und den Charakter der Gegend auszeichnen. Dies ist eine der besseren Wohngegenden, ideal, um ein oder mehrere Kinder großzuziehen und jeden Morgen mit dem Hund im Park einige Runden zu drehen, doch beides habe ich nicht und will es auch nicht haben, denn es hindert mich in meiner freien Bewegungsvielfalt, obgleich ich dennoch sagen muss, dass ich gerne in dieser Gegend wohne. Langsam fahre ich an meinen Nachbarn vorbei und beäuge aufmerksam die kleinen Veränderungen auf ihren Grundstücken und an ihren Häusern, die nur dann auffallen, wenn man sich beinahe jeden Tag diese Häuser ansieht, so wie ich es handhabe. Denn ich brauche stets neue Gedanken, neue Ideen, um meine Geschichten auszumalen, die von Mord und Totschlägen handeln, die jedoch meinem Anspruch genügen müssen, in den langsamen und selten langatmigen Passagen äußerst detailverliebte Beschreibungen zu sein, deren imaginierte Bilder aus meiner Nachbarschaft und deren steter Veränderung gezogen werden. Ja, ich lebe mit meiner Umwelt, stelle sie dar, verändere sie so lange, bis sie sich in die Welt meines Mörders und meines Polizisten einpasst, der jetzt bereits zum zwölften Mal die Ermittlung an sich gerissen hat, um dem Übeltäter das Handwerk zu legen. Es ist eine Parallelwelt, die ich in meinem Kopf aufgebaut habe, eine Zweitdimension, in der mein Protagonist sein Werk verrichtet, kein reelles, aber doch ein reales oder zumindest ein reell Erscheinendes, und nicht selten verliere ich mich in dieser Welt, insbesondere, wenn ich mit einem Menschen aus der Wirklichkeit meine Probleme habe. Dann kommt es zumeist in meinem Kopf dazu, dass ich das Bild desjenigen, mit dem ich aktuell in Missstimmung lebe, in die Figur des brutalen und blutschänderischen Täters hineinprojiziere, sodass ich meine aufgestauten Aggressionen vollends an dieser Figur auslassen kann; letzten Endes hilft mir diese Vorgehensweise, meine Wut auf meine Mitmenschen zu maßregeln; allerdings schwebe ich dennoch immer in der großen Gefahr, die beiden Welten, die imaginierte und die reale, miteinander zu einer dritten, halbrealen Wirklichkeit zu verschmelzen. Oft ist es bereits vorgekommen, dass meine Frau mir sagen musste, gewisse Ereignisse hätten nicht stattgefunden, sodass ich umgehend in meinen Büchern nachschaue, ob ich mir diese Geschichte nur ausgedacht und niedergeschrieben habe. Das Erschaffen von anderen Realitäten, sei es nun im Film oder innerhalb von geschriebener Literatur, ist eine diffizile Gratwanderung zwischen den Realitäten, die hin und wieder schiefgeht, sodass der Betroffene den Kontakt zur realen Welt verliert und sich der imaginierten anschließen möchte, bei deren Eingang er mit offenen Armen empfangen wird – schließlich hat er sich diesen Eingang ja auch vorgestellt. Dieses Verschwimmen der Wirklichkeiten verspüre ich eigentlich immer dann, wenn ich kurz vor dem Ende des Textes stehe, wenn die Spannung ihren Höhepunkt erreicht und ich meine gesamte emotionale Kraft in den Sachverhalt lege, den es in einem spannenden und herzzerreißenden Finale platzen zu lassen gilt.
Da ich zurzeit wiederum vor dem Ende eines meiner Bücher stehe, ist es beinahe, als könnte ich den Mörder diese Straße, die ich momentan entlangfahre, entlanglaufen sehen, zu unserem Haus hin, um sich unbefugt Zugang zu verschaffen und meine Frau kaltblütig und äußerst unmenschlich abzuschlachten. Erst als ich in die Einfahrt meines Hauses einbiege, kehre ich aus meiner Traumwelt zurück, obgleich ich instinktiv nach einer auffallenden Veränderung an meinem Haus suche, ganz als ob ich Sorge trage, dass wahrhaftig jemand eingebrochen sei. Doch alles erscheint in vollster Harmonie vor mir ausgebreitet, sodass ich meinen Wagen abstelle und abschließe, den kiesigen Weg zum Zaun zurücklege und nachschaue, ob die Post mir irgendwelche wichtigen Angelegenheiten zukommen ließ. Quietschend öffnet sich der silberne, dem amerikanischen Süden nachempfundene Metallbriefkasten, doch darin liegt nichts weiter als eine einsame Postkarte, mit der sich meine Schwiegermutter aus ihrem neuen Heimatland meldet und uns einlädt, sie doch schnellstmöglich zu besuchen. Schulterzuckend nehme ich sie an mich, schließe den Briefkasten und stapfe gedankenverloren zum Eingang unseres Hauses, nehme die beiden kleinen Aufgangsstufen, suche nach meinem Schlüssel, finde ihn in der linken Hosentasche und möchte ihn soeben ins Schloss einführen, als ich eine mir nicht unbekannte Stimme, die ich jedoch nicht eindeutig zuordnen kann, aus dem angelehnten, seitlichen Fenster vernehme. Kaum hat diese Stimme ihren Satz beendet, von dem ich nur wenige Fetzen mithören konnte, antwortet meine Frau und ich widerstehe dem Drang, hier draußen stehen zu bleiben, um dem Gespräch zu lauschen, drehe den Schlüssel um, drücke die Haustüre auf, gehe in das direkt angrenzende, großräumige Wohnzimmer und bin mehr als schockiert. Ich verliere kurzzeitig die Kontrolle über meine Muskeln, sodass meine Tasche und mein Schlüssel zu Boden stürzen, und erst das klirrende Geräusch der auf den Boden aufschlagenden Schlüssel lässt mich aus meiner Trance erwachen. Vor mir stehe ich, oder vielmehr stehe ich vor mir und sehe in meinem Spiegelbild mein Aussehen, das ich vor guten zwanzig Jahren hatte, als ich noch auf die Universität ging. Unweigerlich gehe ich einige Schritte zurück und sehe, wie meine Frau sich neben den Unbekannten stellt, ihm die Hand auf die Schulter legt und ihn mir als mich selbst vorstellt.
»Danke, das wusste ich schon«, bleibt mir nur gehässig zu antworten, wobei ich weiterhin in die Mimik des mir Unbekannten blicke, um eine Entwicklung dieser Situation frühzeitig darin ablesen zu können. – »Es ist gewiss eine wirre Geschichte«, beginnt mein verjüngtes Ebenbild schleppend, immer noch die Hand meiner Frau auf der Schulter liegen habend, »die uns beide miteinander verbindet, und wenn Sie erlauben, werde ich sie nacheinander erzählen, wie ich es seit zwei Stunden ihrer Frau beibringe.« – »Er hat sich«, fällt sie ein, ehe ich antworten kann, »mir als du selbst vorgestellt, und ich wollte zunächst nicht unhöflich sein, doch als ich die Tragweite seiner Erzählung begriff, habe ich mich sofort gefragt, wie du wohl darauf reagieren wirst.«
Jetzt erst werden mir die verschiedenen Reaktionen der beiden allmählich bewusst und fügen sich zu einer erzählbaren Geschichte: Dieser Mann ist gute zwanzig Jahre jünger als ich, sieht mir verblüffend ähnlich und meine Frau hatte bereits Zutrauen zu ihm gefasst, sodass ich im Moment davon ausgehen muss, dass er mein mir bisher unbekannter Sohn ist, und ich beginne mit aller Macht, in meinen Erinnerungen ein Mädchen herauszukramen, mit dem ich neben meiner Frau an der Universität geschlafen habe, doch keine derer, die mir einfallen, kommt in die nähere Auswahl.
»Ich gehe davon aus«, beginne ich mit aufsteigender innerer Unruhe, »dass sie mein mir unbekannter Sohn sind, den ich vor Jahren gezeugt habe, in dem besseren Wissen, dass ich niemals Vater geworden bin.« – »Nein«, entgegnet mir der junge Mann und fördert weiter mein Unbehagen, »ganz so ist es nicht, denn vielleicht erinnern sie sich nicht mehr daran oder möchten sich nicht mehr daran erinnern, aber sie haben vor guten zwanzig Jahren, wahrscheinlich zur Finanzierung ihres Studiums, verschiedenste Körperflüssigkeiten von sich gespendet…« – »Aber die waren vertraglich dazu bestimmt, dass sie in der Forschung verwendet werden, um an ihnen die Reaktionen auf Krankheitserreger zu testen. Das bedeutet, dass sie mein Sohn aus einer künstlichen Befruchtung sind, deren Mutter ich niemals kennengelernt habe, und dass ich keine Verantwortung für deine Erzeugung trage. Das beruhigt mich jetzt einigermaßen, denn ich befinde mich in einer Lebensphase, in der ein mir unbekannter Sohn…« – »Es liegt noch anders«, fällt dieses Mal der junge Mann mir ins Wort, »denn ich bin auch kein unbekannter Nachkomme aus einer künstlichen Befruchtung, vielmehr –« Jetzt ist es an ihm, seine Sprache zu verlieren, sodass wir beide voreinanderstehen und nicht wissen, wie wir das Gespräch weiterführen sollen; er kann sich scheinbar nicht überwinden und ich muss mich erstmal sammeln und suche die restlichen Möglichkeiten ab, welche noch bleiben, doch mir will keine adäquate Lösung einfallen. – »Wie«, beginne ich meine Antwort falsch und korrigiere sie, »wenn sie nicht auf einem natürlichen oder auf einem künstlichen Weg gezeugt – oder besser – erzeugt wurden, auf welche Weise sind sie, ich meine, wer hat sie gewissermaßen erschaffen und wie ist dies vonstattengegangen?«
»Dies scheint die Kernfrage seiner Anwesenheit zu sein«, denke ich mir, »denn obwohl er bisher einen eher ausweichenden Eindruck auf mich macht, fixiert er mich mit einem Mal fest und sucht den Blickkontakt, um auch meine Gefühlswelt zu sondieren.«
»Ich habe keine Ahnung, ob dies jemals ein Mensch zu einem anderen Menschen gesagt hat, aber wenn ich der erste sein sollte, so bilde ich mir nichts darauf ein, denn es ist kein schönes Leben, wenn man weiß, dass man nur der Klon eines anderen Menschen ist.« Nun ist die Bombe geplatzt, die er mit sich getragen hatte, und ich verliere den Grund unter meinen Füßen, stürze heillos hinab und im Fallen umnebelt mich die Ohnmacht, von der ich aufwachend bemerke, dass die beiden mich auf das im Raum stehende Sofa gelegt haben und meine Frau mir eine kalte Kompresse auf die Stirn drückt.
»Du bist mit dem Kopf auf den Steinboden aufgeschlagen«, sagt sie überaus schrill zu mir, »doch du hast keine Verletzung am Kopf, also haben wir dich auf das Sofa gelegt und darauf gewartet, dass du aus deiner Ohnmacht irgendwann aufwachst.«
Der junge Mann, der angegeben hatte, mein Klon zu sein, steht hinter ihr und schaut über ihre Schulter direkt in mein Gesicht, das von dem Fall schmerzverzerrt erscheint, als ich versuche, mich nach oben zu drücken, es aber nicht schaffe. – »Es ist gewiss ein Schock für Sie«, beginnt mein Klon nachdenklich und in völliger Ruhe, »ebenso war diese Erkenntnis für mich ein gewaltiger Schock und ich habe einige Stunden gebraucht, ehe ich die Tragweite dieser Entwicklung für mich abschätzen konnte, obwohl noch viel mehr hintendran folgte. Ich glaube, dass es das Beste ist, wenn ich jetzt fürs Erste ins Hotel zurückgehe, aus dem ich hierhergekommen bin, denn sie brauchen gewiss einige Stunden, ehe sie mit der Beule am Kopf aufstehen können. Wenn sie mich sehen oder mir mitteilen wollen, dass sie mich niemals im Leben wiedersehen möchten, wenden Sie sich bitte an ihre Frau; sie hat alle nötigen Daten von mir bekommen, wo ich wohne und unter welcher Nummer ich telefonisch erreichbar bin. Sollten Sie sich für ein getrenntes Leben entscheiden, werde ich natürlich Ihre Entscheidung akzeptieren und kein weiteres Mal in Ihr Leben treten, aber wenn Sie sich dafür entscheiden sollten, würde ich gerne mehr über Ihre Jugend erfahren, um mir die fehlenden Bausteine meines Lebens zumindest vorstellen zu können, auch wenn sie keine Realität darstellen werden.«
Mit diesen Worten verschwindet er aus meinem Blickfeld, meine Frau steht auf und sie geben sich die Hand, tuscheln leise miteinander, wahrscheinlich, um mich nicht allzu sehr zu belasten, und im folgenden Augenblick höre ich, wie die Haustür zufällt und meine Frau an das Sofa zurückkehrt. – »Ich glaube, dass ein wenig Schlaf für dich nötig ist«, sagt sie aus einer für mich weiter entfernten Realität, »ich werde in der Zwischenzeit im Internet nach den Grundlagen seiner Aussage forschen, denn er hat mir mehrere Schriftstücke als Kopie gegeben, die ihn eindeutig als ein Produkt deiner Zellen ausweisen. Ruhe dich aus, und wenn du erneut zu Kräften gekommen bist, dann werden wir uns daran machen, das gesamte Rätsel hinter der Existenz des jungen Mannes aufzuklären.« Sie küsst mich auf die Wange, da die Stirn unter einem riesigen Kühlbeutel verschwindet, und geht nach oben, zu meinem Arbeitszimmer, doch noch bevor sie die obere Etage erreicht, umnachtet mich erneut die Schwärze und ich falle in einen surrealen Alptraum.
Ich erwache und muss im ersten Moment des Schrecks feststellen, dass ich weder auf dem Sofa in meinem Wohnzimmer noch an einem anderen bekannten Platz meines Lebens liege, sondern inmitten eines urwaldähnlichen Gestrüpps, das mich vollends umgibt und mir den Zugang zu meiner weiteren Umwelt verwehrt. Nur mit größter Mühe gelingt es mir, meine Muskeln zu aktivieren, in denen scheinbar seit langer Zeit kein Blut mehr geflossen ist, denn das Kribbeln in ihnen wird zur Unerträglichkeit und ich muss mehrere Minuten warten, ehe ich die Kraft und den Mut besitze, mich aus der liegenden in die kniende Position aufzurichten. Ein alter, knorriger Baum hilft mir mit seinem Stamm, mich aufzurichten, und noch immer habe ich keine Ahnung, wo ich mich befinde, doch im gleichen Moment, in dem ich mich aufrichte, ertönt ein lautes Tosen, wie aus dem Nichts ist es entstanden, und verwundert blicke ich um mich, doch nichts als grüner Urwald bleibt zu erkennen. Ich überlege, in welche Richtung ich mich aus dem lebenden Gefängnis schlagen soll, und entscheide, dass ein reißender Flusslauf mich bestimmt zu einer Siedlung in der Nähe bringen wird. »Doch woher kommt das Tosen des Wassers?«, denke ich mir, drehe mich in alle Richtungen und muss leider erkennen, dass es aus allen Richtungen gleich laut an mein Ohr dringt. »Ist es möglich, dass ich vom Wasser umgeben bin?«, frage ich mich und stelle mir einen Ort in den tosenden Wellen vor, der ohne Zugang zum Festland ist. »Doch wie soll ich dann dorthin gekommen sein?«, kommt mir in den Sinn, und ich beruhige mich mit dem Gedanken daran, dass es auch widerhallende Berge sein können, die ein gleichmäßiges Tosen verursachen können. »Doch alles Vorstellen und Erträumen hilft nichts, ich muss den Mut aufbringen, um mich durch den geschlossenen Urwald zu kämpfen.« Ich suche meinen Körper nach einem geeigneten Mittel ab und finde nichts anderes als eine Haushaltsschere, die mich als Werkzeug nicht sonderlich überzeugt, doch sie ist besser als nichts, und als ich versuche, ein Loch in den angrenzenden Lianen- und Blätterdschungel zu reißen, erkenne ich, dass das Grün nichts weiter ist als ein bedrucktes Papier, das um den Baum und mich herum aufgespannt ist. Ich entspanne mich, da es einem anderen Menschen offensichtlich gelungen ist, mich mit diesem guten Streich in die Irre zu führen, und ich zerschneide mit der Schere das bedruckte Papier. Mit einer Hand drücke ich gegen das Papier und bohre ein Loch in eine der Lianen, als urplötzlich und ohne Vorwarnung das Papier nach oben gezogen wird; ich schaue direkt in die Sonne, werde geblendet, taumle und erkenne erst im gleichen Moment, als ich nach unten stürze, dass der Baum auf einem höher gelegenen Eiland inmitten eines tosenden Urmeeres gelegen ist. Schreiend geht es hinab und ich schlage mit einer solchen Wucht auf das wallende Wasser auf, dass ich umgehend einen stechenden Schmerz im gesamten Körper verspüre und das Bewusstsein verliere. Im Anschluss an den Niedergang habe ich keine Ahnung, wie lange es gebraucht hat, doch irgendwann werde ich an einen Strand angeschwemmt, dessen Palmen in einem heftigen Sturm hin- und herschwanken; die letzten Meter aus dem Wasser ziehen mich meine fast tauben Arme, und mit dem ersten aufkommenden Gefühl an meine Rettung bläst mir der Wind eine Ladung Sand ins Gesicht, der sich unweigerlich in meinen Augen und meinem Mundraum verteilt, sodass ich mich abwende, auf das Meer hinausblicke und daher weiß, dass ich von einer über mir zusammenfallenden Welle ins Landesinnere fortgespült werde. Da dies alles bei Tage geschah und ich in der Nacht aufwache, habe ich allein die leise Vermutung, dass dies nicht der einzige Tag gewesen ist, den ich durchgeschlafen habe, um meinen wunden Körper zu regenerieren, denn als ich aufstehe, fühle ich mich wie neugeboren, klettere mit einer Liane als Hilfsmittel auf den nächstgelegenen Baum in einer Technik, die ich bisher nicht gekannt habe, trenne mit meiner Haushaltsschere eine Kokosnuss vom Baum und lasse sie auf einen Stein niederfallen, an dem sie schellend zerbricht. Schnell habe ich mich vom Baum gemacht und sammle die Kokosnusssplitter ein, die ich in einem nahen Süßwasserbach vom Sand sauber wasche, um sie im Anschluss mit dem Genuss eines überaus hungrigen Menschen aufzuessen. Mit vollem Magen fällt eine Müdigkeit über meinen Geist, wie noch selten ein Räuber aus seinem Versteck sein Opfer angegriffen hat, und sie lässt mich kaum hinlegen, da schlafe ich bereits und träume mich durch den nächsten surrealen Alptraum.
Ich erwache und lasse meine Augen geschlossen, da die Sonne mir sonst direkt hineinscheinen und mich blenden würde, doch mein Geruchssinn erkennt sogleich, dass ich mit dem Rücken auf einer frisch gemähten Wiese liege, deren Duft mir seit meiner Jugend derart bildlich im Kopf hängen geblieben ist, dass ich beinahe behaupten möchte, sogar die Zeit vorhersagen zu können, wie lange im Vorhinein kein Regen darauf gefallen sein mochte. Ich möchte meinen Oberkörper erheben, doch ich spüre, wie mich straffe Fuß- und Handgelenksfesseln an den Boden binden, sodass ich wage, meine Augen blinzelnd zu öffnen, doch die Sonneneinstrahlung ist derart hoch, dass ich nichts zu sehen vermag. Langsam drehe ich meinen Kopf zur Seite und versuche dort, das zum Boden geneigte Auge ein wenig zu öffnen, doch als ich sehe, wie ein Schwarm Ameisen um meinen Kopf herumkrabbelt, schließe ich voller Panik das Auge und die wildesten Gedanken schießen mir ohne Vorwarnung durchs Gehirn. »Wie in aller Welt bin ich in eine derart prekäre Lage geraten?«, frage ich mich und glaube, die Antwort nur darauf finden zu können, indem ich einen weiteren Versuch starte, drehe meinen Kopf in die andere Richtung, öffne das nach unten gerichtete Auge und sehe eine Armada von Hirschhornkäfern an mir vorbeiziehen. Der militärische Schritt in Reih und Glied fällt mir an ihnen auf, und ich frage mich ernsthaft, ob ein solches Gleichmaß im Tierreich möglich sei, entscheide mich dagegen, schließe mein Auge und fühle eine Sicherheit in mir aufsteigen, die darin begründet liegt, dass ich seit mehreren Momenten wach auf dem Boden einer Wiese liege und auf beiden Seiten Armaden von Insekten um mich herummarschieren, ohne einen ernsthaften Versuch des Angriffes auf meinen Körper zu unternehmen. Ich drehe meinen Kopf zurück nach oben und suche nach einer Lösung des Ganzen in meinen Erinnerungen, doch kein Bild der Vergangenheit will sich mir auftun, sodass mir im Grunde nichts anderes bleibt, als zu warten. Einige Male versuche ich noch, meine Augen zu öffnen, doch bei jedem Versuch muss ich erneut feststellen, dass ich nichts sehen kann, und stelle meine Bemühungen mit der Zeit ein, in der ich entgegen meinen Befürchtungen aber weiterhin keinen Durst und keinen Hunger verspüre oder erleide. Ich warte und das Warten auf eine Veränderung macht mir sinnigerweise nichts aus, da ich mittlerweile erkannt habe, dass die Insektenarmaden auf meinen beiden Körperseiten ebenfalls ohne Befehl und Führung scheinen, denn sie marschieren stets im Kreis, ohne Aufgabe und näheren Hintersinn. Ich denke, dass der Tag vergeht, doch die Sonne bewegt sich keinen Millimeter am Himmel, sodass ich daran zweifle, ob die Zeit in dieser Wirklichkeit überhaupt mit der wahren Zeit zu vergleichen ist, insbesondere nach meinen Erfahrungen mit dem Warten, obwohl ich in meinem Inneren fühle, dass mir Warten eigentlich stets das Grausamste auf der Welt gewesen ist. Langsam und mit dem Ende meiner Gedankenflut überkommt mich ein dösiges Verlangen und ich möchte beinahe dem Wachsein entschlafen, als sich eine große schwarze Wolke vor die Sonne schiebt und die Welt verdunkelt; zum ersten Mal gelingt es mir, die Augen vollständig zu öffnen, und als ich den Kopf zur Seite drehe, sind die Insekten verschwunden. Kaum dass ich meinen Kopf erneut der verdeckten Sonne entgegendrehe, beginnt ein sintflutartiger Regen auf mich niederzuprasseln, der bewirkt, dass der Boden unter mir sich vollsaugt und fortgeschwemmt wird, sodass unter meinem Rücken nichts weiter als eine Bahre zum Vorschein kommt, die unter dem oberflächlichen Dreck meinem Auge verborgen gewesen war und an deren Metallenden die Fesseln an meinen Händen und Füßen festgemacht sind. Ich versuche mich ein wenig zu strecken, doch die Gesamtheit meiner aufgrund der Fesseln aufgebauten Körperspannung fügt mir dadurch nur Muskelschmerzen zu, sodass ich diesen Versuch aufgebe, und mein Geist im Grunde mit meinem Leben abgeschlossen hat. Ohne große Motivation blicke ich zur Seite und sehe, dass die gesamte Erde hinfort ist. Ich scheine auf der Platte gefesselt in die Lüfte gestiegen zu sein, denn mich umgibt mit einem Schlag die dunkle Wolke, die eben noch den sturzbachähnlichen Regen auf mich niederschickte. Ob diese Wolke abfällt oder ich steige, kann ich nicht ernsthaft entscheiden, doch ich erkenne alsbald, dass ich mich dem Ende der Wolke nähere, da die Sonne immer mehr den Zugriff über die Wirklichkeit zurückgewinnt; und als ich die Wolke hinter mir lasse, muss ich die Augen schließen, da die Sonne nichts von ihrer Strahlkraft eingebüßt hat. Es vergehen einige Momente, in denen in meiner Seele sogar die Gefühle von Freiheit und Freude aufkommen, und als die Augen hinter meinen geschlossenen Lidern eine Veränderung festzustellen meinen, riskiere ich deren Öffnung und erschrecke, denn ich befinde mich nicht mehr im Steigen zur Sonne, sondern im direkten Fall auf ein tosendes Meer, mit der Platte im Rücken und ohne die Hoffnung auf Drehung, sodass ich mit voller Geschwindigkeit auf das Wasser aufschlage, das in seiner Ruhe einer weiteren Platte gleichkommt. Als ich erwache, spüre ich die ungeheure Last der auf dem Rücken angebundenen Platte, die mich auf die Wasserplatte niederdrückt, doch mit der letzten Kraft gelingt es mir, dieses Gewicht auszutarieren, sodass es zunächst erträglich, wenn auch grenzwertig erscheint. Die Hoffnung auf Errettung aus dieser stark belastenden Situation, wenn auch nur eine kleine, keimt in meinem Herzen auf, doch als ich die Insekten auf mich zumarschieren sehe, die Ameisen von der einen und die Hirschhornkäfer von der anderen, da wechselt die Hoffnung zu heilloser Panik, denn der befürchtete Krieg zwischen den beiden Parteien, der just auf meinem Rücken ausgetragen werden muss, fördert das Ungleichgewicht meiner austarierten Platte und erhöht deren Gewicht, je mehr tote Leiber auf ihr zu liegen kommen. Immer mehr spüre ich das Leben aus meinem Körper entweichen, bis es mir nicht einmal mehr gelingt, Luft in meine unter dem gewaltigen Druck schmerzenden Lungen zu saugen, sodass ich das Ende meines Lebens herannahen sehe, doch bevor ich den Tod wachen Auges erlebe, sinke ich in die tiefe Dunkelheit eines nebulösen und verwirrenden Traumes.
Ich erwache und mir wird unmittelbar im gleichen Augenblick bewusst, dass dies kein gewöhnlicher Ort sein kann, denn noch nie habe ich zuvor einen derart intensiv-süßlichen Geruch in der Nase gehabt wie in diesem Moment. Außerdem wird jede auch nur kleine Bewegung von mir mit einer nasswarmen Reaktion einer glibbernden Masse beantwortet, die scheinbar meinen nackten Körper als Ganzes ummantelt. Der erste Versuch, meine Augen zur besseren Orientierung zu öffnen, scheitert daran, dass sie wohl von dem zuckerhaltigen Stoff verklebt sind, doch mit aller Gewalt gelingt es mir, sie wenigstens einen kleinen Spalt zu öffnen, und sofort dringt die bläulich-durchsichtige Masse in mein Auge. Mit dieser Überwältigung meines wichtigsten Sinnes gelingt es mir wenigstens, meine Augen offen zu halten und meine nähere Umgebung zu erkunden, was mir in dem zwar durchsichtig erscheinenden, aber dennoch tiefblauen Schleim, der meinen Körper, dem Wasser ähnlich, an jeglicher nach außen gekehrten Hautpartie umgibt, allerdings nur sehr schwer gelingen mag. Zumindest stelle ich fest, dass ich mich meiner Sinne bedienen kann, und als ich es wage, den Glibber, in dem ich stecke, mit der Zunge auf den Geschmack zu testen, stelle ich fest, dass dieser Geschmack mir nicht unbekannt ist, doch im ersten Moment scheint er mir aufgrund des hohen Zuckergehaltes nicht einordbar zu sein, sodass ich eine weitere Probe davon nehme und sich allmählich die Vermutung in meinem Kopf breit macht, dass ich von einem ähnlichen Glibber ummantelt bin, wie er den Weintrauben unter der Haut steckt. Mit aller Kraft versuche ich, mich freizustrampeln, doch es will mir kaum gelingen, bis ich an ein größeres Gebilde komme, das an einem inneren Ast steckend mir als Hilfe dient, mich heranzuziehen. Ich schaffe es, mir die nähere Umgebung freizulegen und eine kleine Höhle zu erschaffen, indem ich einen Teil der Masse verdichte und den anderen Teil aufesse, doch es wird mich noch viel Arbeit kosten, ehe ich diesem Gefängnis zu entfliehen vermag. Für einen Moment möchte ich jedoch nichts weiter als die Ruhe genießen, die ich mir mit diesem Refugium erschaffen habe, lehne mich an das samenähnliche Kerngebilde und blicke umher, den Blick stets in das nebulöse Blau des Glibbers gewendet. Die Spannung fällt von meinem Körper ab und erst jetzt habe ich die Ruhe, mir die Frage zu stellen, welche Traube, wenn es denn eine ist, derart groß ist, dass sie mich im Gesamten in ihrem Innern aufnehmen kann oder auf welche Größe ich geschrumpft sein müsste, um in dem blauen Glibber einer kleinen Traube, die ich früher allenfalls als kleine Zwischenmahlzeit zu mir genommen habe, herumschwimmen zu können. Zunächst falle ich in ein gedankliches Loch, das mir den Mut nimmt, weiter um die Erkenntnis meiner Umwelt zu streiten, doch dann durchfährt mich eine Unruhe, mit der ich mich gegen den blauen Glibber werfe und diesen entweder aufesse oder hinter mich in den Hohlraum werfe. Meine gesamte Kraft setze ich ein, verpulvere sie, um vorwärts zu dringen, an eine mögliche Außenhaut, wenn es sich bewahrheiten sollte, dass ich im Innern einer Traube gefangen bin, komme Zentimeter um Zentimeter voran, wobei ich mir nicht einmal um das Längenmaß sicher sein kann, denn mitunter waren dies nur Mikrometer, doch der Mut der Verzweiflung unterdrückt alle aufkommenden Fragen, sodass ich bis zum Umfallen und ohne Gefühl einer Zeiterfahrung vorangrabe, bis ich wahrhaftig vor mir eine Barriere erblicke, hinter der sich der dunkle Glibber scheinbar auflöst. Mit der letzten Kraft, die noch in meinem Körper steckt, dränge ich die letzten Reste des Glibbers zur Seite und befinde mich plötzlich an der Außenhaut, die auf meine Schläge allerdings nur mit einer leichten Schwingung reagiert. Doch zumindest kann ich nun nach außen in die weite Welt blicken und stelle fest, dass dies nicht die einzige Traube an diesem Rebstock zu sein scheint, was mir jedoch den Gedanken nimmt, dass ich in einer riesigen Traube gefangen bin, denn ich scheine wahrhaftig auf einen Bruchteil meiner Größe geschrumpft zu sein. Eine unerwartete Befriedigung macht sich in meinem Körper breit, denn obwohl ich mich in einer ungewohnten und sehr verzerrten Realität befinde, ist es dennoch heilsam für den Geist, wenn er weiß, mit welchen Umständen er zu kämpfen hat. Von dem Graben völlig entkräftet, lehne ich mich mit dem Rücken an die Außenhaut der Traube, die sich meinem Rücken passgenau angleicht, sodass ich vor einem erneuten Einschlafen stehe, bei dem mein Körper die nötige Ruhe findet, um auch die kleinsten Veränderungen im Bereich seiner Sinne zu vernehmen. Zunächst sind es nur leichte Erschütterungen, die für mich jedoch aufgrund ihrer Gleichmäßigkeit eine Bedrohung darstellen, und schnell zeigt sich das ganze Ausmaß der Gefahr, denn mit dem Ansteigen der Erschütterungsintensität sehe ich riesige Gebilde auf mich zukommen, von denen ich nicht hoffe, dass es Winzer bei der Weinlese sind, doch als eben jene entpuppen sich die gigantischen Gebilde, die auch jenen Strang von der Rebe abtrennen, an der jene Traube sich befindet, in der ich mich gefangen sehe. Die Verkehrung der Dimensionen und die Tatsache, dass zwei Menschen in einer derartigen Größenverschiebung existieren, verwundern meinen Geist, der mit dem Suchen nach einer Antwort dermaßen beschäftigt ist, dass mein darauffolgendes Erlebnis erst in der Kelterei auf mich eindringt. Ich sehe durch die Außenwand der Traube, wie wir aus einem großen Eimer in einen noch viel größeren, beinahe uferlosen Bottich fallen, um dort der neuerlichen Dinge auszuharren, die in der Folgezeit mit uns geschehen sollen, doch mir ist sehr schnell bewusst, dass als Nächstes die Pressung der Trauben bevorsteht, solange, bis die gesamte Flüssigkeit aus der aufgeplatzten Haut und dem Glibber herausgetreten ist. Ohne eine große Sorge um mein Leben zu verspüren, warte ich auf den Moment, in dem von oben das umliegende Traubenfleisch auf mich eindrückt und mir das Leben entweicht, doch ehe ich den Tod verspüre, falle ich auf den nicht mehr ganz so weichen Glibber und träume einen schier grenzenlosen Alptraum.
Ich erwache und sehe nichts, oder besser ausgedrückt: Ich sehe das Nichts. Doch ich bin mir keinesfalls sicher, dass nichts existiert oder einfach nur meine Sinne mit der gegebenen Situation überfordert oder überlastet sind. Mitunter ist dies aber auch nur ein imaginärer Ort, der an und für sich unvorstellbar für den menschlichen Geist ist, der jedoch aufgrund seines universellen Erkenntnisdrangs stets versuchen wird, auch die unbegreiflichen Fragen zu beantworten. Diese Erkenntnis, dass es keine Erkenntnis im Nichts geben wird und somit das Nichts nicht erkannt oder begriffen werden kann, lässt mich meine Sinne erneut aktivieren, sodass ich meine Augen öffne und feststelle, dass ich auf einem glatten Boden inmitten eines Raumes liege, der steril und ohne Möbel in einer zweifarbigen quadratischen Wand-, Decken- und Bodenbemalung daherkommt. Ich richte meinen Oberkörper auf und suche instinktiv nach dem Ausgang, doch ich vermag weder eine Öffnung nach draußen noch irgendwelche Veränderungen in den gleichmäßigen Flächen des Würfels zu finden. »Wie bin ich in diesen Quader gekommen, wenn es nirgendwo einen Eingang gibt«, denke ich mir, während ich mich weiterhin verwundert umblicke, »oder ist dieser Raum derart gut gebaut, dass die quadratische Wandbedeckung verhindert, dass ich die Kanten und Ecken der ausgefrästen Öffnung sehen kann, durch die ich unweigerlich eingedrungen sein mag.« Noch trunken von der scheinbar vergeblichen Suche nach dem Ausgang drücke ich mich nach oben und komme zum Stehen, allerdings auf äußerst wackeligen Beinen, die mich zunächst im Stich lassen, doch dann mit aller Gewalt tragen wollen. Langsam, Schritt für Schritt, taste ich mich nach vorne und versuche, die gegenüberliegende Wand zu erreichen, aber mit jedem Schritt, den ich auf dem Weg zur Wand zurücklege, weicht dieselbe um einen größeren Schritt zurück, sodass die Distanz zwischen mir und der Wand sich unweigerlich vergrößert; zugleich entferne ich mich von der unbewegten Wand in meinem Rücken, was zur Konsequenz hat, dass sich der Raum, in dem ich mich befinde, ins Unendliche zu dehnen scheint. Nachdem ich eine Drehung um neunzig Grad mache und versuche, diese Wand zu erreichen, die naturgegeben ebenfalls zurückweicht, erkenne ich die Problematik und überlege, welche Wahlmöglichkeiten mir übrig bleiben, denn egal, in welche Richtung ich mich auch bewegen werde – das gewünschte Ziel werde ich wie eine Fata Morgana im heißen Wüstensand nicht erreichen, denn letzten Endes sind die Wände mit ihren möglichen Ausgängen nichts anderes, sie erscheinen als Imagination eines Wunschdenkens, das mein Geist in die Realität projiziert. Demnach sollte es mir möglich sein, wenn ich von meinen Wünschen und Realitätsverzerrung Abstand nehmen kann, die Wände an mich heranzuholen oder vollends verschwinden zu lassen, denn in diesem Augenblick glaube ich fest daran, dass in dem Lösen dieses Rätsels die Lösung meines gesamten Problems liegt, wobei ich dessen Ausmaß nicht zu kennen scheine. So logisch meine Beweisführung für mich klingt, so sehr bin ich dann auch überrascht, als mir die Frage durch den Kopf schießt, auf was ich überhaupt stehen würde, und im gleichen Moment falle ich in die Tiefe, doch bereits mit der nächsten Feststellung, dass demnach die Gravitation dorthin wirken würde und daher die Realität dort zu suchen sei, endet mein Fall abrupt und ich befinde mich erneut in einem Schwebezustand, weit entfernt von jeder Wand, die sich zunehmend von mir entfernt, da meine Gedanken sie vorantreiben. Ich scheine auf der Stelle gefangen, ohne jegliche Gravitationswirkung, im Niemandsland der Nichtexistenz, und ich frage mich ernsthaft, ob dieses Nichts nicht doch die letztmögliche Erklärung für all diese Sinnestäuschungen sein kann, da keine andere Erklärung adäquate Antworten auf die drängenden Fragen geben würde. Indem alle Gefühle meiner Existenz ein Ende besitzen, das gerade gekommen ist, verstehe ich den Sinn des nichtgravitären Würfels, der an meine Vorstellungen gekoppelt zu sein scheint, sodass ich mir meine Ohren zuhalte, die Augen schließe und aus vollen Lungen den höchsten Ton hinausschreie, zu dem ich fähig bin, derart lange und ausgiebig, dass ich weder während des Schreis noch danach die Kraft besitze, an eine andere Sache als an den Schrei und seine Wirkung zu denken, sodass der Würfel in seiner Nichtexistenz zerspringt und die Realität in meine Existenz zurückkehrt, doch zu meinem Erschrecken liege ich auf einem Boden, in einem Raum, der dem vorherigen und zerstörten zum Verwechseln ähnlich sieht, und in dem ich ebenfalls versuche, ihn mit einem Gewaltschrei auseinanderspringen zu lassen, doch dieses Mal funktioniert es nicht, wie ich es möchte, vielmehr entfernen sich alle Wände, bis sie die gleiche Entfernung zu mir haben wie die Wände im alten Würfel. Da der Schrei nichts bewirkt hat, denke ich mir nichts Weiteres dabei und beginne, in alle möglichen Richtungen zu laufen, wobei die Abwesenheit von Gravitation mir ein äußerst seltsames Raumzeitgefühl vorgaukelt. Ich laufe, bis mir die Lunge zu platzen scheint, lasse mich auf den Boden, der nicht existent ist, niederfallen und schlage in meinem imaginären Würfel derart auf, dass ich mir im Todesagon nichts sehnlicher wünsche, als ausgiebig und nachhaltig zu schlafen, und ehe ich einen anderen Existenzzustand annehme, schlafe ich wirklich ein und träume von den großen und kleinen Wirklichkeiten.
Ich erwache und befinde mich seltsamerweise auf der Erde, inmitten von Menschen, auf einer äußerst belebten Straße, die inmitten einer sehr überfüllten Großstadt in irgendeinem hochtechnisierten Land nach Norden zu führen scheint, denn dorthin weist mein alter Kompass, wenn ich die Straße zwischen den Häuserzeilen rechts und links entlangblicke. Um mich herum wuseln die Menschen, allein ich, der gegen den Strom der Masse wie ein Fels in der heransausenden Wellenbrandung steht, bleibe von den anderen unberührt, die Masse teilt sich vor mir wie vor einem unumstößlichen Gegenstand und vereinigt sich direkt hinter mir zu jener Masse von Gesichtslosen, die in der Stadt ihre Anonymität bis zur Grenzhaftigkeit ausreizen können. Mein Kompass zeigt weiterhin nach Norden und da ich keinen besseren Plan habe, bewege ich mich genau in diese Richtung, bemerke, wie sich der Strom der Menschen mit mir verändert, wie ich als Fremdpartikel in dieser homogenen Menge in die falsche Richtung ströme, scheinbar nur auf den einen Moment, in dem ein anderer Partikel auf mich trifft und wir beide in unserer Fremdartigkeit implodieren und damit die gesamte Stadt mit uns in den Abgrund reißen. Zu meiner Rechten, denn ich gehe auf dem rechten Bürgersteig Richtung Norden, sehe ich die großen Eingangstüren, die in die großen Eingangshallen der großen Zentralen der großen Firmen führen, worin die kleine Führerschaft über ihre große Masse an Schutzbefohlenen regiert, weitestgehend ohne Kontrolle von rechtlicher oder sozialer Seite her, unbarmherzige Hirten einer schweigsamen und duldsamen Herde, von der stillschweigend erwartet wird, dass sie sich zur Schlachtbank führen lässt, insoweit eine diesbezügliche Entscheidung in einer dieser großen Zentralen getroffen wird. Ich ignoriere meine Umwelt gekonnt, denn sie ignoriert auch mich, umgehe die schlundartige Öffnung in den Tartaros der Erde, die mich zu einer U-Bahn-Station gebracht hätte, suche nach einem Ende meiner Suche, doch die scheint noch lange nicht beendet zu sein. Der Strom der Masse fällt langsam ab, vor allem, da die Arbeitszeit begonnen hat, und mit dem Abebben dieser Menschenform kommen jene erneut zum Vorschein, die sich nicht an einen rhythmisierten Lebensablauf halten müssen, um ihre Integrität mit der Umwelt zu bewahren. Diese Menschenmasse jedoch ist anders gepolt, denn an ihnen muss ich vorbeigehen, sie haben keinen Grund mir auszuweichen und machen es auch nicht, ständig spüre ich eine Schulter oder einen Ellenbogen mich streifen oder anrempeln, bis ich bei einem Zusammenstoß mit einem elendig verlotterten Menschen um die eigene Längsachse gedreht werde, mit dem Gesicht direkt in eine Seitengasse, deren Schild mir sagt, dass dies die »Gasse der einsamen Sucher« ist, und mit einem Blick auf meinen Kompass stelle ich fest, dass ich genau dorthin wollte, nehme meinen Mut zusammen und trete aus der in der vollen Sonne liegenden Menschenmasse in einen dunklen, völlig parallelweltenartigen Raum, ohne Menschen und mit einer völlig anderen Zeitrechnung, deren größte Hektik darin besteht, dass ausgelesene oder niemals betrachtete Zeitungen im Wind über den Boden fegen. Ich gehe einige Schritte voran, suche die beiden Häuserzeilen nach einem weiteren Hinweis ab, doch letzten Endes muss ich mich auf meinen Kompass verlassen, der mich zielgenau zu einer unscheinbaren Blechtüre führt, die scheinbar den Eintritt in die Küche eines italienischen Restaurants bedeutet. Ich öffne sie und mir schlägt eine Welle seltsamer Küchengerüche mitsamt ihrer Wärme entgegen, sodass ich erst einmal einen Schritt zurücktrete, ehe ich den Mut sammle und in diese andersartige Welt eintrete. Direkt zu meiner Linken kochen Linguine und rechterhand steht eine große Kellertür offen, auf der ein Pfeil nach unten zeigt und unter dem etwas geschrieben steht, das ich erst beim näheren Hinsehen lesen kann: »Keller der einsamen Sucher. Die Raumzeit wird deinen Geist dehnen. Nur für Seltenbegabte.« Verwirrt bleibe ich vor dem Eingang stehen und blicke ins Schwarz hinab, in dem ich nichts erkennen kann, aber da mein Kompass genau in diese Richtung zeigt und er mich bisher nicht enttäuscht hat, vertraue ich ihm ein weiteres Mal und setze den ersten Schritt in den Keller hinab, langsam vorantastend, jede Stufe mit beiden Füßen, um einen sicheren Stand zu behalten. Wie von einem schweren Windstoß zugedrückt, fiel die große Kellertüre geräuschvoll in ihr Schloss und beinahe hätte sie die Kraft aus den Angeln gehoben, doch meine Bedenken zerstreuten sich, als weiter unten das Licht anging und ich die Treppe weiter hinab in dieses seltsame Reich stieg. Unten angekommen setzt zunächst mein Denken komplett aus, denn ich bin in einem überdimensionalen Kellergewölbe, dessen Ausmaße über den gesamten Block verteilt sein müssen, denn alles erscheint hier als uferlos. In einer nahen Nische des Kellers sehe ich ein Labor, das von einem Menschen bedient wird, der auch auf mich zukommt, mich freundlich an dem Arm nimmt und zu einer riesigen, kreisförmigen Maschine führt, die in diesem Kellergewölbe scheinbar eine komplette Runde dreht. Mit dem Druck auf einen Knopf, dessen Farbe eigentlich ein Nichtdrücken fordert, springt eine riesige Türe auf, die einen Blick auf das Innenleben einer Kapsel preisgibt, das dem eines Spaceshuttles nahekommt. Ohne ein Wort zu sagen, jedoch mit bedeutungsvoller Miene will mir der Laborant andeuten, dass ich mich auf den einzigen Stuhl inmitten der Kapsel setzen solle. Ich gehorche, da mein Kompass mir ein letztes Mal die Richtung weist, trete ein, setze mich und lasse mich derart festzurren, dass ich beinahe nicht mehr zum Atmen fähig bin, blicke auf die ganzen blinkenden Knöpfe und registriere erst beim Zuschlagen der Türe, dass sich der Laborant gewiss auf den Start dieser Monsterapparatur vorbereitet. Urplötzlich und ohne Vorwarnung erlischt das Licht und ein neues, rotfarbiges erzeugt in der Kapsel eine diffuse Atmosphäre, während die Lichter der Apparaturen ihren Tanz bis zur Ekstase vollführen und mich zum Schließen meiner überstrapazierten Augen zwingen. Weiterhin sehe ich das Flackern hinter meinen Augenlidern, das jedoch nach einigen Momenten vollständig zum Stillstand kommt, sodass ich meine Augen öffne und auf einen schwarzen Bildschirm blicke, auf dem eine Nachricht erscheint: »Der Mensch besteht aus Teilchen, dies ist ein Teilchenbeschleuniger, der Mensch wird beschleunigt, die Raumzeit wird gekrümmt, die Teilchen werden mit der Zeit im Raum gekrümmt und sie werden zu einer sehr dehnbaren Teilchenmasse. Viel Spaß!« Ohne Vorwarnung muss der Laborant den Startknopf in ebenfalls höchstwahrscheinlich roter Farbe gedrückt haben, denn ich spüre von dem einen auf den anderen Moment nichts mehr, es scheint, als wäre meine Koexistenz aufgelöst und ich wäre mit meinem Geist in einer anderen Dimension als mein Körper. Alles um mich herum ist Schwarz, doch dann explodieren gewaltige Massen, die Zeit scheint sich zu einer Geschwindigkeit zu verdichten, die mich die gesamte Entwicklung des Weltalls mitverfolgen lässt, bis zu dem Tag, an dem ich in die Kapsel gestiegen bin, dort wird die Geschwindigkeit langsamer und hält sogar bis auf den Sekundenschlag an, doch meine Reise scheint noch nicht zu Ende, denn aus der gesicherten Position im geostationären Raum stoße ich auf den Erdplaneten nieder, sehe an mir die menschlichen Bauten vorbeifliegen und glaube, auf den Boden aufzuschlagen, doch bremse ich unmittelbar davor, alles um mich herum wird größer oder ich schrumpfe, zunächst sehe ich gigantische Insekten um mich herum, danach spaltet sich meine Welt in die einzelnen Atome auf, ich erkenne den Unterschied zwischen den Elektronen, den Neutronen und den Protonen anhand ihrer Beziehung zueinander, ehe ich zu den Quarks, Leptonen und Eichbosonen vorrücke, deren Vergrößerung allerdings bereits deutlich länger andauert als die Verwandlung der Welt in Atome und ohne allzu große Mühe gelingt es mir, einige Theorien der neueren Wissenschaften anhand meiner Beobachtungen zu bestätigen, ehe ich mich weiter verkleinere, denn mittlerweile erscheint mir diese Erklärung als die einzig mögliche, die eigentlich superkleinen Bestandteile erlangen gigantische Ausmaße, ehe ich die nächste Dimension erblicke, eine erneute Dreiteilung der existenten Wirklichkeit, denen die Wissenschaftler noch keine Namen gegeben haben, doch sie sind auf eine eigenartige Art und Weise deformiert und wandelbar, es scheint, dass sie sich in einer megadimensionalen Realität befinde, die den Raum und die Zeit derart krümmt, dass alles zusammenfällt. In dieser interstellaren Verwirbelung erkenne ich in einem dieser kleinen deformierten Teilchen, das sich wie ein Sprachrohr auftut, das Weltall, dessen Raumzeit mit dem kleinstmöglichen Teilchen meiner momentanen Existenz zusammenfällt, sodass ich bei einer weiteren Verkleinerung zunächst zwangsläufig die Größe unseres Alls aufnehmen würde, ehe sich das Größenverhältnis immer weiter verändern würde, bis ich mich schlussendlich erneut im geostationären Raum befinden würde, eben dort, wo ich meine unglaubliche Reise begonnen habe. Aber ich habe genug von dieser Reise durch den Raum und die Zeit, sodass ich nicht in das Weltall eintauche, sondern daran vorbeifliege, ehe ich immer kleiner werdend mit einer dunkel aussehenden Materie zusammenpralle, die mich in ihrer Nichtexistenz umschließt und in sich einverleibt, sodass es mir dort gelingt, wieder mit meinem Körper zusammengeführt zu werden und mir den Schlaf der Ewigkeit zu gönnen, den ich mir nach dieser langen Reise wohl verdient habe.
Ich erwache und muss feststellen, dass mich ein nervig gleichmäßiges Geräusch aus dem Schlaf reißt. Ich denke an meinen Wecker, stehe auf, suche nach ihm, doch als ich ihn in den Händen halte, ist er es nicht, der diese Töne von sich gibt. Rastlos blicke ich umher, suche nach der Richtung, aus der der alternierende Piepton kommt, aber er scheint aus allen Ecken des Raumes gleichzeitig an mein Ohr zu dringen, sodass ich beschließe, alle Ecken meines Schlafzimmers abzusuchen, um das nervende Geräusch abzustellen. Mit neuer Energie gehe ich daran, jeden Schrank auszuräumen und alles auf den Kopf zu stellen, doch immer dann, wenn ich mich soeben am Ziel wähne, wird der Ton leiser, verschwindet für kurze Zeit gar aus meinem Hörbereich, um dann an anderer Stelle umso lauter und eindringlicher zu ertönen. Ich spüre, wie sich die Unzufriedenheit in meinem Körper zu einer gewaltigen Zorneswelle zusammenstaut, obwohl ich mir immer wieder sage, dass es nicht mehr viele Ecken gibt, wo sich dieses Geräusch machende Gerät befinden könnte. Mit jedem Misserfolg steigt die Welle in meinem Innern weiter an und meine Beschwichtigungsversuche zeigen immer weniger Wirkung, sodass es mich kaum verwundert, als ich mit einem Mal meine Hand derart gegen den Wandschrank schlage, dass nicht nur mein Handgelenk sogleich schmerzt, sondern auch die Schiebetür aus der Führung gerissen wird, deren Abfangversuch ich mit weiteren Schmerzen im frisch lädierten Handgelenk bezahle. Voller Wut auf meinen Zornausbruch schmeiße ich die Türe zur Seite, da jedoch dort mein Nachttisch mit einer gläsernen Lampe steht, zertrümmere ich diese mit einem Getöse, das mich zeitweilig sogar die Suche nach dem Piepton vergessen lässt, der seltsamerweise neuerdings gedämpft unter der quer über meinem Bett liegenden Schranktür ertönt. Ich greife mit meinem Finger darunter, um dort nachzuschauen, bis ich zu spät feststelle, dass dort die Scherben der Lampe liegen, und schneide mir eine tiefe Fleischwunde in die Hand, deren Handgelenk zum Glück noch intakt ist, wenn auch nicht ganz. Da die Schmerzen in der anderen Hand nicht weniger geworden sind, habe ich nun keine Hand zur Verfügung, um die blutende Hand zu halten, sodass ich aufstehe und ins Badezimmer renne, immer mit der Hoffnung im Hinterkopf, dass das Piepsen mich nicht verfolgt, doch es will mich scheinbar nicht loslassen, denn im Badezimmer ertönt es ebenfalls, aber zunächst muss ich mich um meine verletzten Hände kümmern. Unter den größten Schmerzen lasse ich kaltes Wasser über beide Hände laufen und in diesem Moment spüre ich mein angeknacktes Handgelenk kaum noch, so sehr brennt die aufgeschnittene Hand, deren Blutfluss so stark ist, dass mir alsbald schwindelig wird und ich langsam zu Boden sinke, mich hinsetzen muss und spüre, wie das Leben aus meinem Körper entweicht, langsam und mit äußerst sadistischen Zügen. Ohne Zeitgefühl sitze ich an der Wand und es gelingt mir kaum noch, die Augen aufzuhalten, als mir selbst zum Sitzen die Kraft fehlt und ich gemächlich an der Wand Richtung Boden entlangrutsche, bis ich mich mit dem Kopf sanft auf dem kalten Plattenboden niederlege. Längst habe ich mit allem abgeschlossen, als ich ein letztes Mal meine Augen öffne und meinen Wecker vor meinen Augen liegen sehe, dessen langsamer werdender Piepton mein langsam schlagendes Herz im Takt begleitet, ehe der Wecker vollends verstummt. Es vergehen stille Sekunden, in denen nichts geschieht, doch als ich endlich die Augen öffne und meinen Wecker auf dem Wohnzimmertisch abstelle, ist einiges an Zeit verronnen und der Eisbeutel auf meinem Kopf zeigt mir an, dass ich aus den Traumrealitäten in die Wirklichkeit des Lebens zurückgekehrt bin.
Ich richte meinen Oberkörper auf und spüre die Stellen, mit denen ich auf den Boden aufgeschlagen sein muss, sehr deutlich, rufe nach meiner Frau, doch niemand antwortet, aber wenigstens hat sie einen Zettel mit einer Nachricht für mich hinterlassen, bevor sie mich in meinem schlafenden Elend alleine gelassen hat. Sie sei Tennis spielen und ich erinnere mich, dass an diesem frühen Abend ihre Trainingsstunde war, die sie niemals ausfallen ließ, selbst wenn ich die Vorstellung eines neuen Buches hatte, was mich hin und wieder aufs Äußerste geärgert hatte. Einem Blitzschlag gleich schießt mir dann auch der Grund durch den Kopf, warum sie mir einen Wecker gestellt hat, denn heute Abend wollte mein Verleger vorbeischauen, um nach dem Stand meiner neuesten Kriminalgeschichte zu fragen, denn bei einem baldigen Ende der Arbeiten würde er die Werbetrommel alsbald mit dem Titel meines neuen Romans anwerfen, damit die Menschen bereits im Vorhinein von einem möglichen Kauf für den nächsten Herbst oder Winter inspiriert würden. Ich selbst hatte nichts gegen diese Vorgehensweise meines Verlegers, da sich mit jedem verkauften Buch auch meine persönliche Situation verbesserte, doch allein der Gedanke an ein Gespräch heute Abend, nach allem, was an diesem Tage geschehen war, erschien mir schwieriger als jeder unbezwingbare Pass im Himalaya-Gebirge, sodass ich das Handy vom Tisch nahm und die Nummer meines Verlegers wählte, der unglücklicherweise jedoch im gleichen Moment an meiner Tür klingelte. Ich mache ihm auf und erkläre in einem scherzhaften Tonfall, dass ich ihn gerade anrufen wollte, um ihm für den heutigen Abend abzusagen, doch da er jetzt schon mal da sei, könne er auch gerne reinkommen, solange er nicht allzu lange bleibe. – »Du siehst ziemlich mitgenommen aus«, beginnt der Verleger und setzt sich auf einen der langlehnigen Stühle unseres großen Esszimmertisches, der an der Seite des Wohnzimmers seinen Platz gefunden hat. – »Ja«, log ich mit undurchdringlicher Miene, »ich kam nach Hause und habe nicht aufgepasst, denn ohne mein Zutun rutschte ich auf dem nassen Boden aus und habe mir dabei den Kopf angeschlagen. Siehst du die Beule auf meiner Stirn, die sich langsam gegen das Licht abzeichnet und Ausdruck meiner höllischen Kopfschmerzen ist, die mich seither penetrant belagern.« – »Man sollte auch darauf achten, wohin man seine Füße setzt, dann passiert einem auch kein solches Unglück, wobei du noch vom Glücke reden kannst, dass nicht mehr passiert ist; stell dir nur mal im Geist vor, wie du mit dem Kopf an die Kante der Stufe prallst und dein Kopf – aber lassen wir das. Ich wollte eigentlich nur hören, wie weit du mit deinem neuen Roman bist und wann du an seine Fertigstellung glaubst, denn immerhin stehen die kalten Monate alsbald ins Haus und da möchte ich ein neues Buch eines meiner erfolgreichen Autoren in die Regale stellen.« – »Eigentlich sieht es ganz gut aus, ich muss nur noch meinen Ermittler den Täter schnappen lassen, nachdem er die nötigen Beweismittel und Spuren zusammen hat, fehlt mir nur noch ein furioses Finale und ich kann auch diesen Roman stilvoll beenden.« – »Das hört sich gut an«, gibt mir mein Verleger zurück und schaut etwas gedankenverloren im Raum umher, ehe er sich neu sammelt und mich fixiert, »ich habe mir deinen anderen Text vor einigen Tagen durchgelesen und war erstaunt, dass er überhaupt nicht mit deinen anderen Romanen vergleichbar ist.« Bisher plätschert die Unterhaltung im normalen Rahmen dahin, doch dieser lieblos dahingeworfene Kommentar meines Verlegers holt mich aus allen selbstsicheren Träumen zurück, denn mit diesem neuartigen Text habe ich meine schriftstellerischen Fähigkeiten ausgetestet, um herauszufinden, ob ich auch andere Genres als das der spannenden Kriminalromane geist- und stilvoll verfertigen kann. – »Du klingst nicht sehr begeistert und eigentlich hört es sich beinahe an, als ob du dieses Thema so schnell wie möglich unter den Tisch kehren möchtest, denn ansonsten wärst du freudestürmend in mein Haus gerast und ich hätte bis spät in die Nacht hinein deinen Redefluss kaum bremsen können.« – »Ja, wie soll ich es am besten ausdrücken; ich glaube, dass es dir nicht helfen wird, wenn du diesen Roman veröffentlichen würdest, allein aus dem Grund, dass er von deinen Fans gekauft und dich als einen soliden und gutwertigen Kriminalautor aus dem Rennen schicken würde. Im Grunde ist es eine nette Idee, die du konsequent bearbeitet hast, und ich kann auch behaupten, dass ihre Realisation gewiss wichtig für deine weitere Entwicklung ist, doch ich kann dir als dein Verleger niemals die Zustimmung zu einer Publikation geben, von der ich weiß, dass sie deinem Namen als genretreuem und zuverlässigem Autor nicht dienlich, sondern schädlich sein wird.« – »Allerdings muss ich dich dann darauf aufmerksam machen, dass ich in meinem Autorenvertrag den Passus drinstehen habe, dass ich einen Text, dessen Publikation von deinem Verlag abgelehnt wird, einem anderen durchaus anbieten kann, wenn daraus keine Interessenkonflikte entstehen, und ich glaube, ein völlig anderes Genre zu bedienen ist wahrscheinlich vor den meisten Gerichten zulässig.« – »Da du jetzt eine begründete Absage erhalten hast«, beginnt mein Verleger nach einigen Momenten der spannungsgeladenen Ruhe, »verlegst du dich aufs Drohen und hoffst auf diese Weise, die Publikation zu erzwingen?« – »Ich möchte Neues ausprobieren und hoffe, dass ich mit diesem Text den Absprung aus einer festgefahrenen Situation erreiche, die mich zunehmend in meiner schriftstellerischen Existenz bedroht. Verzeih mir meine Drohung, sie war gewiss nicht ernst gemeint, ich habe einfach nur sehr starke Kopfschmerzen und weiß zuweilen nicht, was ich denken soll, denn alles dreht sich seit heute in meinem Kopf. Ich werde wohl oder übel einige Tage Ruhe brauchen, ehe ich die Kraft finden werde, meinen neuen Roman zu beenden, aber sicherlich noch rechtzeitig für die Publikation zum Herbstgeschäft; über den anderen Text, dem aber weitere folgen werden, können wir ja dann ein anderes Mal sprechen, wenn ich keine Kopfschmerzen mehr habe.« – »Es freut mich zu hören, dass du wieder die Vernunft angenommen hast«, sagt mein Verleger versöhnlich, steht auf und reicht mir die Hand, »ich werde dich jetzt alleine lassen, denn du brauchst anscheinend wirklich die Ruhe, von der du sprachst, und mitunter lässt sich über eine Publikation unter dem Deckmantel eines Pseudonyms nachdenken und verhandeln.« Ich schüttle meinem Verleger die Hand, begleite ihn nach draußen, schließe hinter ihm die Türe und taumle zwischen Freude und Ärgernis, denn ich habe meine gute Ausgangslage in unserer Beziehung für einen Text aufs Spiel gesetzt, den ich als Versuch geplant habe, und kann froh sein, dass mein Gegenüber die Lösung der Publikation unter einem Pseudonym vorgeschlagen hat, denn damit können gewiss beide Seiten leben. Kaum setze ich mich zurück an den Tisch und habe die Möglichkeit zur Ruhe, verspüre ich erneut die starken Kopfschmerzen, sodass ich ins Badezimmer gehe, um zwei starke Schmerztabletten zu nehmen, die mir helfen sollen, die Ereignisse des Tages zu verarbeiten, denn mit dem langsamen Verschwinden der Kopfschmerzen kommen die wirren Gedanken an den jungen Mann zurück, der doch wahrhaftig behauptet hat, mein Klon zu sein.
Im Eilmarsch ziehen die nächsten Tage vorbei, in denen ich dem scheinbaren Klon wissen lasse, dass ich ihn zu Beginn der nächsten Woche bei mir zu Hause empfange, sollte dieser nichts gegen die Warterei einzuwenden haben. Doch es kommt nur eine Zusage, auf der beigefügt ist, dass der Klon bereits sein Leben lang auf eine Antwort zu seinen drängenden Fragen warte, sodass es auf einige wenige Tage nicht mehr ankomme. In jenen Tagen komme ich kaum zum Arbeiten. Jeden Moment, wenn ich versuche, meine Gedanken zu meinem neuesten Kriminalroman auf das Papier zu bringen, kommen mir die mich drängenden Fragen dazwischen: »Wie wahrscheinlich ist seine Geschichte angesichts dessen, dass er mir in beinahe allen Eigenschaften gleich scheint – mit Ausnahme der Narben und Gebrauchsspuren des Alltags – und in welcher Beziehung möchte ich mit ihm stehen, wenn seine Geschichte der vollen Wahrheit entsprechen sollte? Er hat mir angeboten, dass er niemals wieder in mein Leben treten wird, wenn ich es wünsche, aber verhält es sich demnach oder ist es nicht zugleich auch ein Reiz, vermutlich einer der wenigen Menschen auf dem Planeten zu sein, der einen Klon im Alter von zwanzig besitzt? Andererseits, wenn ein Labor die Fähigkeit seit zwanzig Jahren besitzt, das Klonen in einem derart perfekten Zustand durchzuführen, warum habe ich noch nichts davon in der Weltpresse vernommen und von einem ähnlichen Fall gehört? Gibt es womöglich überall auf der Welt Klone, die nicht wissen, dass sie keine regelmäßig gezeugten Menschen sind, sondern Reproduktionen, gewissermaßen Falsifikate, wie weltweite Nachmachprodukte bekannter Marken genannt werden? Dass es etwas mit meinem Erfolg zu schaffen haben könnte, kann ich beinahe ausschließen, denn vor guten zwanzig Jahren war ich noch an der Universität und studierte mit Laune vor mich her, anstatt an meinen künftigen Weltruhm zu denken, doch mitunter ist die Bekanntgabe eine neue Masche der Entwickler, um zumindest die bekanntesten Originale ins Schwitzen und zum Zahlen zu bringen? Aber ich hatte keineswegs das Gefühl, dass der junge Mann auf der Suche nach einer Finanzspritze war, vielmehr schien er zu versuchen, seine emotionale Integrität wiederzuerlangen, die allerdings auch nicht erst vor kurzem aus dem Gleichgewicht gebracht zu sein schien, da er sich über die Fakten seines Lebens bestens bewusst schien. Demnach gibt es drei Möglichkeiten, die eine große Wahrscheinlichkeit besitzen; die erste würde ihn als Lügner enttarnen, der mich auf einem alten Foto entdeckt hat und um meine Spenden in der Vergangenheit weiß, was wiederum sehr unwahrscheinlich klingt; die zweite enttarnt ihn als guten Geschichtenerzähler, denn dann würde er mein Sohn sein, der herausbekommen hat, an welches Befruchtungslabor meine Samenzellen verkauft wurden, wogegen aber beinahe die perfekte Übereinstimmung mit meinem Aussehen vor zwanzig Jahren spricht; und die dritte wäre die abwegigste, aber jene, die der junge Mann mir vorgestellt hat, dass er mein Klon ist, doch dann stellen sich automatisch die Fragen ein, die nur mit viel Phantasie verbunden und ausgeschmückt werden können, denn vor zwanzig Jahren war diese Technik noch keinesfalls reif für solche Versuche, auch wenn man hin und wieder von einem sehr grenzwertigen Versuch in einem allein auf Reputation ausgerichteten Labor gehört hat, das mit vollem Wissen die ethischen Zwänge der Gesellschaft niedertreten – doch kann dies geschehen sein?«
Zumindest ist mir eines unmittelbar am ersten Tage nach dem Besuch des jungen Mannes klar: dass ich keinesfalls meinen neuen Roman beenden werde, ehe ich nicht hinter das Rätsel meines angeblichen Klons gekommen bin. Unterdessen versuche ich, über das Internet alle Informationen über den Verbleib des Laboratoriums zu erhalten, bei dem ich früher meine Zellspenden abgeliefert habe, doch erst will mir kein Erfolg vergönnt sein, ehe ich erkennen muss, dass dieses Labor vor guten fünfzehn Jahren von seinem führenden Unternehmen geschlossen wurde. Das Pharmaunternehmen, das das Labor schloss, ist wiederum vor guten zwölf Jahren nach einer Zeit der Misswirtschaft vollständig aufgekauft und zersplittert worden, sodass ich daher gewiss keine Informationen erhalten werde, und da ich mir sicher bin, dass ich die Unterlagen aus jenen Tagen restlos vernichtet habe, stehe ich vor einer strahlend weißen Wand, von der die Sonne reflektiert wird und hinter die ich nicht blicken kann, weder an ihr vorbei noch mittendurch, und der Weg hinan zur Erkletterung ist derart glatt und voller möglicher Rückschläge, dass ich mich erst einmal auf eine mögliche Strategie trimmen muss, ehe ich das Risiko eingehe, von der Wand ins Bodenlose abzurutschen. Auch an diesem Abend verlässt mich meine Frau, um zu einer Freundin zu fahren, sodass ich die Gelegenheit habe, selbst ein wenig herumzufahren, um das einengende Haus, in dem sich meine aktuelle Geschichte in allen Variationen abspielt, hinter mir zu lassen. Ich setze mich in meinen Wagen, fahre die langgezogene Einfahrt entlang und passiere das Tor, als ich eine ungewöhnliche Entwicklung auf der Alleenstraße feststellen muss, da irgendein Umweltunternehmen anscheinend von der Behörde den Auftrag bekommen hat, alle Bäume in dieser Straße abzusägen. »Wie merkwürdig«, denke ich mir, »vor kurzem noch wurde unsere Straße von der Stadt die schönste und gepflegteste gerühmt und jetzt machen sie daraus eine Allerweltsstraße«, doch das eigentlich Erstaunliche ist für mich, dass keiner meiner Nachbarn gegen diese Unternehmung vorgegangen ist, nein, sie schauen zu, wie einer nach dem anderen niederfällt, entästet und kleingeschnitten wird, um auf einen Lastwagen geschmissen zu werden. Unter normalen Umständen wäre ich bereit gewesen, das Heft in die Hand zu nehmen, doch in meiner augenblicklichen Konstitution ist es keinesfalls sinnvoll, mir weitere schwere Gedanken zu den vorhandenen zu machen, sodass ich den Blinker in die andere Richtung setze und meinen nachbarschaftlichen Familien die Entscheidung überlasse, sich gegen diese Abholzung zu wehren oder sie weiterhin tatenlos zu betrachten. Da ich mich für diese Richtung entschieden habe und in einem Vorort der Stadt wohne, komme ich schnell an den Rand der Stadt und verlasse sie über eine Landstraße, die die außenliegenden und noch nicht einverleibten Orte mit der großen Stadt verbindet, lasse auch den nächsten und übernächsten Ort hinter mir und fahre ohne Ziel geradeaus, ehe mir der See in der Nähe einfällt, an dem ich früher des Öfteren im Sommer baden gewesen war, aber seit Jahren nicht mehr besucht habe. Den geschotterten Weg fahre ich vorsichtig hinab, denn ich möchte nicht allzu sehr durchgeschüttelt werden, doch schon bald muss ich feststellen, dass eine Schranke mir den Zugang zum See versperrt; ich halte den Wagen an, springe aus dem Auto und versuche mit aller Kraft, den Balken anzuheben, bis ich aus lauter Kraftlosigkeit das Schloss erblicke, das den Schlagbaum in diese Stellung zwingt. Frust steigt in meinem Körper auf, gegen den unverrückbaren Schlagbaum, aber auch gegen mich selbst, der nicht zuerst nachgeschaut hat, ehe er handelt, was doch mein allgemeiner Grundsatz ist«, denke ich mir, schließe meinen Wagen ab und mache mich zu Fuß auf den Weg hinab zum See, dessen Bild ich eindeutig anders in Erinnerung gehabt habe. Grünlich schimmert er unter der Oberfläche, auch hat er einen deutlich niedrigeren Wasserstand als ehedem, sodass zwischen dem angelegten Sandstrand und dem beginnenden Wasser einige Steine die abschüssige Böschung beherrschen. Auf einem verrosteten Schild werde ich darauf hingewiesen, dass das Baden wegen allzu starkem Algenwuchs in diesem See vorübergehend verboten sei, doch ich lasse mich nicht beirren, reiße die Kleidung von meinem Körper und möchte nur mit der Unterhose bekleidet eine Reise in meine eigene Vergangenheit machen, doch schon beim ersten Tritt ins kühle Nass stelle ich fest, welche Dummheit dieser Versuch sein könnte, weiche zurück und kraxle über die spitzen Steine zu meiner Kleidung. Um wenigstens eine kleine Verbindung zu meiner Vergangenheit herzustellen, wandere ich auf verschlungenen Pfaden um den See und suche jenen Strand, den wir früher stets besucht hatten, um uns mit unseren Freundinnen vor den anderen Menschen zu verstecken, doch bereits nach wenigen Metern stelle ich erneut fest, dass dies ebenfalls keine besonders kluge Idee gewesen ist, doch mit dem blinden Mut eines Menschen, der seiner Jugend hinterher jagt, kämpfe ich mich durch das Dickicht und erreiche schlussendlich doch noch die geheime Bucht, die infolge der Absenkung des Wasserspiegels ebenfalls nicht mehr am Rande des Wassers liegt, sondern oberhalb von einer abschüssigen und matschigen Rampe, die ins grüne Nass führt. Ich setze mich in den Sand und lasse die Erinnerungen die Oberhand über mich gewinnen, lege mich auf den warmen Sand und genieße die hin und wieder hinter den zarten Wolken auftauchende Sonne, doch nach bereits wenigen Minuten befinde ich mich in meiner eigenen, jedoch surrealen Traumwelt.
Ich erwache und spüre, wie meine Zehen von den heranbrausenden Wellen umspült werden, denn der Wasserpegel muss während meines Schlafes um einige Meter angestiegen sein, doch als ich mich erhebe, um ein wenig weiter nach oben zu rücken, fällt mir auf, dass alle Gegenstände aus meinen Taschen verschwunden sind. Ich finde weder mein Portemonnaie noch meine Wagenschlüssel, doch es scheint mir nichts auszumachen, denn ich stehe ohne Sorgen auf, schüttle mir den Sand vom Körper und blicke nach einer Betätigung umher. Sogleich erkenne ich einen Kitesurfer auf dem Wasser und bin von seiner Eleganz und Leichtigkeit beeindruckt, mit denen er sich vom Fallschirm, den er mit aller Kraft festhält, über das blaue Wasser des Sees ziehen lässt. Ohne zu zögern erkläre ich mich bereit, dasselbe versuchen zu wollen, und finde tatsächlich bei einer genaueren Betrachtung der Szenerie am Wasserrand ein Kiteboard, das nur darauf wartet, mich mithilfe des stetig blasenden Windes über das Wasser zu ziehen, sodass ich nicht zögere und mich ohne Einweisung auf das Brett stelle. Unvermittelt nach dem Betreten des Bretts und dem Eintreten in die Fassung für die Füße erhebt sich der Fallschirm in die Lüfte und will mich mitsamt dem Brett vom Ufer wegziehen; alles geht derart schnell, dass ich beinahe vergesse, die Lenkstange in die Hand zu nehmen, doch im letzten Moment schnappe ich sie mir und das Brett unter meinen Füßen beginnt, über das Wasser zu gleiten. Wie in Trance schwebe ich über der Wasseroberfläche dahin, brauche keinerlei Kraft, um den stark im Wind liegenden Drachen zu bändigen, und genieße die hohe Geschwindigkeit, mit der ich über den See gleite. Auch meine Gefühle gleiten ins Unendliche, freier habe ich mich noch nie in meinem Leben gefühlt, und alle Last scheint von meinen Schultern abzufallen, sodass ich unbeschwert in der endlos scheinenden Zeit auf dem Wasser fahren kann, ohne dass es Einfluss auf mein Leben hätte. Den Wind um die Nase erlebe ich die gewaltigsten Umstürze, ich sehe, wie andere Segler mit dem starken Wind wie gegen einen Kerberos kämpfen und Schwimmer, die lieber ans Ufer zurückschwimmen, als den Kampf mit den Elementen aufzunehmen, die ich derart spielend und ohne sonderliche Eigenleistung beherrsche. Der See türmt sich zu hohen Wellen auf, die gegen mich anbranden, doch keine vermag mich vom Kiteboard zu schmeißen, keine urgewaltigen Kräfte könnten meine Fahrt aufhalten, sodass ich auf meinem Weg weiter reite, bis der See eine Biegung macht und zu einem langen Schlauch wird, dessen Ende von dem Startplatz meines Abenteuers nicht einsehbar ist, den ich aber aus meinen Erinnerungen rekonstruieren kann. Umso erstaunter bin ich dann, als ich erkennen muss, dass mich entweder meine Erinnerungen betrügen oder Seltsames an diesem Ort geschieht, denn mit einem Male ist es nicht mehr der Wind, der mich vorantreibt, nein, es ist die Strömung des Sees, die mich immer schneller vorantreibt, auf einen riesigen Wasserfall zu, dessen Höhe derart hoch sein muss, dass der sprühende Nebel der hochspritzenden Wassertropfen nicht bis zum Rand desselben reicht. Erst im gleichen Moment, als ich über die Kante drifte und das Risiko meines Falles erkenne, da ich kaum den Boden dieses Wasserfalls sehe, den ich niemals zuvor gesehen habe, verspüre ich die beklemmende Angst, die in mir aufsteigt, denn vorher glaubte ich, die Wirklichkeit derart bestimmen zu können, dass ich keine Angst zu haben brauche. Doch im beginnenden Fall und auch während des Sturzes gebäre ich den Gedanken, was wohl wäre, wenn ich unten aufschlage und das Leben damit aushauche? »Was, wenn das Wasser zu hart für einen Aufprall ist oder ich einen herausragenden Stein erwische«, frage ich mich, dann wäre die Entscheidung, einen See mit einem reißenden Wasserfall aufzusuchen, gewiss die schlechteste denkbare Entscheidung, die ich jemals traf, doch mit dem Eintauchen in die herausdringende Gicht des Wassers ist es, als ob ich in eine andere Sphäre eintrete, von der ich kaum etwas erfahre, denn mit einer ungeheuren Geschwindigkeit falle ich auf das Wasser, tauche ein und wundere mich nur, dass ich nichts von dem Aufprall spüre. Ich glaube mich bereits tot und reagiere nur noch fadenscheinig, versuche kaum, an die Oberfläche zu gelangen, brauche aber auch nicht zu atmen, denn mein Leben scheint eine andere Existenzform angenommen zu haben; ich lasse mich nach oben treiben und erkenne durch ein nebulöses Licht, dass ich in einer Höhle auftauche, deren Loch in das Dunkle hineinführt, aus dem ich auftauche. Ohne merkliche Kraftaufwendung stoße ich durch das Wasser, gehe nicht mehr unter und habe Zeit und Muße, mich ein wenig in der schummrig ausgeleuchteten Höhle umzusehen, entscheide dann, meine neue Umgebung ein wenig genauer zu betrachten, steige aus dem Wasser und meine Kleidung ist sogleich trocken, als wäre sie niemals nass gewesen. Diese seltsamen Umstände scheinen jedoch für mich keine zu sein, da ich mich sogleich auf einen Stein setze und mir über die anstehende Entscheidung Gedanken mache, welchen der drei Wege, die aus der großen Höhle fortführen, ich wohl nehmen werde. Als ich mich, aus welchen Gründen auch immer, für den Rechten entschieden habe, stehe ich von meinem Stein auf und erblicke ein seltsames Gebilde an dessen Seite, das ich aufnehme und feststelle, dass dies ein Musikinstrument ist, das ich in dieser Form noch niemals erblickt habe, berühre sanft die Saiten und schlage einige an, sodass die schönste Melodie ertönt, die ich jemals vernommen habe. Mit neuem Mut und frischem Tatendrang setze ich meinen Weg fort und nehme den rechten Weg, doch bereits nach wenigen Metern komme ich in eine riesige Höhle, in der mir dampfende Schwefelwolken die Sicht nehmen, sodass ich die gruselige Kreatur erst im letzten Moment ihres Sprunges sehe, ducke mich blitzschnell, doch es reicht nicht mehr, sodass sie mich an meiner Schulter erwischt und den Gurt meines Instruments durchtrennt. Der Klangkörper fällt mit den Saiten auf den Boden und schlägt für einen kurzen Moment an, sodass der Ton von der raumfüllenden Akustik verstärkt und aus allen Richtungen zurückgeworfen wird, doch dies reicht, um die Kreatur dermaßen zu verwirren, dass sie einhält und verwirrt in der Gegend herumschaut. Ich erhebe mich, nehme das Instrument vom Boden auf, beginne mit einer langsamen Bewegung und erzeuge die lieblichste Musik, die ich jemals vernehmen durfte, aber auch der Kerberos, den ich nun in voller Lebensgröße betrachten kann, ist von den Tönen derart angetan, dass er sich zu einem tiefen und unverwüstlichen Schlummer niederlegt und mir die Gelegenheit gibt, die schwefelverseuchte Höhle zu verlassen. Als ich zur Ausgangsposition zurückkehre, frage ich mich sogleich, welchen der beiden anderen Wege ich wohl als nächstes nehmen werde, entscheide mich nicht ohne Grund gegen den mittleren und nehme den linken, der mich aber ebenfalls in die Irre führt, denn in diesem Gang wird es immer enger und zuweilen kommen äußerst spitze Felsformationen aus den Seiten, an denen ich mich das eine oder andere Mal verletze. Kraxeldend erreiche ich eine nächstfolgende Ebene und lege mich dort erschöpft nieder, aber diesen kurzen Moment der Ruhe bezahle ich mit dem Angriff von Kreaturen, die aus dem Nichts auftauchen, in meinen frischen Wunden herumpicken, um dann erneut lautlos und unsichtbar zu verschwinden. Ich rette mich mit letzter Not hinter einen Felsen und achte auf meine Flanken, doch meine Angreifer scheinen mich für einen kurzen Moment in Ruhe zu lassen, da sie höchstwahrscheinlich wissen, dass es nur diesen einen Ausgang gibt, denn ein erneuter Abstieg ist nicht denkbar. Ich schnaufe heftig, sammle meine letzten Energiereserven, ehe mir mein auf die Seite geschnürtes Instrument einfällt, dessen Wirkung ich nach dem Kampf mit dem Kerberos vergessen habe, schlage vier Seiten an, lasse die Wirkung der kraftvollen Melodie in mich eindringen und spüre die erwachenden Lebensgeister, stehe auf und erschrecke, als ich die gesamte Armada der Kreaturen in Reih und Glied vor mir aufgestellt sehe, spiele einige weitere Melodiefetzen und erkenne die Macht dieses Instrumentes in meinen Händen, spiele weiter und weiter, ohne eine Ahnung von der Spielweise zu besitzen, doch das Instrument scheint mich von alleine zu leiten; die Klangfetzen versammeln sich auf diesem Plateau zu einem berauschenden Fest der Sinne und die einzelnen Kreaturen, die ich Harpyien gleich glaube, begeben sich lemminggleich zum Rande der Ebene und springen freudig in den Klangteppich hinab, der sich in jene Richtung ausbreitet, sodass mir der Weg von allein freigeräumt wird. Ich werfe mir meine Lyra, die ich nun endlich erkannt habe, über die Schulter und renne den nun frei gewordenen Gang entlang, erkenne in der Finsternis am Ende des Ganges ein Licht, doch als ich in die folgende Höhle mit der neu erwachten Tatkraft stürme, muss ich feststellen, dass dies die Eingangshöhle ist und ich aus dem linken Weg komme, sodass alle drei Möglichkeiten erschöpft scheinen. Fragend wende ich mich umher, doch außer den drei Wegen, dem Wasserloch, aus dem ich gekommen war, und einem riesigen, langsam dahinfließenden Fluss zur Rechten gibt es hier keinen Weg und keine Kreatur, die mir einen weiteren Weg weisen könnte. Völlig entmutigt setze ich mich auf einen Stein und sinne über mein weiteres Vorgehen nach, als mir ohne Vorwarnung eine Kreatur von hinten auf die Schulter tippt, ich mich erschrocken umdrehe und den Kitesurfer erkenne, den ich vor meinem Ritt auf dem Wasser gesehen hatte, doch in einem völlig anderen Zustand. Als ich an seiner verlumpten und schiefen Existenz vorbeiblicke, sehe ich im Hintergrund sein zerbrochenes Board und weiß darum, dass er ebenfalls in den Wasserfall hinabgestürzt ist, doch offensichtlich nicht ohne Verletzung. Mit seinem gebrochenen und schief abstehenden Zeigefinger reibt er an seinem ebenfalls krummen Daumen und ich verstehe, dass er einen Obolos haben möchte, um über den Fluss der Toten übergesetzt zu werden; sogleich kommt mir die Idee meines weiteren Vorgehens, denn indem ich diesen Surfer voranschicke, kann ich den Fahrer des Todesnachens herbeirufen lassen, der mich auf die andere Seite des Flusses zu bringen vermag. Ich krame in meiner Tasche und finde einen alten Silberling, den ich dem Surfer gebe, der sich ohne Regung und ohne Dank auf den Weg zum Fluss der Toten aufmacht, um dort an einer Glocke zu rütteln, deren Klang entsetzlicher nicht sein könnte. Ich halte mich hinter einem Felsen versteckt, um den Fährmann der Styx, Charon, erst angelegen zu lassen, ehe ich mich aufmache, ihn von einer Überfahrt meinerseits zu überzeugen, denn in diesem Moment wird mir bewusst, dass dieser mich nicht ohne Kampf übersetzen wird, da meine Seele mit meinem lebendigen Körper in die Unterwelt gelangt ist. Aus dem Dunkel über dem Fluss erscheint ohne vorherige Ankündigung ein Nachen, an dessen einem Ende eine diffuse Fackel ihr Licht verteilt und an dessen anderem Ende eine Kreatur im Heck sitzt, die dem Sensenmann erstaunlich ähnlich sieht. Mit einem schaurigen Knirschen auf dem schottrigen Sand gleitet der Nachen auf das Ufer und nur sehr zögerlich bewegt sich die Seele des Surfers auf den Fluss der Toten hinzu, streckt dem Charon den Obolos zu und erhält die Freigabe, indem dieser ihm den Silberling aus der Hand nimmt, doch just im selben Augenblick stehe ich neben der Seele, dränge sie zur Seite und erkenne in dem Blick Charons die hastige Entscheidung, ohne Fracht abzulegen, doch ich bin schneller und habe mein Instrument bereits in der Hand. »Wage es dich abzulegen und ich werde dich mittels meiner Melodie zurückzwingen«, sage ich schneidend, »überlege es dir genau, Charon, denn ich weiß um die Macht, die ich in meinen Händen halte, doch du weißt noch nichts von der Pein, die ich dir zufügen kann.« – »Du kannst mir nichts anhaben«, zischt eine tieftote Stimme mir entgegen und stößt den Nachen kraftvoll vom Ufer ab, sodass mir der Übertritt verwehrt bleibt, »ich habe mein Leben bereits hergegeben und spüre seither keine Pein mehr.« – »Da du dich offenbar gegen meinen Vorschlag auf Verzicht sträubst, wirst du jetzt erfahren müssen, was es bedeutet, sich mit dem größten Dichtersänger aller Zeiten anzulegen, da deine Spottrufe in dem Wohlklang meiner Lyra untergehen werden«, ist meine Erwiderung und mit einem Griff lasse ich eine Melodie erklingen, die schaurig-schöner nicht sein könnte, sodass sich der Surfer in den Fluss der Toten hineinstürzt und mit den Seelen verschwindet, die sich vergeblich am Nachen festhalten wollte, und auch Charon hält in seiner Bewegung ein, da er den inneren Schmerz verspürt, den er seit seinem eigenen Tod nicht mehr spüren musste. »Befreie dich von deinem Schmerz, Charon«, beginne ich sanft zu singen, »und erkenne deinen Meister in meinem fingerfertigen Spiel, das ich auf der von Hermes niedergebrachten Lyra darbiete; sei mein Sklave, lege an und nimm mich auf in deinem Nachen, fahre mich sanft über den Styx und bringe mich ohne Gefahr an das andere Ufer, so lauten meine Befehle!« Ohne Verzögerung beginnt Charon, seinen Nachen zu wenden, steuert direkt auf das Ufer zu, an dem ich warte. Leise und sanft gleitet der Nachen auf den ansteigenden Kies, sodass ich ohne Mühe und Schrecken einsteigen kann. Langsam und ohne sonderliche Hast taucht Charon sein Paddel in das Wasser des Styx, stößt sich vom Ufer ab und führt mich in einer ruhigen und trancegleichen Überfahrt an das andere, gegenüberliegende Ufer, das erst im allerletzten Moment vor mir erscheint. Ich steige aus, fordere von Charon unter Androhung einer weitreichenden Vergeltungsmaßnahme, die auf der gegenüberliegenden Seite stehen gelassene und in den Styx gesprungene Seele ins Totenreich zu überführen, und warte, bis dieser sich aufmacht, ehe ich den Weg hinauf zur nächsten Ebene angehe, die mich über den Fluss der Toten blicken und deren ungeheure Ansammlung an Seelen staunen lässt. »Der Tod ist zugleich das älteste und mächtigste Vermächtnis, das die Natur dem Menschen mit auf seinen Weg gegeben hat und wahrlich das Einzige, was in all seinen Dimensionen noch nie verändert oder aufgehalten wurde«, denke ich mir und wende meinen Blick von dem Sammelsurium an dahingegangenen Existenzen ab, die bis in alle Ewigkeit stumm schreiend den Totenfluss in seine Bewegung bringen. Auf der Ebene, die in einem dunklen Grau darniederliegt, ist weit und breit nichts zu sehen, sodass ich den leicht abschüssigen Weg hinabgehe und mich in der Zeit zu verlaufen scheine, als ich unvermittelt und ohne vorherige Ankündigung an dem Rand einer Felsspalte stehe, an der ich meinen Halt nur mit Mühe und Not bewerkstelligen kann. Ein übler Geruch steigt mir aus dieser Spalte zur Nase, die ich rümpfend abwenden muss, und dabei sehe ich, dass sich hinter mir ebenfalls eine Spalte aufgetan hat, die meinen weiteren Weg, aber auch meinen Rückzug abschneidet. Auf meiner linken Seite beginnt sogleich der Stein in die Tiefe abzubröckeln, während sich auf der rechten Seite Steine zu einer Wand auftürmen, die mich letzten Endes in die Tiefe stürzen soll. Blitzgescheit greife ich zu meiner Lyra und schlage eine schnelle und kraftvolle Melodie ein, und just in dem Moment, als die Wand mich an den Rand meiner Existenz geschoben hat, tauchen im Dunkel zwei Kreaturen auf, deren Erscheinung ich kaum besser als mit den niederträchtigsten und ekel-erregendsten Adjektiven beschreiben kann, doch sie sind es, die mich vor dem Fall ins Bodenlose erretten, da mich je einer an der rechten und einer an der linken Schulter packt und in die Lüfte zieht, wobei sie aufpassen, dass ihre gewetzten Krallen nicht allzu sehr in meinen Körper eindringen. Mit einer unbeschreiblichen Kraftanstrengung bringen mich beide an den Rand der Ebene, die in einem tumultartigen Chaos versinkt und einen reißenden Nebenfluss des Styx freigibt. Mit dem Verlangen, meinen beiden Rettern zu danken, muss ich erkennen, dass sie bereits wieder fort sind, sodass ich mir meine Lyra umhänge und aus der Ebene verschwinde, wo ich sofort bemerke, dass die Temperatur ansteigt, so weit, bis ich das Gefühl habe, die schreckliche Kälte aus dem Körper getrieben zu haben. »Ich muss wohl ins Innere des Tartarus vorgedrungen sein«, sage ich mir und komme auch, nicht ganz unerwartet, zu einem palastähnlichen Gebilde, das in die angrenzenden Felsen gehauen wurde und dessen Eingang von den mannigfaltigen Feuern hell erleuchtet wird. Langsam komme ich näher und suche in dem Gebilde nach Spuren von handwerklicher Arbeit, die mir die Anstrengungen anzeigen sollen, die von Menschenhand geleistet wurden, doch die gesamte Fassade des Palastes verschwimmt bei näherer Betrachtung, sodass ich zu dem Schluss komme, einem Gebäude gegenüberzustehen, das derart irreal wirkt, dass dessen Existenz auf rein geistiger Ebene sein muss. Indem ich eintrete, verschwindet der düstere Vorplatz des Palastes und vor mir entwickelt sich ein langer, feuerumtanzter Säulengang, von dem kein einziger Raum abzweigt, sondern der geradeaus auf eine verschwommen-goldene Türe zuläuft, durch die ich tretend wahrscheinlich mein Ziel finden werde, die Beherbergung des Unterweltherrschers. Zu meinen Seiten gesellen sich im Fortschreiten jene Kreaturen, die ich mittels meiner Melodie unterworfen habe, sie bilden meinen Geleitzug, der sich hoffentlich zu einem Triumphzug ausweitet, doch noch habe ich keinerlei Ahnung, was mich hinter der riesigen und immer mehr verschwimmenden Türe erwarten wird. Ohne sie zu berühren, öffnet sie sich langsam, und ich blicke in eine Räumlichkeit, deren vermischende Gewalt zwischen Totenstarre und prachtvoller Herrlichkeit mir meine Sinne raubt, sodass ich erst beim Hereintreten bemerke, dass mich der Kerberos sanft und ohne merkliche Berührung in den Raum schiebt. Als ich vollends im Raum stehe und den ersten Gesamteindruck auf mich wirken lasse, verschließt sich die Pforte hinter mir und ich weiß augenblicklich um die Großartigkeit des nun folgenden Momentes, denn der Herrscher der Unterwelt, Hades, erscheint mitsamt seiner geraubten Frau Persephone mit einer derartigen Machtkonzentration, dass selbst die kleinsten Moleküle meiner Existenz in Ehrfurcht erstarren. Wie gebannt blicke ich auf die Projektionen meines Geistes, denn dies ist eine Macht Hades’, das Annehmen jener Gestalten, die einen unmittelbaren und zugleich den stärksten Einfluss auf die vortretenden Personen haben, sodass er, ohne ein Wort gesprochen zu haben, sich der vollen Aufmerksamkeit seines Gegenübers sicher sein kann. Vor mir stehe ich selbst, gute zwanzig Jahre jünger, und ich frage mich, welche bedingungslose Macht dieses Wesen wohl haben wird, doch zunächst beobachten wir uns beide adlergleich, während sich Persephone auf einem dahinfließenden Thron setzt, um dem Schauspiel beizuwohnen. Noch immer blickt mir Hades stechend in die Augen und ich habe langsam das Gefühl, dass ich ihn auf diese Art und Weise nicht besiegen werde, da er mit großer Gewissheit den stärkeren Charakter besitzen wird. Ohne den Blick von ihm abzuwenden, nehme ich meine Lyra von der Schulter und mache mich bereit, bei einem Angriff des Unterweltherrschers volle Gegenwehr zu leisten, als er sich von mir abwendet und ebenfalls auf den fließenden Thron setzt. »Sag mir«, beginnt er mit meiner Stimme, »was dein Begehr ist, da du dich als Mensch und nicht als Geist auf den unglaublich langen Weg gemacht hast, um mich und meine Gemahlin in der Unterwelt zu besuchen. Immerhin lässt deine wagemutige Reise den Gedanken zu, dass du zudem von mir verlangen wirst, dich unbeschadet abziehen und an die Oberfläche der Erde zurückkehren zu lassen.« Für einen kurzen Moment werden in mir zweifelnde Rufe laut, die mir andeuten, dass ich mir bisher keine Gedanken über den Grund gemacht habe, der mich die Abenteuer bestehen ließ, sodass ich vor den Herrn der Unterwelt trete, um ihm meinen innigsten Wunsch darzutun. Doch mit einer Urgewalt stürmen die Erinnerungen auf mich ein, die ich seit langem unterdrückt habe, und ich muss mich auf die Knie fallen lassen, da mich die Heftigkeit der zurückkehrenden Bilder meiner Vergangenheit erzittern lässt. – »Ich erinnere mich an eine Zeit vor gut zwanzig Jahren«, beginne ich mit einer Leidenschaft, die von außerhalb in meinen Geist und meine Stimmbänder einwirken muss, »als ich auf einer Reise in einen mir unbekannten Teil der Erde unterwegs war und bei der Anreise eine Frau kennenlernen durfte, deren Erinnerung mir seither stets schmerzhafte Wunden zugefügt hat, denn ich bin nicht ganz ohne Schuld an ihrem Dahinscheiden.« Wir landeten mit dem Flugzeug und verbrachten die gesamte Reise zusammen, ohne auch nur einen Tag voneinander Abstand zu haben. Es war, als wäre sie der Deckel, der meinen Topf hermetisch verschließen konnte, und wir gebaren gemeinsam eine Liebe, die unendlicher schien als alles, was wir für die Unendlichkeit erschaffen konnten. Die Tage vergingen im gemeinsamen Erleben, und ich erinnere mich noch daran, dass wir uns eines Morgens entschlossen, den Tag mit einer langen Wanderung an der Küste entlang zu gestalten, doch als wir am Strand angelangten, begann ein monsunartiger Regen. Sie fragte mich, ob wir zurückfahren sollten, um den schlammigen und gefährlichen Wegen zu entgehen, die sich am Strand und an der gesamten Küste auftaten, doch ich wollte das gemeinsame Abenteuer nicht ziehen lassen, sodass ich sie überredete, mit mir diese gefährlich werdende Wanderung zu unternehmen. Nach einigen schwierigen und gefährlichen Augenblicken kamen wir dann auch an eine offene Ebene, deren gräserner Untergrund in den dahinwehenden Sturmböen hin- und herwankte und auf die wir hinausliefen, in dem sicheren Glauben, die Schwierigkeiten dieser Wanderung bezwungen zu haben. Wir rannten wie Jugendliche, die sich zum ersten Mal verliebt hatten, und tanzten im Regen auf der Wiesenlandschaft umher, wir umarmten und küssten uns, dann wiederum drückte sie mich von sich fort und floh lachend meiner, bis ich sie erneut einholte, liebevoll zu Boden warf und mich mit ihr im schlammigen Untergrund wälzte, ohne jemals an die Gefahren zu denken, die selbst in diesen Gräsern lauern konnten. Lachend erhob sie sich ein letztes Mal, nachdem sie sich auf mich gerollt hatte, blickte mir tief in die Augen und just in diesem Moment des absoluten Glückes verzog sich ihre Miene und ihr Blick gefror zu Eis, sodass ich aus meinen Träumen gerissen wurde und mit Mühe und Not einen Zusammenbruch ihrerseits verhindern konnte. Langsam legte ich sie auf den matschigen Boden ab und schob unter ihren Kopf meinen Rucksack, als ich die Schlange sah, die sich nach der Abwehr auf und davon machte, um im hohen, wallenden Gras zu verschwinden. Obgleich ich um den Biss der Schlange wusste, suchte ich den Körper meiner Freundin ab und fand die Bissspuren an ihrer Ferse, an der das Gift Eintritt in ihren blutenden Kreislauf gefunden hatte. Kraftlos blickte sie mich aus aufgebenden Augen an, und mit einem kraftraubenden letzten Lächeln zitterte sie sich in meinen Armen in den Tod, sodass ich keine andere Wahl hatte, als meine Wut über unsere Unvorsicht entgegenzuschreien, so laut, dass selbst das Prasseln des monsunartigen Regens um mich herum verblasste. Ich sank neben ihr in eine leblose Ohnmacht, die mich in eine farbenfrohe Wunschwelt entführte, in der ich mich in einem bequemen Oberklassewagen wiederfand, den ich eine Alleenstraße hinabsteuerte, an unseren Nachbarn vorbei, direkt nach Hause. Als ich den Wagen in der Einfahrt parke, öffnet sich die Türe meines ansehnlichen und gutbürgerlichen Hauses und zuerst kommen meine beiden Hunde herausgestürmt, die mich schwanzwedelnd begrüßen, hintendrein meine drei Kinder, mit denen ich nacheinander ihre Begrüßungszeremonie genieße, ehe meine Frau als Oberhaupt unseres Familienbundes als krönender Abschluss meine Heimreise abschließt und mich in das gemeinsame Heim einlädt, dorthin, wo sich das Glück meines Lebens zentriert. Ich sage nicht nein und lasse mich von meiner Jüngsten ins Haus ziehen, wo sie mir ihre neuesten künstlerischen Zeichnungen präsentiert und ich sie glücklich in meine Arme nehme, ehe ich meinem Sohn zeige, wie er sein kaputtes Fahrrad reparieren kann, und meinem ältesten Kind bei Spielen der Trompete zuhöre. Nachdem ich mit allen meinen Kindern eine hinreißende Zeit verbracht habe, gehe ich zu meiner Frau, die bereits die Leinen in der Hand hält, sodass ich nur noch zugreifen muss, um mit meinen beiden Hunden einen schönen und ausgiebigen Spaziergang im Wald zu machen, von dem wir wiederkehrend bereits mit offenen Armen empfangen werden, denn der Abend bei Spiel und Gemeinsamkeit umschließt den Tag und fügt ihn zu den anderen glücklichen hinzu. Als ich jedes meiner Kinder ins Bett verabschiedet habe, genieße ich mit meiner Frau den ausklingenden Abend bei einer Flasche Wein, ehe wir zusammen den Weg in unser Kuschelnest antreten, in dem wir befriedigt von der Liebe des anderen dann auch einschlafen. Obwohl es eigentlich keinen Anlass zu plagenden Träumen geben sollte, kehrt mein Ich nach einigen schönen Momenten ins Schwarz des Alps ein und zerstört das angenehme Lebensgefühl des Tages, indem es mir zeigt, wie nacheinander ein um das andere Familienmitglied einer unsichtbaren Macht anheimfällt und von dieser bestialisch niedergemetzelt wird. In meinem Traum renne ich durch alle Räume meines Hauses und stets fällt der Blick auf eine Hinrichtung, die nicht nur die Körper meiner Lieben, sondern mein gesamtes Leben mit einem scharfen Messer in kleine Stücke hackt, sodass ich schlussendlich aufwache und im ersten Moment tief durchatme, in dem Glauben an einen bösen Alptraum, der meiner Realität nichts anhaben kann. Doch dann steigt ein seltsamer Geruch in meine Nase und ich wende mich zu meiner Frau, um sogleich voller Entsetzen aus meinem Bett zu springen, während mir jedoch der Schrei vor lauter Bangen im Halse stecken bleibt. Mein böser Traum ist zu meiner Wirklichkeit geworden, jene Erkenntnis, die ich soeben mit dem Befinden meines absoluten Glückes abwehren konnte, hat versagt und mich durchdringt ein Gefühl der Hilflosigkeit, bis ich beginne, in dem Raum nach den Spuren eines Täters zu suchen, doch eigentlich weiß ich bereits, dass ich diese unsichtbaren Täter niemals zu Gesicht bekommen werde. Indem die Erinnerungsfetzen an den Alptraum zurückkehren, erzittere ich erneut, renne aus dem Schlafzimmer und suche die Räume meiner Kinder auf, die allesamt in ihrem eigenen Blut daliegen und ihr Leben ausgehaucht haben. Als ich auch mein letztes Kind tot auf dem Boden liegen sehe, sinke ich auf die Knie und lasse meinen Tränen freien Lauf, denn mit einem bösen Traum wurde mein Glück nicht nur in Pech verwandelt, sondern jeder auch nur so kleine Splitter ist selbst zerstört worden, denn ohne allzu lange überlegen zu können, was ich als Nächstes machen werde, da meine Familie tot ist, bemerke ich, dass mein Haus brennt, und sehe lichterloh brennende Hunde heulend an mir vorbeilaufen, doch ich habe keine Kraft, ihnen hinterherzujagen, denn sie scheinen verloren, wie mein gesamtes Leben. Ich erhebe mich und laufe aus dem Haus, meine Gefühle haben auf Durchlassen geschaltet und nur ein dumpfes Pochen hält mich und meinen Geist am Leben, obgleich sich alle Lebensgeister aus meinem Körper verflüchtigt haben. Als ich auf der Wiese vor meinem Haus knie und über das brennende Dach in den Sternenhimmel sehe, erkenne ich schwammige Wesen, die über meinem Haus tanzen und mich in ihrem rhythmischen Totentanz höhnisch auslachen, sodass ich meinen letzten Mut zusammennehme und in die Flammen zurücklaufe, welche mich umfangen und meine Haut versengen. Mit dem letzten Blick vor meiner tödlichen Ohnmacht sehe ich noch, wie die Flammen auf die umliegende Gegend übergreifen und mich in dem Glauben zurücklassen, dass diese Realität mit meinem Tod ebenfalls niederbrennen wird, sodass alle Hoffnung in diesem Moment ein Ende findet. Schwarze Momente folgen, aber als ich merke, dass sich der Rauch verzogen hat, atme ich tief ein und rieche nasses Gras, das mich stutzig macht, da meine unmittelbaren Erinnerungen mir etwas anderes sagen sollten. Langsam öffne ich die Augen, doch die eindringenden Sonnenstrahlen verhindern ein weiteres Öffnen, sodass ich den Kopf zur Seite drehe und im nächsten Versuch innerlich derart erschrecke, dass selbst mein Herz für einen Moment mit dem Schlagen aussetzt, denn neben mir liegt meine tote Frau, die in meinem Traum zunächst wunderschön, danach elendig zugerichtet dargestellt gewesen ist. Ich berühre sie leicht an der Schulter, doch sie bewegt sich nicht, sondern lässt eine Totenstarre erkennen, und so langsam kehren die Ereignisse vor meinem Traum zurück, in denen meine Freundin von einer Schlange in den Tod gebissen wurde. Ich erhebe meinen Oberkörper, vergewissere mich meiner Erinnerungen und erneut steigt die Trauer in mir hoch, doch dieses Mal bleibe ich bei Sinnen, drehe sie auf den Rücken und versuche, die Leiche auf meinen Schultern an den Punkt zurückzutragen, an dem ich mich mit dem Fahrer unseres Wagens verabredet habe, doch nur mit allergrößter Mühe gelingt es mir, die Leiche ohne allzu große Schändung über Stock und Stein an den Ort zurückzubringen, an dem der Fahrer bereits wartet und mir entgegenläuft, doch auch ihm bleibt nur der endgültige Tod meiner Freundin festzustellen. Während der gesamten Rückfahrt sprechen wir kein Wort und auch im Krankenhaus sowie in der Botschaft fällt es mir nur sehr schwer, die Ereignisse in eine allgemein verständliche Sprache umzuwandeln. Verstört trete ich die Heimreise an und habe mir selbst versprochen, dass ich nie wieder eine Reise antreten werde, die irgendeiner meiner geliebten Menschen mit dem Tode bezahlen muss, sodass mir das Reisen in meiner Phantasie und deren literarische Umsetzung stets eine Abhilfe gegen die unweigerlichen Sehnsüchte nach fernen Gegenden waren. Auf der einzigen fernen Reise, die ich je in meinem Leben gemacht habe, starb meine Frau, mit der ich mein Leben verbringen wollte, und es geschah aus einem Fehler heraus, den ich in meinem Übermut gemacht habe. »Auf dem Grund meines Herzens«, sage ich abschließend zu den Herren der Unterwelt, »befindet sich der von mir verschuldete Tod meiner Freundin und aus diesem einen Grund bin ich in die Unterwelt gekommen: um meine Freundin, die unverschuldet und viel zu früh aus dem Leben scheiden musste, aus dem Tartarus zu befreien.« Ich blicke den Herrn der Unterwelt aus meiner knienden Position direkt in die Augen und hätte in diesem Moment mein Leben verwirkt, wenn nicht Persephone ihren Arm auf den des Hades gelegt hätte, der mich nun mit seinem unverwandelten Antlitz anschaut und ob des Einschreitens seiner Frau für einen Moment vergisst, welche Art der Vernichtung er mir zukommen lassen wollte, da ich es gewagt hatte, an ihn eine direkte Forderung zu stellen. Sogleich sehe ich die Gelegenheit und rufe in den riesig anmutenden Palasthallen nach meiner Freundin, die seit guten zwanzig Jahren in der Unterwelt sein musste, doch es vergehen bange Momente, ehe eine Gestalt aus einer der seitlichen Nischen erscheint, die humpelnd auf uns drei zukommt. Hades ist ebenso verwirrt wie ich, da bisher kein Mensch es gewagt hatte, in seinen heiligen Hallen eine Forderung an ihn auszusprechen, geschweige denn sich gegen die Regeln dieses Ortes zu verhalten, doch eben diese Verwirrung will ich nutzen, nehme meine Lyra vom Boden auf und zupfe sanft einige Saiten, die in ihrer Intensität nie etwas Größeres dargestellt haben als in diesem Moment. Äußerst zögerlich erkennt Hades seine Niederlage und weist mir mit einer Armbewegung, dass ich mit meiner Freundin diese Hallen verlassen könne, wenn ich nur mit dem Spielen dieser Musik aufhöre. Sogleich nehme ich meine Finger von den Saiten und sehe, wie Hades in seinem inneren Groll von dannen zieht, aber auch, wie sich die Trauer in den Augen Persephones sammelt, deren Liebesgrollen gegen ihren Gatten erwacht scheint und sich fragt, warum sie keinen habe, der sie für immer aus den Niederungen des Erdinnern befreit. Ich nehme meine Freundin an die Hand und wir verlassen den Palast, laufen über die Ebene und kommen ohne große Hindernisse an den Wasserfall zurück, an dem wir eine Treppe entdecken, die uns zu dem oberirdischen See zurückführt, von dem aus ich meine Reise in die Unterwelt begonnen hatte. Ohne Mühe umrunden wir den See und gelangen an die sandige Stelle, an der das Wasser meine Füße umspült hatte, und erst in diesem Moment traue ich mich das erste Mal auf der Flucht aus der Unterwelt, mich nach meiner Freundin umzudrehen und sie genauer zu betrachten, erkenne ihre makellose Schönheit und freue mich über ihre gelungene Errettung. Wir fallen uns in die Arme und genießen für eine kurze Zeit das Zurückholen einer längst vergessenen Zeit aus den Tiefen meiner Erinnerungen. Ich schließe meine Augen, fühle und genieße ihre Nähe, ihre Wärme und die Einzigartigkeit ihres lieblichen Duftes, fahre ihr durch die Haare, die vom Wind frühlingsleicht umspielt werden, doch ohne Vorankündigung habe ich auf einmal das Gefühl, dass dies alles nicht mit rechten Dingen zugeht. »Wo war das Aufbäumen des Hades und der Persephone, wo das Gebot der Unterweltherrscherin, mich bis zum Verlassen der Unterwelt nicht zu meiner Freundin umdrehen zu dürfen, warum fehlte der hinterlistige Angriff des Hades, der damit die Verletztheit seiner Frau rächt, wo waren diese ganzen Ereignisse, an die ich mich lebhaft erinnere und dann doch nicht?« Als ich meine Augen erneut öffne, sehe ich, wie sich meine Freundin zu einem Geistwesen verändert. Langsam, doch stetig verblasst ihre Erscheinung. Ich falle auf meine Knie und versuche, sie auf dem Boden zurückzuziehen, doch sie entgleitet meinen Händen und haucht mir kurz vor ihrem Verschwinden »Ich werde auf dich in der Unterwelt warten und wenn es eine Ewigkeit dauern wird« zu, doch dies kann kein Trost für meinen Schmerz sein. Sie löst sich im Nichts auf und lässt mich in meiner Trauer allein, doch das Zulassen der Unmöglichkeit einiger Ereignisse erzeugt in mir neue Gedanken, die mich an der Zuverlässigkeit dieser Realität zweifeln lassen, und ehe ich mich versehen kann, weiß ich unverrückbar, dass dies auf keinen Fall die Wirklichkeit sein kann.
Ich erwache und spüre den Sand um mich herum, der in der nachmittäglichen Sonne eine angenehme Temperatur bekommen hat, doch dieses Wohlgefühl wird sogleich von stechenden Kopfschmerzen abgelöst, unter denen ich mich zum Aufstehen und Anklopfen meiner Kleidung zwinge. Zunächst ein wenig orientierungs- und erinnerungslos suche ich nach dem Weg von diesem abgeschiedenen Strand zurück ins Leben, finde den Durchschlupf nach einigem Suchen und kämpfe mich ins Dickicht zurück, das mich schlussendlich zur Schranke und zu meinem geparkten Auto zurückbringt. Ich steige ein, kämpfe mit dem Gaspedal und der Kupplung, ehe ich rückwärtsfahrend eine Schneise erreiche, in der ich meinen Wagen drehen und nach Hause steuern kann. Sogleich nach dem Einbiegen in die Einfahrt meines Hauses spüre ich die Hektik, die von diesem Ort ausgeht, ich trete ein letztes Mal das Gaspedal durch, ehe ich lautstark zum Stehen komme. Mit einem Satz aus der offenen Tür stehe ich neben dem Auto und laufe, die Schlüssel aus meiner Hosentasche kramend, zur Haustüre, die jedoch unverschlossen ist, sodass ich ohne Zeitverlust reinstürme. Eine Etage über mir, dort, wo ungefähr unser gemeinsames Schlafzimmer liegt, entsteht eine rumpelnde Panik, sodass ich die ersten Treppen wie im Flug nehme, ehe ich auch die letzten hinanstürme, zu unserem Zimmer laufe, die Türe aufreiße und meine Frau nackt im Bett liegen sehe, doch ehe sie reagierend Entschuldigungen vortragen kann, springe ich durch die offene Balkontüre hinaus und sehe, wie ein Mann mit nacktem Oberkörper scheinbar vom Balkon auf die Garage gesprungen sein muss, denn er lässt sich soeben von dieser nach unten in den Garten ab. Ich laufe ins Schlafzimmer zurück, stoße meine Frau zur Seite, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen, stürme die Treppe hinab, suche dabei meinen Autoschlüssel, finde diesen in der Hosentasche, springe ins Auto und kann es kaum erwarten, den Mann zu jagen, der in meiner Abwesenheit nachweislich mit meiner Frau geschlafen hat. Mein Puls ist donnernd und belebt mein über den Nachmittag erlahmtes Ich, der Wagen schießt die Einfahrt entlang und aus dem Augenwinkel sehe ich durch die Stäbe unseres Zaunes, wie der Mann mit einem ebenfalls sportlichen Wagen von dannen zischt. »Du solltest auch Angst haben«, denke ich mir und freue mich kindisch über meinen Zorn, der zum Jagdfieber wird, »wenn ich dich in die Finger bekomme, wirst du schon sehen, was du von deiner forschen Art hast.« Ich breche beinahe jede Straßenregel, aber auch der Flüchtende ist kein Kind von Traurigkeit, und zum Glück für die angrenzend lebenden Menschen sind wir unverzüglich auf der großen Schnellstraße, wo ich ihn vor mir hertreibe, ohne ihm auch sonderlich näherzukommen, da der Verkehr ein noch riskanteres Fahrverhalten kaum zulässt. Ständiges Hupen der anderen Autofahrer treibt meinen Puls weiter in die Höhe und ich frage mich, ob ich den Mann dort vorne, in dem mir unbekannten Wagen, kenne oder ob er ein völlig Fremder ist. »Wo hat sie ihn wohl kennengelernt?«, frage ich mich, aber auch, warum dieser lieber sein Leben bei einem Unfall riskiert, als sich mir zu stellen und eventuell eine verpasst zu bekommen, aber just in dem Moment, als ich mich frage, ob diese Verfolgungsjagd die Sache wert ist, jetzt, nachdem ich sein Nummernschild und die Automarke habe, klingelt mein Autotelefon und als ich abhebe, höre ich die Stimme meiner Frau in der Leitung säuseln, sie faselt verstört von Verzeihen, ihrer Schuld und dass ich dem anderen Mann nichts tun solle, doch ich drücke sie aus der Leitung und setze die Verfolgung mit neuem Elan fort, muss erkennen, dass der andere ein gewagtes Manöver kurz vor einer Ausfahrt nutzt, um mich abzuhängen und es gelingt ihm, da mir ein langer Lastwagen die Möglichkeit zum Spurwechsel versperrt und ich auf der Straße bleiben muss, während sich mein Opfer über die Ausfahrt aus dem Staube machen kann. Ich schlage auf mein Lenkrad, doch nur mit halber Kraft, denn die Wut ist mit dieser aufregenden Verfolgungsjagd bereits zum großen Teil verraucht, und als ich die nächste Ausfahrt nehme, um über die Brücke auf die Gegenspur zurückzulenken, geht es mir wieder gut, ich drehe die Musik meines Radios lauter, und die Lieder mitsingend fahre ich beinahe glückerfüllt nach Hause. Dort angekommen bemerke ich, dass sie noch zu Hause ist, doch beim Eintreten ins Haus ignoriere ich sie und es bringt mir eine innere Genugtuung, sie derart links liegen zu lassen, dass sie wütend und erbost, aber auch um ihren Fehltritt wissend, die Treppe theatralisch hinaufstapft und die Schlafzimmertüre mit dem größtmöglichen Effekt zuwirft. Lächelnd gehe ich in die Küche, trinke und esse ein wenig, warte auf ihre Rückkehr, doch sie scheint sich lieber im Schlafzimmer einzuschließen, nehme nach der Mahlzeit meine Tasche und verlasse das Haus in Richtung Stadt. »Dies wäre kein schlechter Abend, um sich einmal so richtig abzuschießen«, denke ich, und der Gedanke gefällt mir, sodass ich erneut das Gaspedal weit durchtrete, in die Stadt rase und den Wagen in einem innerstädtischen Parkhaus abstelle, mit dem Wissen, dass ich diesen heute nicht mehr brauchen werde. Langsam und mit dem Genuss der Vorfreude auf diesen Abend verlasse ich das Parkhaus, suche mir ein nettes Geschäft und kaufe mir einen überteuerten Seidenschal, werfe diesen mir um und gehe flanierend in der Innenstadt umher und freue mich jedes Mal, wenn das Augenpaar einer aufreizenden Schönheit meinen Bewegungen folgt. Ich gefalle mir in der Rolle des Spielers, dessen einzige Existenznöte die Schönheit der Begleitung und der Glanz des zu verbringenden Abends zu sein scheinen, und äußerst zügig haben dies auch die anwesenden Frauen erkannt, die ich ohne Mühe und Not zu einem gemeinsamen Tête-à-Tête einladen kann. Mit drei Frauen zur gleichen Zeit sitze ich an einem Ecktisch in einer schicken Bar und lasse uns die teuersten Bestellungen an den Tisch bringen, in dem sicheren Wissen, nur auf diese Art und Weise genug Eindruck auf die Frauen machen zu können, die sich nur Männern mit genügend Geld für die Nacht anvertrauen. Langsam, aber beständig steigt mein Benebelungszustand, und indem die beisitzenden Frauen die Getränke eher nippend als gießend zu sich nehmen, habe ich bald einen deutlichen Berauschtheitsvorsprung, der mich bezahlen und uns aus der Bar verschwinden lässt. Wir gehen in den Straßen umher und schauen hier und dorthin, meine Hauptangelegenheit ist es, mit den drei Schönheiten gesehen zu werden, doch sie haben eine andere Marschrichtung abgesprochen und zerren mich Willenlosen und ihnen Ausgelieferten in ein nahes Luxushotel, in dem sie ein Zimmer gemietet haben müssen, denn sie brauchen weder eins anzumieten, noch einen Schlüssel zu holen, sondern wir steigen amüsiert und gegen meine sonstige Ernsthaftigkeit forsch und ohne Hemmungen gemeinsam in den Aufzug und fahren in die Höhe. Als ich mit den dreien aussteige und wir in ein angrenzendes Zimmer gehen, merke ich sogleich, welche drei Damen ich mir in dieser Bar geangelt habe, doch an diesem Tag ist mir alles gleich, ich lasse meine über das Leben gesammelten und streng praktizierten Prinzipien fallen und genieße die anmutigen Bewegungen meiner Begleiterinnen, die es verstehen, sich stets zu zweit um mich zu kümmern, während die dritte im Nebenraum verschwindet. Als alle drei nacheinander für einen kurzen Moment verschwunden waren, komme ich an die Reihe. Zwei nehmen mich am Arm und führen meinen wehrlosen Körper ebenfalls in den Nebenraum, wo ich mich auf einen Stuhl setze und dem Kommenden harre. »Du wirst dich gleich auf eine Reise begeben, deren Anfang und Ende du niemals ermessen wirst, die aber zu durchschreiten dein Ein und Alles sein wird«, sagt die eine geheimnisvoll und mich durchfährt jenes aufregende Gefühl des Neuen, das unmittelbar vor einem steht und dessen Beginn man kaum abwarten kann. – »Du wirst dich aus dieser Realität verabschieden und in eine vollkommen andere eintauchen, die aber, obgleich sie nicht die wahre Wirklichkeit ist, dennoch näher an deiner Realität ist als jene, die du verlässt«, haucht mir die zweite ins Ohr und es rieselt mir intensiv den Rücken hinunter. – »Wenn du von deiner Reise zurückkehrst, bist du ein anderer Mensch als jener, der du warst, als du dich in unsere Hände gegeben hast«, wispert die dritte, doch ihre Worte klingen wie Musik hinter meinem Schädel, »du musst uns dreien vollkommen vertrauen, sonst wirst du niemals auf die Reise gehen können, denn ohne Vertrauen wirst du nur Kopfschmerzen, elende Kopfschmerzen bekommen.« Stammelnd bejahe ich, dass ich den dreien endlos vertraue, und bereits mit dem Eintreten der Frauen in mein Leben wusste ich darum, dass meine Schwelle diese Nacht derart gering sein würde, um auch nur jeden möglichen Reiz der nächtlichen Aktivitäten zu erfahren. Eine der drei Frauen greift in irgendeine Tasche und nimmt eine harmlos aussehende Pille heraus, die sie ohne ein weiteres Wort auf den Tisch vor mir legt. Zunächst fixiere ich alle drei Damen und denke mir, dass es nicht gut sei, wildfremden Menschen derart zu vertrauen, eine Pille zu nehmen, deren Wirkung nicht bekannt, geschweige denn vorhersehbar ist. Alle drei nicken und weisen mit ihrem Kinn auf die Pille, sodass ich diese fixiere und erstaunt bin, als diese sich urplötzlich zweiteilt und verdoppelt vor mir liegt, doch damit nicht genug, sogleich teilt sie sich erneut, die beiden werden zu vier Pillen, welche wiederum zu acht und zu sechzehn Pillen anwachsen, die in einem Vier-mal-vier-Karree sorgfältig vor mir ausgebreitet liegen. Ich verliere die Geduld, vor allem bei der Betrachtung der perfekten Ausrichtung der Pillen, aber auch wegen der Angst, dass sie sich weiter vervielfachen und ich umso mehr schlucken muss. Ohne dass ich die Bewegung erahnt hätte, stellt eine der drei Frauen mir ein Glas neben die sechzehn Pillen, die ich mit einem Rundumschlag meines Unterarms in die andere Hand wische, die als Schale dient, und führe diese heftigst an meinen Mund, sodass alle Pillen in meinen Mundraum springen und mit einem kräftigen Schluck Wasser den Weg in meinen Organismus finden. Zunächst geschieht nichts Außerordentliches, natürlich nicht, da die Substanzen erst im Darm diffundieren müssen, ehe das Blut diese in den Teil des Gehirns transportiert, wo sie mit den anderen chemischen Substanzen reagieren und mich in das Land der Phantasmagorien schleudern. Ohne Widerstand zu leisten, lasse ich mich von den drei Frauen ins wohnliche Zimmer zurückführen, wo sie mich auf das Sofa setzen, selbst ein wenig von mir zurücktreten und mit einem indischen Schlangentanz beginnen, wobei ich ab und an das Gefühl habe, dass sie untereinander die Form verlieren und zu einer Person mit sechs Armen und sechs Beinen werden, die mich umso intensiver erregt, als dass sie mit drei Köpfen gleichzeitig meinen umgarnt, um mir gleichzeitig in die Lippen und in beide Ohrläppchen zu beißen. Der Schlangentanz wird immer intensiver und langsam verliere ich den Kontakt zu meiner Umgebung, die Wand im Hintergrund verschwindet und wird zu einem unendlich erscheinenden und in der Abendsonne daliegenden Ozean, während das Sofa, auf dem ich sitze, verschwindet und zu einem luftigen Kissen wird; schwebend genieße ich die neuerlich begonnenen Wasserspiele der drei Nixen und frage schon lange nicht mehr nach dem Warum. Doch mit dem Untergang der Sonne verzerrt sich mein Zeiterleben, und ich werde nach vorne gerissen. Das volle Gewicht, das ich jetzt erneut verspüre, liegt jetzt auf meinem Vorderkopf, sodass ich die Augen schließen muss und sie erst wieder zu öffnen vermag, als ich in der Zeitverzerrung anhalte und erneut festen Boden unter meinen wackeligen Füßen verspüre.
Ich öffne meine Augen und befinde mich in einer anderen Umgebung als jener, die ich vor meiner Reise verlassen habe; diese Umgebung ist sogar so anders, dass ich mir kaum vorstellen kann, diese Welt sei Teil meiner Welt, die ich verließ, doch da überall Menschen in erstaunlich einfachen Gewändern herumlaufen, muss ich annehmen, dass ich mich noch auf dem Planeten Erde befinde. Doch zu welcher Zeit und in welchem Mikrokosmos des Lebens, das bleibt mir zuerst verwehrt, aber alsbald erkenne ich einige Schriftzeichen, die ich mit Mühe und Not für mich übersetzen kann, und stelle fest, dass ich in einem Spiel gelandet bin, einem Spiel für glasige Perlen, also für Glasperlen. »Doch wo findet das Spiel statt?«, frage ich mich, als ich die in wechselnden Gruppen herumstehenden Menschen überblicke, die sich mit gedämpfter, aber sicherer Stimmlage über Erkenntnisse unterhalten, deren Inhalt mir mehr als verworren erscheint. Im Hintergrund spielt eine kleine Gruppe von Jugendlichen die reinsten Klänge, die jemals zu meinem Ohr gedrungen sind, sie interpretieren die barocken Meister in einer Klarheit, als ob sie selbst und alle zusammen den Komponisten bilden würden, und ich wage mich vorwärts, auf eine Gruppe zu, die sich nicht um meine Anwesenheit und mein Andersaussehen zu kümmern scheint, doch als ich an mir herunterblicke, erkenne ich die Verwandlung. »Daher kommt es«, denke ich mir, »dass sie mich nicht als einen Außenstehenden erkennen, denn ich scheine einer von ihnen zu sein, zumindest trage ich dies nach außen vor.« Bereitwillig nehmen mich die drei Herren in ihre Mitte auf und ich nicke allen dreien zu, die mich jedoch verstört anblicken und zunächst ihre Besprechung fortsetzen, ehe sie mir die Gelegenheit geben, mich vorzustellen. Da ich keine Ahnung habe, was ich sagen soll, nehme ich einfach meinen Namen und sage zugleich, woher ich stamme, und erkenne, welche großen Augen die drei machen, als sie meinen Herkunftsort erfahren. »Ich wusste bisher gar nicht«, beginnt der eine unverblümt, »dass wir an diesem Ort ebenfalls eine Abteilung haben, aber ich bin gespannt zu erfahren, wie man sich dort die weiteren Schritte vorstellt, die wir zu gehen gezwungen sind.« Im ersten Moment zucke ich unmerklich zusammen, denn ich habe weder eine Ahnung von dem Orden, in dem ich gelandet bin, noch von den anstehenden Veränderungen, die nötig sein sollen; zu meinem Glück übernimmt derjenige, der bisher stets geschwiegen und zugehört hat, das Wort und sagt in einem derart überzeugenden Ton, dass ich ihm alles geglaubt hätte: »Es gibt nach den vielen Jahren der absoluten Wissenschaft einige Stellen, an denen wir vergessen haben, uns weiterzubilden, sodass diese Schlupflöcher zu großen, klaffenden Wunden in unserem geistigen Universum wurden und jetzt mit aller Macht zurückschlagen! Ich hatte auch gedacht, all unsere Werkstätten zu kennen, doch mitunter unterläuft uns allen einmal ein gravierender Fehler, doch die wahre Stärke des menschlichen Geistes liegt im Umgang mit dieser Veränderung.« – Nun fällt auch der dritte ins Wort und fragt: »Wie stehen Sie zu den Veränderungen, die aus der Sicht eines Nichtkatalanen gewiss objektiver sein können, als wenn man das Leben im Gesamten oder seit langem in einer Ordensstelle verbringt? Was ist die Essenz ihrer Gedanken, wenn sie an das Glasperlenspiel oder an die Organisationsstruktur des Ordens denken, daran, wie wir die jungen Menschen vom allwissenden Geist der Wissenschaften überzeugen und an den Orden heranführen können?« Während die beiden seitlich stehenden Herren gespannt auf meine Worte warten, durchdringt mich der mittlere, der scheinbar ein wichtiger Mann sein muss, mit seinem Blick, der aber keinesfalls bohrend-nachforschend, sondern allenfalls gütig-tolerant mich auffordert, meine Meinung kundzutun. Auf die Schnelle will mir nichts einfallen, was ich zu dem Ganzen, das ich nicht kenne, sagen soll, und ich bleibe bei meiner Suche nach einem geeigneten Punkt stets bei dem Gedanken hängen, der mich seit Anbeginn meines Aufenthaltes beschäftigt: »Wo liegt der tiefere Sinn, ein Spiel das Glasperlenspiel zu nennen, wenn diesem Treiben das Naive, das Kindliche, das Einfache fehlt: das Spiel mit den gläsernen Kugeln?« Vielfältige Reaktionen kann ich mir in diesem Moment ausmalen, doch jene, die folgt, ist mir derart unbegreiflich, denn mit dem Aussprechen dieser Frage horchen alle Umstehenden mitten im Gespräch auf und gesellen sich um uns, sodass wir alsbald in der Mitte eines riesigen Ordnungsraums stehen, dessen geistvolle Stille nicht nur mir, sondern womöglich allen Angst macht. Das Treiben, das niemals voll ausgeprägt schien, hat mit der mir naheliegendsten Frage ein Ende gefunden, sodass ich mir die Frage stelle, wie lange es derartige Versammlungen bereits geben muss, in denen nicht mehr über die wesentlichen Dinge des Zusammenkommens gesprochen wird, sondern allein die abstrakten Angelegenheiten im Vordergrund stehen. Ich schließe die Augen, atme die verbrauchte Luft der vielen Münder um mich herum ein, doch bevor ich meinen Satz weiter auszuführen vermag, verliere ich erneut den Kontakt zur Welt, mein Gewicht wird nach vorne gerissen und ich wage es kaum, auch nur eine ungewollte Bewegung zu machen, ehe ich keinen festen Boden mehr unter den Füßen habe.
»Sie sehen erregt aus«, dringt eine neue Stimme an mein Ohr. Ich öffne meine Augen und merke erst jetzt, dass ich in eine Wolldecke eingepackt auf einem Balkon inmitten einer winterlichen Berglandschaft sitze, mir gegenüber ein junger Mensch, dessen Lesestunde ich unterbrochen haben muss, denn sein aufgeklapptes Buch liegt auf seinem Bauch, während er mich mit neugierigen Augen anblickt. »Sie haben bestimmt Temperatur«, fährt er mit seiner Rede fort, »sie sollten sie schleunigst mal messen, haben sie denn eines, ich meine, besitzen sie ein Thermometer, um sich die Temperatur zu messen?« Unfähig, dem allzu forschen Blick und der überrumpelten Rede etwas entgegenzustellen, schüttele ich den Kopf und mein Gegenüber schält sich aus seiner Deckenumklammerung, sagt, dass er gleich wieder da sein, nimmt einige Geldmünzen aus einer Schublade und verschwindet aus dem Zimmer. Erstaunt blicke ich mich um und erkenne, dass dies wohl ein Kurort in den Bergen sein muss, dessen magisch anmutende Kraft in meine Lungen und meinen Geist dringt, und obwohl mein Gesicht und meine Hände leicht frieren, ist die Decke, die mich umwickelt, derart angenehm, dass ich keinerlei Kälte verspüre, mich aber auch kaum nach rechts und links wenden kann. Aus der Ferne dringt leichte und köstliche Musik an meine Ohren, die der luftigen Umgebung ein wärmendes Gefühl gibt, sodass das Warten auf die Rückkehr meines Gegenübers auszuhalten ist. Als dieser in den Raum zurücktritt, hält er triumphierend ein Thermometer in die Höhe und bekennt, dass er, entgegen den Vorschriften, der Hauptkrankenschwester eins abgekauft habe, nicht ohne ein Lächeln auf ihre schelmischen Lippen zu zaubern, und nun solle ich es austesten, um die Blutwärme zu untersuchen. Ich nehme das Gerät an mich und bekenne, dass ich mich erst nachher messen möchte, da ich im Moment nicht gerade schlecht hier liegen würde, und frage, ob er sich nicht zurück auf seinen Liegestuhl wickeln wolle, damit wir ein wenig plaudern können. »Gern«, gibt mir mein Gegenüber zurück, »wie Sie wünschen, es ist ja Ihr Blut, das vielleicht kocht, obgleich sie es an dieser frischen Luft kaum zu spüren vermögen«, und wickelt sich mit einer erstaunlichen Technik, die bestimmt auch bei mir angewandt worden ist, in die Decke. Im Vorbeigehen muss er zwei Zigarren mitgenommen haben, doch da ich mich als Nichtraucher zu erkennen gebe, ist er so frei und zündet sich eine an, mit einer Sorgfalt, dass ich um den Genuss seinerseits sicher sein kann. – »Was ist«, beginne ich, nachdem das Schauspiel um die Zigarre ein Ende gefunden hat, »der Grund für das eingewickelte Liegen auf diesem Balkon, da es draußen klirrend kalt ist und einem die Ohren und die Nase frieren?« – »Genau kann ich Ihnen das nicht sagen«, gibt mir mein Gegenüber zurück, »und ehrlich gesagt habe ich auch erst vor kurzem damit begonnen, mir darüber Gedanken zu machen, aber ich kann nur behaupten, was ich selbst verspürt habe. Da wir bei jedem Wetter hier draußen liegen, ist es so etwas wie die Isolation des Geistes und des Körpers von der Gemeinschaftlichkeit, die wir hier oben ansonsten zusammen pflegen; wenn ich mich in meine Decke einwickle und mit meiner gesamten Existenz den Rückzug in die Einsamkeit antrete, dann falle ich mit mir selbst vor einigen Stunden zusammen und es gelingt mir, die Veränderung zu erkennen, die den menschlichen Geist zu immer neuen Erforschungen und Tatsachenerkenntnissen reizt! Verstehen Sie, es geht nicht so sehr um das Liegen, sondern vielmehr um die Erkenntnis, dass es nur eine Bildung gibt und jene bedingt beides: das Zusammensein in einer großen Menschengruppe, in der alle Wissenschaften, ob nun der reinen oder der sozialen, in Diskussionen erörtert werden, und das für sich alleine sein. In diesem Abschnitt liegt der besondere Reiz darin, sich darüber klar zu werden, was die neuen Erfahrungen für die Einordnung in das gesamte System der philosophischen Wissenschaft bedeuten; man stellt sich bildlich gesprochen auf die Spitze des Eisberges aller Wissenschaften und vermisst mit seinen subjektiven Gefühlen, wie viel möglicherweise noch unter der Oberfläche versteckt sein muss.« – »Und diese Erkenntnis nimmt man dann mit sich und trägt sie erneut unter die Menschen, um den Diskurs und den Disput in Gang zu halten, sodass letzten Endes eine Bildungskette entsteht, deren einzelne Glieder fest und unverrückbar ineinander greifen?«, frage ich, obwohl ich um die Wahrheit meiner Worte bereits weiß, doch zugleich ist ja die Grundbedingung jeder Wahrheits- und Wissenschaftsforschung die Unterredung mit anderen Suchenden, und ich bemerke, wie mein Gegenüber leicht nickt, fast ganz in seine Gedanken versunken. »Sie haben wahrscheinlich recht«, sage ich und fühle meine glühende Stirn, »ich sollte besser meine Temperatur messen, da mir augenblicklich ein wenig schwindelig wird«, stehe auf und versuche, mich aus der Decke zu wickeln, doch ehe mir dies gelingt, ist mein Gegenüber aufgesprungen und hält mir das Thermometer direkt vor den Mund, sodass ich es nur noch unter die Zunge zu nehmen brauche. »Danke«, stoße ich beschwert hervor, doch er wiegelt ab und sagt, dass ich die nächsten sieben Minuten absolutes Schweigen einhalten müsse, während er den Zeiger seiner Taschenuhr im Auge behält. Es vergehen bange Minuten, in denen sich der Brand in meinem Körper weiter ausbreitet, sodass es mir kaum gelingt, die Messzahl nach der abgelaufenen Zeit abzulesen, doch da diese über die kritische Marke von vierzig Grad gesprungen ist, springt mein Gegenüber alarmierend auf und möchte vermutlich Hilfe holen, doch meine Besinnung schwindet, ich schließe die Augen und verspüre erneut das Ziehen der Zeit, das meinen Körper gefangen nimmt.
Ich öffne erst wieder die Augen, als der Brand in meinem Körper gelöscht scheint, und ich mir sicher sein kann, dass ich nicht mehr in diesem eingewickelten und völlig hilflosen Zustand auf dem Balkon des Kurhotels in den Bergen sitze. Mutlos möchte ich niedersinken, als ich erkenne, dass ich mich an einer Reling eines schwankenden Schiffes befinde, das auf eine Insel zusteuert, die sich inmitten der stürmenden See gegen die Wellen wehrt, eine Insel, deren Küste mit großen und ehernen Türmen und Zinnen bebaut ist und deren Hafen im Hintergrund von glänzenden Kuppeln beschmückt wird. Neben mir sehe ich Männer, die in dicken Pelzmänteln der Kälte trotzen und dem Schiff die letzten Wendungen mit auf den Weg geben, damit es sicher und ohne Probleme in den Hafen einlaufen kann, wo uns bereits eine große Menschenmenge empfängt, ganz so, als ob wir wichtige und hochstehende Persönlichkeiten sind, doch allesamt sind wir einfache Händler, die sich bei jedem Wetter auf die Meere trauen, um die Waren an den verschiedensten Orten feilzubieten. Ich höre, wie die staunenden Männer neben mir leise davon flüstern, dass bei der letzten Vorbeifahrt auf dieser Insel nicht mehr als eine alte, knorrige Eiche gestanden hätte, doch innerhalb eines halben Jahres sei diese prachtvolle und atemberaubende Stadt entstanden, als ob sie einfach aus dem stürmenden Meere aufgetaucht oder herbeigezaubert worden wäre. Gebannt blicke ich über die angesammelten Sehenswürdigkeiten und lasse mich gerne mit meinen Kameraden von den Menschen zum Palast des Zaren führen, den alle Gwidon rufen. Dabei laufen wir die Straßen mit den schönsten und anmutigsten Gebäuden ab, die ich jemals in diesen Gefilden zu sehen bekam, und ich freue mich bereits auf die Herrlichkeit des Zarenpalastes, aber auf dem Weg dorthin geschieht beinahe jeden Augenblick etwas Wunderbares, denn unter einem hohen Tannenbaum, der zu jeder Jahreszeit frei von Verfall scheint, sitzt ein Eichhörnchen, das im Takt eines Liedes Nüsse knackt, jedoch keine gewöhnlichen, sondern solche, deren Schale aus Gold ist und der Kern im Innern ein smaragdener Edelstein ist. Natürlich ist dieses kleine Eichhörnchen das Heiligste, das der Zar zu bewachen hat, daher schreibt eine ganze Schar von Schreibern nieder, wie viele Nüsse und in welcher Anzahl das Getier die Reichtümer im Innern ansammelt. Zudem werden alle Beteiligten streng von den besten Männern des Zaren bewacht, sodass sich niemand traut, auch nur den Gedanken an einen Raub zu haben. Schulterzuckend über einen derart übermäßigen Reichtum ziehen wir weiter und staunen über weitere Wunder, deren Erwähnung kaum der Rede wert scheint, bis wir auf dem Vorplatz des über allem thronenden Palastes stehen, der sich selbst hinter einer starken Mauer versteckt und auf das anbrausende, stürmische Meer hinabschaut, dessen Wellen sich schäumend nach oben wälzen und auf den öde daliegenden Strand vor der Stadt niederbrechen. Just in dem Moment, als ich meine Augen von diesem betörenden Schauspiel abwenden will, sehe ich aus den zusammenfallenden Wassermassen eine Armee von dreiunddreißig Rittern aus den Fluten ans Land springen, riesenhafte Jünglinge, die mit ihren stählernen Rüstungen und Waffen jede Armee eingeschüchtert hätten; sie umrunden, angeführt von dem gewaltigen und mutigen Tschernornor, die Stadtmauer, befinden, dass alles seiner Ordnung entspricht, und verschwinden zurück ins Meer, dorthin, woher sie aus den Wellen entstanden sind. Dieses Schauspiel zeigt mir nach der herben Schönheit der Landschaft und dem unendlichen Reichtum dieser Stadt die ungeheure Macht des Zaren und lässt mich tief beeindruckt und auch ein bisschen eingeschüchtert in den inneren Palast eintreten, wo wir bereits vom Zaren erwartet werden, der uns an seinen festlich gedeckten Tisch bittet. Im ersten Moment genießen wir die herzliche Wärme des Zaren, doch weder seine unermesslichen Schätze noch seine großzügige und gastfreundliche Lebensart hätten uns auf die Begegnung mit der Zarin vorbereiten können, die das Ebenbild eines Sterns sein muss, so sehr glänzt ihr Wesen. Sprachlos und überwältigt von den Eindrücken nehme ich an einem Tische Platz und suche mir das beste Essen zusammen, das ich je genossen habe, doch mit einem Mal stellt sich ein seltsames Gefühl in meinem Bauche ein, das scheinbar von meinem Kopfe ausgehen muss, denn mit dem Erklimmen der größtmöglichen Schönheit und des unendlichen Reichtums beginnt mich das Leben anzuöden, das Berauschen an dem Absoluten ist zugleich das Eingestehen, dass es niemals wieder einen derartigen Höhepunkt gibt und mitsamt meinen Fragen schließe ich meine Augen und rieche, dass sie die Welt außerhalb verändert haben muss, denn es riecht nicht nach Wein und Gebratenem, sondern nach einem frühlingshaften und sonnenverwöhnten Garten, der die ersten betörend duftenden Blüten austreibt.
Ich sitze auf einem Gartenstuhl mit breiter Lehne, es fühlt sich wie Holz an, was unter meinen Fingern entlanggleitet, als eine freundliche, dennoch bestimmte Stimme sich mir entgegenrichtet und mich direkt anspricht. »Sind sie derselben Meinung«, tönt es an mein Ohr, »dass es an der Zeit ist, die Weltliteratur in den Rang einer Universalität zu erheben, indem man aus jeglicher Nationalliteratur das Musterhafte, das die Griechen in einer nie mehr dagewesenen Reinkultur zelebrierten, extrahiert, sodass ein Substrat der besten und schönsten Gedanken entsteht, das dem ästhetischen Menschen dazu dienen kann, als Literat in die Gesellschaft zu wirken, um mit ihr eine befruchtende Wechselwirkung zu erreichen?« Geschockt von dem Erkennen, dass ich in diesem Garten Goethe und Eckermann gegenübersitze, gelingt es mir kaum, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen, sodass ich erst dem einen, dann dem anderen verblüfft ins Gesicht schaue. – »Demnach wollen Sie gar nicht die Nationalliteraturen abschaffen«, beginnt Eckermann und hilft mir damit, mich ein wenig zu sammeln, »um eine höhere Instanz zu erschaffen, sondern ein sich Auflösen und ein Ineinanderübergehen, als ob der eine Zustand grenzenlos wird und im anderen verschwindet?« Nun ist es an Goethe, für einen kurzen Moment sinnenderweise seinen Blick auf Eckermann ruhen zu lassen, ehe er sich zu einer Erwiderung entschließt, die von mir mit Spannung erwartet wird. – »Sehen Sie, Shakespeare, die Römer, die Griechen, ja, alle Literatoren von Rang haben doch ihre gemeinsame Wurzel in der Verwendung von Sprache und dem darin liegenden Transport von Werten, Ansichten und Weisheiten, sodass letzten Endes alles in einer Literatur, der Weltliteratur, zusammenfällt, die offen ist für jegliche Eigenart, die die Menschen ihr Eigen nennen können. Denn wie es auch immer um die Staaten stehen wird, wie sich die Welt auch in der Zukunft entwickeln wird, eines bleibt doch stets dasselbe: Jeder auf der Erde lebende Mensch ist Teil der universellen Menschheit, unabhängig von Nationalität, Sprache, Ansichten und Glaubensfragen, und daher ist es Aufgabe der Literatur, die keine Grenzen im Geist kennt, zu einer Verständigung der Menschheit beizutragen, von der sie sich leider jedoch momentan sehr weit entfernt sieht. Nehmen Sie zum Beispiel meinen Faust: Dort sind für Mephistopheles und Faust keine Grenzen im Denken und Wirken gesetzt, sodass eine Säkularisierung des Geistes nicht stattfinden kann.« Mit dem Verhallen seiner Worte schaut Goethe in die Ferne und ist mit seinen Worten zufrieden, allein Eckermann und ich sind wortlos und fragen uns, was wir darauf antworten sollen. »Ich glaube«, beginnt Goethe erneut, »wir sollten eine kleine Reise machen, damit das Ganze der verschwimmenden Grenzen ein wenig verständlicher ist. Schließen Sie die Augen und stellen Sie sich vor, es gäbe keine Grenzhaftigkeit, sondern lassen Sie es zu, dass sich der Geist dorthin bewegt, wohin er möchte, und legen Sie ihm keine Steine in den Weg, die allein aufgrund irgendwelcher gesellschaftlicher Konventionen existieren, und sie werden erkennen, was wahrhaftige Freiheit bedeutet.« Ich schließe langsam die Augen und spüre ein selten verspürtes Wohlgefühl, das sich in meinem Körper ausbreitet, doch sogleich potenziert sich dieses Gefühl ins Unermessliche des gemeinsamen, wilden Tanzes, den ich unter vielen Hexen um ein Feuer auf dem Brocken vollziehe, mit den Armen hin- und herschwinge und nicht selten irgendwelche Essenzen in die Flammen werfe, die in einem lauten und rauchigen Getöse verpuffen. Wir laufen uns in Ekstase und steigern im rhythmischen Lauf immer weiter unsere Manie, bis ich im Augenwinkel die beiden Beobachter wahrnehme, die seit geraumer Zeit an der Seite des Feuers stehen müssen, und beim nächsten Umdrehen erkenne ich Mephistopheles und Faust, jedoch leidlich anders als gewöhnlich, nämlich tragen beide andere Köpfe als die allgemein imaginierten. Mephistopheles ist dem jüngeren Goethe sehr ähnlich und bei genauerer Betrachtung erkennt man sogar dasselbe Blitzen in den Augen, wenn unser Tanz an Intensität gewinnt, und Faust, mit dem Gesicht Eckermanns, scheint dagegen eher abweisend zu sein, je gefühlsausgelassener wir Hexen tanzen. In meinem Herzen, das die Wildheit kaum noch zu bändigen weiß, beginnt ein Kampf auf Leben und Tod, und obwohl ich Faust in meinem Leben liebgewonnen habe, obsiegt das Vernichtende, sodass ich bei einem der Umläufe aus der Gruppe ausschere und auf Faust zufliege, um mir sein Leben zu nehmen, doch Mephistopheles stellt sich dazwischen und ich pralle an ihm ab. Mit dem Zubodenstürzen und dem Aufwachen aus meinem bacchantisch-dämonischen Taumel erkenne ich die Riesenhaftigkeit meines Gegenübers und weiche mit leichter Hast zurück. »Jetzt noch nicht«, dröhnt es aus der Erscheinung des Mephistopheles, »Faust braucht noch eine Weile, ehe er sich und sein Leben vollkommen aufgegeben hat, sodass er bereit ist, sich mir zu überantworten. Geh und flieg hinfort«, sagt er zu mir und zeigt auf den Mond, »flieg zum Mond, bis dich deine Kraft verlässt, um im Niederfallen zu erfahren, was Losgebundenheit von der Welt bedeutet!« Ohne einen Gedanken an die Wertigkeit seiner Aufforderung zu verschwenden, nehme ich meinen Hexenbesen und bin keineswegs erstaunt, als ich mich mit ihm in die Lüfte erheben kann, drehe mich Richtung Mond und fliege geschlossenen Auges in eine Freiheit, die ich zuvor im Garten Goethes ebenfalls verspürt habe.
»Devenere locos laetos et amoena vireta fortunatorum nemorum, sedesque beatas; largior hic campos aether et lumine vestit purpureo, schrieb dereinst Virgil”, tönt eine jugendliche Stimme an mein Ohr, und als ich die Augen öffne, befinde ich mich in einer völlig andersartigen Welt, von der ich weder den Geruch noch die Szenerie zu bestimmen vermag. Vor mir sitzt eine kleine Gruppe Forscher, die von einer großen Ansammlung wuseliger Indios umringt wird, die allesamt nackt oder nur mit einem kleinen Lendenschurz durch die Lande ziehen, und ohne sonderlich darüber nachgedacht zu haben, fällt mir sogleich nur ein möglicher Ort ein, an dem ich mich befinden kann: Das sagenumwobene O-Tahiti inmitten des riesigen Weltmeeres, das den Namen Pazifik trägt und sich auf der entgegengesetzten Seite von Europa befindet, von dem ich wie im Fluge hierher gereist bin. »So, jetzt müssen wir aber weiter, sonst schaffen wir es heute nicht mehr auf den Berg, auf dem wir Untersuchungen über die Beschaffenheit der Insel anstellen wollten«, sagt der ältere der beiden scheinbaren Anführer der Gruppe, »Georg, achte darauf, dass die Eingeborenen sorgsam mit unserem Gepäck umgehen, auch wenn wir selbst die wichtigsten Gerätschaften tragen.« Mit einem wohlmeinenden, aber auch mit einem rebellischen Augenaufschlag entgegnet Georg, dass er darauf achten werde, und befindet sich sogleich am Ende der Gruppe, damit auch ja niemand entwischt. Ich geselle mich zu ihm und blicke Georg von der Seite an, sehe, wie seine jugendlichen Backen von der Anstrengung apfelrot werden und wie er mit jedem Blick, den er in die Welt hinaus sendet, nach neuen Pflanzen- und Tierarten sucht. Stets ist er der Forscher und kennt demnach auch kein anderes Leben, sodass er die vielen Seitenblicke der anderen nicht mitbekommt, die alles zwischen Neid und grenzenloser Gehorsamkeit widerspiegeln. Es geht steil bergan und in diesem feuchtwarmen Klima ist es eine besondere Anstrengung, den Weg vor Entkräftung und in die Augen laufendem Schweiß nicht aus den Augen zu verlieren, zudem leidet die Konzentration, sodass der eine oder andere mithin in ein Loch tritt oder sich in einem Farngestrüpp oder Ähnlichem verfängt. Nur sehr langsam schlagen wir uns in den dichten Busch und müssen zugleich stets auf der Hut sein vor den Gefahren, die auf dem Weg auflauern können, denn mit großer Sicherheit gibt es hier Wesen, deren Substanzen ausreichen, um das menschliche Leben schnell und wirkungsvoll auszulöschen. Der Mittag ist bereits erreicht, soweit man das an dem Sonnenstand ablesen kann, und zuerst unmerklich, doch dann immer zügiger schwindet die Dichte des Urwaldes, sodass wir ab und an einen Blick auf die Weite der Insel und den dahinterliegenden Ozean werfen können, der in smaragdgrünen, sanften Bewegungen das unfassbare malerische Ambiente dieser Wirklichkeit unterstreicht. Auf einer Lichtung machen wir im Schatten eines großen Palmenbaumes eine Pause und nach einer kleinen Stärkung habe ich die Muße, ein wenig herumzugehen, um die Aussicht und die Einzigartigkeit meiner Umgebung zu erfassen. An den Rand einer Ebene tretend, erkenne ich weiter unten, dem Strande vorgelagert, die beiden Schiffe unter dem Cook’schen Kommando, die von einer Unzahl an kleinen Canots belagert werden, in denen allesamt Eingeborene darauf warten, Lebensmittel gegen wertlose Glasperlen und anderen Tand einzutauschen, deren Wert sie bedeutend höher einschätzen als die Seefahrer. Für einen langen Moment vergesse ich alles um mich herum und fühle die unentbehrliche Freiheit des Geistes, die allein außerhalb der gesellschaftlichen Strukturen in dieser Intensität möglich ist, obwohl ich mir eingestehen muss, dass ich einer Rückkehr niemals absagen würde. »Welches Glück müssen die Menschen von O-Tahiti verspüren«, denke ich mir und schließe die Lider, hinter denen der Blick auf die Weite des Meeres verbleibt, »indem sie Tag für Tag die Natürlichkeit und Einfachheit ihres Lebens genießen können, ohne die gesellschaftlichen Zwänge der weiterentwickelten Zivilisation verspüren zu müssen?« Ich atme aufseufzend aus und frage mich, ob ich eine Antwort auf die Frage geben kann, inwieweit ich ernsthaft glaube, dass die zivilisierte Welt eine Fortentwicklung ist, doch ohne eine geben zu können, spüre ich das Ziehen an meinem Körper, das mich zunächst auf die offene See, dann aber in immer schneller werdenden Bewegungen weit darüber hinaus mit sich fortnimmt.
Auf- und niederwippend ahne ich bereits, wohin es mich dieses Mal verschlagen hat, und nach dem beißenden Geruch in meiner Nase zu urteilen, hat dieser Esel seit langem kein Wasser mehr auf seinem Fell verspürt, doch das gleißende Licht, das sofort nach dem Öffnen in meine Augen fällt, lässt es kaum zu, dass ich mir das Vieh einmal genauer ansehe. So muss ich die erste Zeit blind voranreiten, ehe sich meine Augen peu à peu an das vom Boden reflektierte Licht gewöhnt haben. Zudem macht mir die drückende Hitze zu schaffen, die mir weitaus unangenehmer erscheint als die feuchtwarme auf O-Tahiti, und erst nach einigen Momenten erkenne ich, dass es mich an den Rand einer Wüstenlandschaft verschlagen hat, was einigermaßen verwunderlich ist; das Verwunderlichste jedoch ist das Bemerken meiner beiden Begleiter, die jeweils neben mir reiten, aber bisher noch keinen Mucks von sich gegeben haben. Nein, vielmehr blicken sie sogar in zwei verschiedene Richtungen und mich beschleicht das Gefühl, dass sie sich absichtlich anschweigen. Um mich zunächst zu sammeln und ernstlich aufzuwachen, schweige ich ebenfalls, wobei der Reiter auf dem Esel neben mir ohne Ton zu schweigen vermag, während der ritterhafte, jedoch erbärmliche und einem Trauernden nicht unähnliche Mann auf dem alten Klappergaul ab und an ein Wort an die freie Luft setzt, deren Bedeutung ich erst nach mehrmaligem Wiederholen verstehe: Dulcinea del Toboso, ein Frauenname, der wohl der Geliebten des Ritters zu zieren scheint. Mit fortschreitender Zeit und Schweigsamkeit reiten wir auf eine Felsformation zu, in deren Mitte sich ein Hohlgang öffnet, ein Schluchtengang, der Räubern und Gesetzlosen eine willkommene Gelegenheit bietet, doch erst als wir kurz vor dem Einritt sind, bricht der Mann auf dem Esel sein Schweigen und spricht Richtung Felsen: »Wenn ihr glaubt, dass ich erneut durch einen solchen Hohlgang reite, dann muss ich euch sagen, dass ich euch für gleichermaßen hohl halte, denn wenn ich einmal daran erinnern kann, was uns bei dem letzten Durchritt geschehen ist, dann…« – »Bei dem letzten Durchritt einer Felsenschlucht«, unterbricht ihn der jämmerliche Ritter, »waren wir aber auch auf einer Mission, denn es ging immerhin darum, ein Menschenleben vor dem Untergang zu bewahren.« – »Dass wir bei diesem Erretten des Menschenlebens jedoch geprügelt, bestohlen, getreten, niedergeworfen, gestochen, an den Haaren gezogen und zur Freude die anwesenden Räuber im Kreise herumgeschubst wurden, habt ihr wohl vergessen!« – »Wie gesagt, wir hatten eine Mission zu erfüllen, denn einem Ritter kann kein Abenteuer zu lästig sein, in dem es seine Aufgabe ist, eine holde und unschuldige Maid aus den Klauen der Räuberbande zu befreien«, entgegnet der Ritter und blickt zum ersten Mal an mir vorbei zu dem Mann auf dem Packesel, der einem klagenden Knappen ähnelt. – »Dass jedoch die Maid weder hold noch unschuldig war, sondern die Anführerin des Räuberhaufens, ist euch im Getümmel, in dem vor allem ich eine derart auf die Mütze bekam, dass ich jetzt noch Kopfschmerzen habe, wohl völlig entgangen?!«, gibt der Knappe giftig zurück und verschränkt demonstrativ die Arme vor seiner Brust. – »In meinen Rittergeschichten«, beginnt die traurige Gestalt zu meiner Rechten und kramt ein zerfleddertes Buch aus seiner Reisetasche, das er aufschlägt, »kommen derartige Weibsbilder nicht vor, daher konnte es mir gar nicht möglich sein, eine solche Situation vorherzusehen; außerdem bin ich immer noch der festen Überzeugung, dass die holde Maid nicht freiwillig bei den Männern ist, sondern mit einem triftigen Grunde gefangen gehalten wird.« Für einen kurzen Moment herrscht eine gespenstige Stille. – »Ich reite nicht in den Hohlgang«, meint der Knappe auf dem Esel, als wir unmittelbar davorstehen, »ich will eher versuchen, auf der linken Seite herumzureiten, denn was kann mir Schlimmeres dabei geschehen, als dass ich vor Durst in der Wüste eingehe?« – »Dann reite du doch auf der linken Seite vorbei«, sagt der schaurig-traurige Ritter zu meiner Rechten, »ich werde hingegen diesen Berg auf der rechten Seite umrunden und wohl viel eher am Ausgang dieses Hohlganges erscheinen. Falls du es entgegen deiner Ankündigung schaffen solltest und ich nicht mehr dort sein sollte, kannst du getrost von dannen reiten, denn dann habe ich bereits zu lange auf dich gewartet.« Mit einem verbissenen »Gut!« des Knappen und einem noch verbisseneren »Gut!« des Ritters gehen beide, ohne mich überhaupt wahrgenommen zu haben, nach rechts und links ab und lassen mich vor dem Eingang des Hohlweges allein zurück. Ich halte nichts von dem Geschwafel um die Gefährlichkeit dieses Hohlweges und lasse mein Pferd, das sich ein wenig gegen den Fortmarsch sträubt, langsam hineintraben, doch zu meinem Unglück warten direkt hinter der ersten Biegung Räuber auf mich, die mich zunächst recht nett bitten, ihnen meine Habseligkeiten zu überantworten, doch sogleich packen mich zwei Räuber von hinten und ziehen mir mit einem Knüppel eins über den Schädel, sodass ich im Fallen die Augen schließe und verspüre, wie ich auf eine kurze, aber zügige Reise gehe.
Ein aufbrandender Applaus weckt mich aus meinem Schlaf, in den ich wohl gefallen sein muss, denn als ich mir die Augen reibe, stehen die Menschen neben mir und spenden jenen Menschen Beifall, die sich an den Händen zur Kette verbunden auf der Bühne verbeugen und dann selbst zur Seite treten, als der Autor des Stückes auf die Bühne tritt, die ich als die des Globe-Theaters in der Londoner Innenstadt identifiziere. Schleppend geht der Applaus zu Ende, nachdem die Schauspieler und der Autor die Bühne verlassen haben, um sich in die Menge zu mischen, die auf ihre Anwesenheit erpicht ist, doch währenddessen bleibe ich sitzen und blicke in die Gesichter und auf die Kleidung der Menschen um mich herum, befinde, dass die meisten einen vergnüglichen Abend gehabt haben, auch wenn einigen Frauen und Männern das Ende dankbar ins Gesicht geschrieben steht, da sie endlich aus den Kleidern in angenehmere schlüpfen möchten. In mir breitet sich ein seltsames Gefühl aus, denn in dem sicheren Wissen, dass dies der Kulminationspunkt des Theaterspielens ist, schmachte ich in Erinnerungen an die berauschenden Darstellungen neuerer Shakespeare-Stücke und ärgere mich beinahe, dass ich die Schauspieltruppe um den wahren Meister schlafend verpasst habe. Hamlet einmal in meinem Leben von den Originalschauspielern, mit Shakespeare unter ihnen, auf der Bühne zu sehen, war seither ein Traum von mir, dessen Erfüllung nicht denkbar schien, doch heute beinahe Realität geworden wäre. Als die meisten Reihen des Theaters verlassen sind, stehe auch ich auf und gehe langsam umher, sauge die intensive, verspielte Luft ein, suche nach Hinweisen auf Glücksmomente und finde das eine oder andere vollgeschnäuzte Taschentuch, umrunde die Bühne und finde mich urplötzlich und in Gedanken versunken auf der Bühnenfläche wieder, mit einer der Truhen an meiner Seite, in der die Schauspieler ihre Requisiten bewahren. Achtlos, so scheint es mir zumindest, liegt das prunkvolle Gewand darüber, das Claudius bei seiner Vermählung mit Gertrude trug, um die Ehe mit der einstigen Schwägerin zu schließen, den eigenen Bruder kaltblütig um das Leben und die Macht gebracht. Mit gehörigem Respekt nehme ich das Gewand, trage es zur Mitte der Bühne, halte es ausgebreitet von mir entfernt, sodass der Anschein erweckt werden könnte, dass ich versuche, als Hamlet agierend Claudius bei dessen Rede vor den versammelten Gästen zu Tode zu würgen. In meiner interpretierten Rolle aufgehend spreche ich langsam, dennoch deutlich vor mir her: »A murderer and a villain, a slave that is not twenti’th part the tithe of your precedent lord, a vice of kings, a cutpurse of the empire and the rule, that from a shelf the precious diadem stole and put it in his pocket –« Schluckend vor innerer Glut muss ich im Sprechen stocken, denn mich durchfährt ein Adrenalinstoß, der mich völlig besinnungslos zu Boden stürzen lässt, unfähig, meine Glieder zu bewegen. Die dagebliebenen Zuschauer und die Schauspieler unter ihnen sind derweil auf die Bühne geeilt und beugen sich zusprechend über mich, doch ich befinde mich in meiner eigenen Wirklichkeit, deren Intensität meine Gefühlswelt überlastet. Mit letzter Kraft blicke ich in die Gesichter jener Menschen, die das Glück haben, mit dem Meister der Bühne die unsterblichen Stücke spielen zu dürfen, bevor die Reise für mich weitergeht; ich schließe die Augen, teils aus Erschöpfung, teils aus Befriedigung, und werde aus dem Theater der Jahrhunderte hinfortgezogen, immer rasanter, immer unwegsamer, ehe mit einem Schlag völlige Ruhe um mich herum einkehrt.
Leise und beständig höre ich einen Griffel über eine Rolle groben Papiers kritzeln, dessen schreiberische Rhythmik derart beruhigend auf mich wirkt, dass ich die Erlebnisse am vorigen Ort völlig verdränge und es gelingt mir, in diese nachdenkliche und völlig von äußeren Einflüssen losgelöste Stille einzutauchen. Mit einem Mal entflieht auch dieses Geräusch aus meiner Sinneswelt und als ich langsam die Augen öffne, sehe ich, wie ein Mann in einem grünen, wollenen Mantel von seinem Schreibplatz aufgestanden ist, um an einem anderen Tisch die vollgeschriebenen Papiere zu ordnen. Indem ich aufstehe, wendet mir der Mann seine Gesichtsseite zu und ich bemerke, welch markante Nase in seinem durchaus klugen, obgleich ausgemergelt-asketischen Gesicht thront; im Näheretreten an seinen Papierhaufen sehe ich das obere Deckblatt, unter welchem er sein Werk gesammelt hat: Encomium moriae, doch just in demselben Moment, als ich für mich die zwei Wörter übersetze, klopft es an der Türe und der eben noch über sein Werk gebeugte Dichter geht hinüber und öffnet sie. Augenblicklich stürmen acht Weibsbilder in den Raum, deren machtvolle Präsenz mich in die Ecke treibt, und erst als sich die sieben jungen Frauen um eine ältere postieren, erkenne ich, dass es sich wohl um eine Mutter mit ihren sieben Töchtern handeln muss. »Mir ist zu Ohren gekommen«, beginnt die Mutter völlig unvermittelt, dass sie, Herr Dichter, schlecht über mich und meine Familie reden, aber auch darüber schreiben sollen.« – »Meine Damen«, entgegnet der Mann mit der großen Nase ruhig und voller Würde, »dies muss ein Missverständnis sein, denn ich habe wohl über Sie und Ihre Familie geschrieben, aber doch nicht im Schlechten, sondern ausnahmslos im Guten.« – »Das will ich auch hoffen«, keift die Mutter weiterhin erbost zurück, »und um die Angelegenheit in vollkommener Ordnung darzustellen, habe ich meine Töchter allesamt mitgebracht, damit sie die von Ihnen niedergeschriebenen Geschichten aus der Sicht der Wahrheit nacherzählen können.« Indem sie auf die äußerste der sieben zur Rechten zeigt, sagt sie: »Ira, erzähle dem Herrn Dichter bitte die wahre Geschichte, damit er begreifen kann, dass deine Tugendhaftigkeit keinerlei Makel an sich hat.« – »Sehr gerne, Mutter«, beginnt Ira und tritt einen Schritt vor die anderen, »Ein Mann ging über ein Feld und traf einen Bauern, der ihm bei der letzten Ernte bestohlen hatte, und voller Zorn wollte er ihn verprügeln, doch ich trat glücklicherweise dazwischen und riet dem Mann, sich nicht an dem anderen zu vergehen, sondern im Gegenzug dessen gesamte Ernte für dieses Jahr zu vernichten. Kaum hatte er diesen Plan angenommen, ging er auch bei untergehender Sonne ans Werk und brannte das Getreide und die Obstbäume nieder, doch als der andere Mann voller Zorn dieses Werk sah, nahm dieser eine Heugabel aus seiner Scheune und stach sie dem anderen mitten ins Herz.« – »Welche Tugendhaftigkeit du doch bewiesen hast«, sagt die Mutter und streichelt ihrer Tochter über die Wange, »denn du hast dem zornigen Menschen einen Spiegel vors Gesicht gehalten und er hat von seinem Zorn abgelassen.« Als Nächstes ruft sie Avarita nach vorne und diese erzählt folgende Geschichte: »Ein überaus geiziger Mensch wollte seiner Tochter keine Mitgift zu ihrer Hochzeit mitgeben, doch ich versicherte ihm, dass der Mann seiner Tochter der reichste Mensch auf Erden sei, sodass die Mitgift sich binnen eines Jahres vervielfachen würde. Der Mann gab seine gesamte Habe dem jungen Mann, den seine Tochter als Schwiegersohn mit ins Haus brachte, und nach einem Jahr, als der Vater den Schwiegersohn ansprach, wo dieser seine ganzen Reichtümer habe, sagte dieser nur noch, dass alles, was er je besessen habe, das Geld des Geizhalses gewesen wäre, doch mithin alles verloren sei, da er das Geld an einen Geschäftsdieb verloren habe.« Auch diese Tochter lobt die Mutter ob ihrer Tugendhaftigkeit und tätschelt ihr die Wange, ehe sie der nächsten Tochter, Invidia mit Namen, die Gelegenheit gibt, ihre Geschichte der Ehre und der Menschlichkeit zu präsentieren. »Ein sehr reicher Mann aus der nächsten Stadt war neidisch auf die Frau seines Nachbarn, einem mittellosen und unglücklichen Geschäftsmann, doch mir gelang es mit gutem Zureden, den reichen Mann davon zu überzeugen, dass die Frau sicherlich den armen Mann für den reichen verlassen würde, wenn dieser ihr nur genügend teure Geschenke machte. In den nächsten Wochen überhäufte er sie mit den allerteuersten Waren, die er nur auftreiben konnte, und verpulverte sein gesamtes Vermögen in dem Wahn, ihr gefallen zu müssen, doch die Frau blieb in ihrer Liebe und mit dem neu gewonnenen Reichtum bei ihrem Manne, und der andere ist vor lauter Gram und arm wie eine Kirchenmaus, jedoch ohne eine Spur von Neid, am gestrigen Tage verstorben.« – »Welch eine Lobeshymne auf die Tugend, die du uns präsentierst, meine liebe Invidia«, sagt die Mutter voller Stolz und Freude, »lass dich ob deiner feinen Art herzen, bis die Sonne untergeht.« Doch die nächste Tochter steht schon bereit, um die Geschichte ihrer Tugendhaftigkeit zu erzählen. Die Mutter löst sich von Invidia und stellt mit Acedia ihre vierte Tochter vor. – »Ich traf vor einiger Zeit einen Maler, dessen Gehilfe vor Trägheit nur so strotzte, dass er diesem drohte, ihn hinauszuwerfen, falls er sich nicht ändern würde, und es sollte beinahe dazu kommen, doch zu seinem Glück traf er mich und ich riet ihm, einen Tag lang der aufmerksamste und hilfsbereiteste Gehilfe der ganzen Stadt zu sein und versprach dem Jungen, dass ihn der Maler für seine Hilfe auch malen würde, was der größte Traum des Gehilfen war. Am folgenden Tag stand der Gehilfe in aller Frühe auf und bereitete alles ordentlich vor, sodass der Maler sogleich mit seiner Arbeit beginnen konnte, und vor lauter Glück zwickte er seinem Gehilfen sogar mit einem Wohlwollen in die Backe, doch als dieser den Topf mit der angerührten grünen Farbe bringen sollte, stolperte der Gehilfe über eine Bodenplanke und vergoss den gesamten Inhalt auf das Meisterwerk, an das der Maler nur noch die letzten Pinselstriche anlegen wollte. Als der Maler diesen Fauxpas erkannte, nahm er seinen Rutenstock aus der Ecke und zog diesen mehrmals über seinen Gehilfen, doch dieser war sogar zu träge, um sich dagegen zu wehren.« Mit einem freudigen Lächeln schritt Acedia den Schritt zurück und ordnete sich in die Reihe zurück, erhielt von der Mutter ihre Liebkosung und ließ ihren Blick auf die Schwester Luxuria zu ihrer Linken ruhen, die nun hervortrat und von ihrem Erlebnis berichtete. – »Ein Mann, dessen Reichtum beinahe sprichwörtlich erdrückend ist, glaubte, alle Genüsse dieser Welt erforscht zu haben, und zog sich zurück in seinen Palast, wo er voller Trübsal drohte, einzugehen, doch ich bot mich an, mit seinem Geld in der Welt nach Genüssen zu forschen, die selten und teuer, dafür aber derart exquisit seien, dass selbst dieser alte Genießer vor Staunen jubelnd ausruft. Ohne Bedenken gab er mir sein Geld und ich besorgte ihm bei fahrenden Händlern die edelsten Waren aus den entferntesten Ländern des Orients und brachte sie ihm. Manche dieser Waren ließ er links liegen, da er sie bereits kannte, doch es gab darunter auch einige, die er nicht kannte und gierig verschlang, obgleich ihm weder Wirkung noch Maß der Einnahme bekannt waren. Somit traf ihn wie der Schlag, als er eine der nussähnlichen Kerne in einer Menge zu sich nahm und jubelnd voller Glückseligkeit schrie und ohne ein weiteres Wort aus seinem Munde verstarb der Mann an einer zu großen Menge einer unbekannten Frucht, im Wohlbefinden seines höchsten Genusses.« – »Sei stolz auf dich, meine Tochter«, meint die Mutter, als Luxuria zurücktritt, »denn du hast diesem Menschen den größten Dienst erwiesen, den er sich vorstellen konnte.« Als Nächstes schiebt die Mutter die kleinste und magerste der sieben Schwestern nach vorne, die sich mit dem Namen Gula vorstellt und ihre Geschichte folgendermaßen nacherzählt: »Eine Frau, die ihren unermesslichen Besitz von ihren beiden verstorbenen Ehemännern geerbt hatte, war der Fresssucht anheimgefallen; nichts und niemand konnte sie von ihren wollüstigen Orgien abhalten, sodass sie einmal sogar ausrief, dass sie auch nichts dem König abgeben würde. Aber wie Fortuna nun mal ihr Rad dreht, kam eines Tages der König an ihr herrschaftliches Haus und fragte nach einer Mahlzeit, da er seit zwei Tagen nichts mehr gegessen hatte, und ehe sie antworten konnte, nahm ich sie beiseite und versprach ihr weitaus bessere und feinere Orgien auf dem Schloss des Königs, wenn sie an diesem Tage einmal ihr Essen mit dem König teilte. Schnell war es beschlossene Sache und der König labte sich an der reichen Tafel und alle Mitgereisten konnten sich ebenfalls satt essen, doch als der König beim Fortritt erkannte, dass der letzte Mann der Frau eine seiner ärgsten und gesuchtesten Feinde gewesen war, beschloss er, die Frau mitsamt ihrem Vermögen gefangen zu setzen, sodass sie nie wieder eine Orgie feiern kann.« Ein triumphierendes Lächeln ziert das Gesicht der Tochter, als sie sich in die Reihe eingliedert und von der Mutter einen zärtlichen Schulterklopfer erhält, ehe die letzte der Schwestern, Superbia mit Namen, die ganz links auf ihren Einsatz gewartet hat, vortritt und ihre Ereignisse erzählt: »Ein Mann, der für seinen Hochmut bekannt gewesen ist, kam durch mich zu Fall, und hochmütig setzte sich jemand an seiner statt auf den goldenen Sessel, sodass ich dem Niedergefallenen auf die Beine half, um den anderen niederzuwerfen. Letzten Endes glaube ich nicht, dass die beiden eher mit ihrem Hin und Her enden werden, ehe nicht einer gestorben ist, doch dann muss ich wohl oder übel erneut erscheinen, um den Sieger sogleich dann erneut niederzuwerfen, denn Hochmut kommt bekanntlich vor dem Fall.« Mit einem verschmitzten Lächeln funkelt sie mich an und ich spüre eine leichte Beklemmung in meinem Hals; ich schlucke und richte meinen Blick von ihr ab, zur Mutter hin, die einen Schritt auf den Dichter mit der großen Nase gemacht hat, der jedoch standhaft seine Position bewahrt. – »Und nun zu Ihnen, Herr Dichter«, sagt die Mutter, und selbst ihre Stimme fühlt sich eiskalt an, »es ist eine unglaubliche Torheit von Ihnen, falsch über die Geschichten meiner Töchter zu berichten, sodass ich ein Auge auf sie haben werde, sobald das Werk das Licht der Öffentlichkeit erblickt. Seien Sie gewarnt, Mutter Stultitia kennt keine Gnade, wenn es darum geht, dass einer meiner Lieben von einem anderen in Teufels Küche gebracht wird, indem unlautere Geschichten über sie verbreitet werden; seien Sie gewarnt!« Mit einem kraftvollen Schwung dreht sich Mutter Stultitia um die eigene Achse und schreitet ihren Töchtern voran, doch die letzte, mit dem Namen Superbia, macht einen kleinen Schlenker und flüstert mir etwas kaum Verständliches ins Ohr, doch als ich nach unten blicke, sehe ich, wie sich der Boden zu einem Höllenschlund öffnet und ich ohne Halt hinabstürze. Aus Reflex und Eigenschutz schließe ich die Augen und spüre das heftige Ziehen der Zeit an meinem gesamten Körper, ehe ich nach einer langen Reise an einem Ort lande, der warm und eiskalt zugleich erscheint. Kein Licht dringt durch meine Lider an meine Augen, und als ich sie öffne, erkenne ich nur eine scheinbar riesige Höhlenebene, in der unendlich viele Lagerfeuer brennen, um die sich allesamt menschliche Gestalten drängen, so auch um das nächstgelegene, an das ich herantrete und in dem ersten Kreis an diesem Ort stehe. Ich möchte den Gesprächen der Versammelten lauschen und hoffe auf einige Auskünfte, wo ich mich befinde, doch alle schweigen sich an und blicken entweder ins Feuer oder mit geschlossenen Augen zu Boden. Aus Angst, die Gruppe in einer meditativen Phase aufzurütteln, schweige ich und warte auf die erste Regung, denn irgendwann, so hoffe ich, wird irgendeiner sehen, dass ich als Neuankömmling darauf warte, in den erlauchten Kreis Einlass zu erhalten. Aber es vergehen endlose Augenblicke, die zu endlosen Stunden werden, und ich gebe bereits die Hoffnung auf, als urplötzlich aus dem Dunkel ein fein gekleideter Mann aus dem Dunkel an den Kreis tritt und sich als Guido Cavalcanti vorstellt und beifügt, dass er vor seinem soeben eingetretenen Tode ein bedeutender italienischer Dichter seiner Zeit gewesen sei. »Voller Ehrfurcht und Demut«, beginnt er seine schmeichelnde Rede, »bitte ich als nichtswürdiger Dichter jener Tage um Aufnahme in den illustren Kreis der wohl bedeutendsten Dichter der Weltgeschichte, denn ich hoffe, dass ich meine Unvollkommenheit mittels Gespräche mit euch, den wahren Philosophen, auszumerzen vermag.« Jetzt erst, beim zweiten Hinsehen, glaube ich, einige der Menschen um das Feuer wiederzuerkennen, teils von antiken Büsten oder von Gemälden, die zwar allesamt leicht idealisierend, jedoch nicht selten auch gut getroffen sind, und eine starke Erregung durchfährt meinen Körper, denn dies scheint wahrhaftig der erste Kreis in der Vorhölle zu sein, in dem die Dichter im Kreis ums Feuer sitzen und die Welt zusammenfügen, indem sie diese in ihre Einzelbestandteile zerlegen. Spannend erwarte ich ein Zusammenrücken der Anwesenden, damit sich der Neuankömmling zu den großen Dichtern aller Zeiten drängen kann, doch sie machen weder Platz noch gibt einer von ihnen eine Antwort. Erneut vergehen bange Momente, in denen nun wir beide auf eine Reaktion der im Kreis sitzenden Philosophen warten, doch der italienische Dichter scheint kaum Nervenstärke und Geduld zu besitzen, denn nach diesen wenigen Sekunden der abweisenden Stille echauffiert er sich über das negative Verhalten der Gruppe der Dichter, die doch seine Vorbilder seien und deren Benehmen er anders eingeschätzt hätte. In diesem Moment ist plötzlich die Nervosität einer inneren Spannung gewichen, doch die Reaktion der Gruppe der Philosophen ist eine völlig andere, als wir beide erwarten konnten, denn ehe einer der ums Feuer Sitzenden zur Seite rückt, sagt ein Dichter, dessen Sterbealter anzeigt, dass er dereinst als junges Genie aus dem römischen Alltag herausgerissen wurde, dass es einen treffenden Grund dafür gäbe, den italienischen Dichter nicht in die Gruppe einzulassen. »Sieh«, fährt der junge römische Dichter fort, »wir sind bereits vor langer Zeit an diesen Ort gekommen und haben die größten und weitschweifigsten Diskussionen geführt, doch nach alledem, was ich gehört und gedacht habe, ist den anderen und mir klargeworden, dass alles Denken nur Schall und Rauch ist und die Unendlichkeit des Schweigens das Harmonischste ist, dessen wir uns annehmen können. Wir schweigen seit einer Ewigkeit und müssen jeden frisch gestorbenen Dichter erst einmal bitten, für ein paar Jahre – und was sind an diesem Ort schon Jahre wert? – in der Gegend herumzuwandern, damit die Erkenntnis reifen kann, dass Schweigen das einzige Mittel ist, die endlose Existenz an diesem Ort akzeptabel zu gestalten. Du siehst, es ist nicht gegen dich gerichtet, doch nimm dir die Zeit, die du brauchst, und unterhalte dich an anderen Lagerfeuern mit den Menschen, die in ihrem Leben, aber auch hier gesprächiger waren, und sobald du die höchste Erkenntnis des Schweigens in dir trägst, bist du gerne eingeladen, dich an unser Feuer zu setzen.« Ohne ein Wort darauf sagen zu können, jedoch mit blitzenden Augen ob dieser glatten Abfuhr, dreht sich der italienische Dichter auf seiner Ferse um und verlässt wutentbrannt diesen Ort, um höchstwahrscheinlich ein anderes Lagerfeuer aufzusuchen. Ich hingegen denke mir, dass sie durchaus recht haben, und erinnere mich an die Worte eines meiner Schriftstellerkollegen, dass letzten Endes jedes Wort einmal untergehen wird, schließe die Augen und genieße die absolute Stille dieses Ortes, wobei mir erst jetzt auffällt, dass selbst das Lagerfeuer der Philosophen schweigt, doch als ich meine Augen öffnen will, ist diese Welt bereits entschwunden und sogleich spüre ich erneut die Zeit, die an meinem Körper zieht.
Zunächst merke ich, wie die Sonne auf meinen Körper brennt, und ich glaube, mich bereits in einer Wüste wiederzufinden, doch schon kurz danach setzt ein derart nasskalter Wind ein, dass ich mich an einem Ort glaube, an dem ich besser die Augen geschlossen halte. Während die Kälte in meinen Körper zieht und mich frösteln lässt, überlege ich mir, wohin mich diese Reise wohl verschlagen wird, doch mit diesem Ziel habe ich nicht gerechnet, denn als die Kälte sich in eine wohltuende Wärme verwandelt und ich die Augen öffne, befinde ich mich oberhalb der Wolkengrenze und blicke über eine steinerne Ebene, die von einem seitlich liegenden, schneebedeckten Gipfel gekrönt wird. Nichts befindet sich auf dieser Ebene und ich zweifle zum ersten Mal auf meiner Reise, entschließe mich zur Umkehr, aber irgendeine Macht schiebt mich vorwärts; langsam gehe ich voran und blicke um mich, um etwaige Gefahren sogleich erkennen zu können, doch alles Umschauen und Wachen hat keinen Wert mehr, als ich von einer geflügelten Figur von hinten auf die Schulter getippt werde. »Mein Name ist Hermes«, beginnt der Geflügelte, »und ich bin der Bote der olympischen Götter, die allesamt deine Ankunft bereits erwarten. Folge mir diesen Weg hinan und habe keine Angst, denn sobald du diese und deine Zweifel an der Wirklichkeit verlierst, wirst du vor dem Eingang des göttlichen Palastes stehen, in den dir der Eintritt erlaubt wird.« Mit diesen Worten entschwindet Hermes in einer Geschwindigkeit, dass meine Augen seinen Bewegungen kaum folgen können, und ich überlege mir, auf welche Art und Weise ich meine Skepsis gegenüber dieser Realität ablegen kann, um Eingang in den göttlichen Palast zu erhalten. Ich wandere umher und suche angestrengt nach einer Antwort, doch sie will mir partout nicht einfallen, als ein königlich gekleideter Mann aus dem Nichts an meine Seite tritt und sich als Kaiser Marcus Aurelius vorstellt, dessen würdevolle Erscheinung mich umgehend überzeugt. »Wie du mir glaubst«, beginnt der römische Imperator, »dass ich ein für die Menschen verstorbener römischer Kaiser bin, so musst du an dich selbst glauben, um Einlass zu erhalten, denn allein ein Mensch, der sich von Ruhmsucht und dem Streben nach Macht und Reichtum befreit, ein Mensch, dessen Willen es allein ist, Gutes zu leisten, indem man das Schlechte nicht auch noch belohnt, dieser Mensch wird die Gewissheit erlangen, dass diese Realität eine wahre sein kann und demnach Einlass erhalten.« Mit diesen Worten verschwindet auch er und ich wundere mich kaum, dass ein römischer Imperator Einlass in den griechischen Olymp gefunden hat, auch wenn er gewiss als einer der aussichtsreichsten Kandidaten unter den antiken gelten muss. Ich versuche, mich von meiner Skepsis zu befreien, doch es will mir nicht gelingen, zumindest bekomme ich die Pforte zum Palast nicht gezeigt und gehe weiterhin umher, als erneut ein Mann auf mich zutritt; dieser ist mit einer Kampfrüstung gekleidet und trägt einige Waffen an seiner Kleidung, sodass ich unweigerlich einen Schritt zurücktrete. »Mein Name ist Odysseus«, beginnt der Krieger, »und ich wurde ausgeschickt, um dir zu sagen, dass es keine Auswirkungen auf die Welt, aber auch auf dich hat, wie lange du auch brauchen wirst, um deine Sorgen loszuwerden, und obwohl der Palast der Götter nicht mehr derselbe ist wie zu seinen Glanzzeiten, ist es dennoch eine Reise wert.« Mit diesen merkwürdigen und verwirrenden Worten lässt der Krieger mich allein auf der Ebene und löst sich scheinbar in Luft auf, sodass ich dort die Pforte vermute, doch als ich dorthin komme, hat sich nichts geöffnet, weder eine Pforte in den Götterpalast noch eine in den Tartarus. Ich würde gerne in diesem Moment behaupten, dass ich sicherer werde und meine Zweifel verschwinden, doch im Gegenteil, sie erhärten sich derart, dass ich mir kaum vorzustellen vermag, wie es hinter einer dergestaltigen Pforte aussieht. Ich ziehe weiter umher und suche nach einer Antwort auf die mich drängenden Fragen, als ein alter Mensch auf einem Krückstock auf mich zukommt, jedoch wort- und grußlos an mir vorbeigeht, sodass ich mich herumwerfe, um ihn selbst anzusprechen. »Ach, lass mich in Ruhe«, beginnt der alte Tattergreis, »ich habe den Olymp mit seinen verwerflichen Eskapaden und hemmungslosen Orgien dermaßen satt, dass selbst dem besten Komödiendichter des Griechentums die Spucke und die Witze wegbleiben! Sollen die Götter mir allesamt den Buckel runterrutschen, ich werde mich lieber im Tartarus von irgendwelchen dummen Harpyien quälen lassen, als diesem Dummgewäsch des Ares zuzuhören, der derart fett und unbeweglich geworden ist, dass er sein Kurzschwert nur noch dafür gebraucht, um sich die Ambrosiareste aus den Zahnlücken zu pulen. Und Zeus, ja der große Göttervater, der alte Hurenbock, hat nichts Besseres zu tun, als sich Gedanken darüber zu machen, welche der unschuldigen und zuweilen hilflosen Frauen er unglücklich machen möchte, denn es ist wahrlich kein Zuckerschlecken, einen Halbgott von der Größe der Kentauren zu gebären. Dem einzigen, dem man in diesem weiten Rund noch trauen kann, ist Hephaistos, selbst den Göttinnen ist nichts von ihren guten Werten geblieben, überall herrschen nur noch Intrigen, Missgunst und Schönheitswettkämpfe, die Aphrodite stets gewinnt und Hera damit zurückgesetzt wird; allein dem Schmied kann man sich noch anvertrauen, denn diesem ist es gleich, was die anderen erzählen und lästern, er zieht sich dann in seine Schmiede zurück und hofft auf besseres Wetter, doch hier oben gibt es nichts als Hagelwetter mit Blitzeinschlag.« Ich bleibe stehen, denn diese Worte haben mich derart überrumpelt, dass ich den alten Mann seiner Wege ziehen lasse, ohne ihn um eine Auskunft zu bitten, wie ich in diesen Tempel der Glückseligkeit Eintritt erhalte, doch als ich mich umdrehe, um erneut meiner Wege zu gehen, stehe ich vor der Eingangspforte, die in einem protzig-strahlenden Gold mir beinahe die Sicht meiner Augen nimmt. »Soll ich wirklich in diese zur Pandämonium gewordene Lust- und Lasterhöhle eintreten?«, frage ich mich ernsthaft, oder eher dem Weg des Aurel folgen, dessen Vorschlag mir nun eher wie ein Gegenvorschlag für einen alternativen Weg erscheint, dessen wohltuende Kraft mir schlussendlich mehr bedeutet als das ganze Brimborium dieser Götterstätte. Ich drehe mich vom Portal fort, doch es folgt meinem Blick, sodass ich versuche, einen Schritt zurückzumachen, doch auch dort stoße ich gegen ein Portal; eine neue Angst keimt in mir und ich schließe die Augen, um diese Angst gegen die Götterwelt benutzbar zu machen, aber noch bevor diesbezüglich eine Entscheidung fällt, spüre ich das Ziehen an meinem Körper und fühle mich von allen belastenden Gedanken befreit, sodass ich tief durchatme und anhand der schwülen Luft verstehe, dass ich in einem völlig anderen Teil der Erde gelandet sein muss.
Seltsame Geräusche dringen an mein Ohr, es ist ein Sammelsurium von den unterschiedlichsten tierischen Tönen, die mich umgeben und die mich in die eine, dann wieder in die andere Richtung drehen lassen, als ob von dort eine Gefahr drohe. Ich befinde mich in einem dichten Urwald, der mich heillos umgibt, ohne Weg oder Zufluchtsmöglichkeit, auf einer kleinen Lichtung, die mit dem saftigsten Grün überzogen ist, das ich je in meinem Leben erblicken durfte. Leise frage ich mich, was ich in dieser Abgeschiedenheit der Welt möchte, und versuche, durch den dichten Blätter- und Schlingwald um mich herum in die Außenwelt zu blicken, doch ich sehe auch dort nichts anderes als eine grüne Pflanze, in der sich die eine oder andere Blüte abhebt. Ohne eine rechte Entscheidung treffen zu wollen, vor allem aus dem Beweggrund der Angst vor den möglichen Gefahren, setze ich mich nach reiflicher Prüfung unter einen größeren Baum, an dessen Rinde Lianen haften, die einen nach oben führenden Ring bilden. Immer mehr drängt mich die Frage, was ich wohl sehen würde, wenn ich diesen Baum hinaufkraxeln würde, welchen Blick ich auf welche Gegend wohl werfen könnte, sollte ich den Wipfel des höchsten Baumes erreichen und Ausschau halten. Ich stehe auf und suche mir einen Weg die Lianen hinauf, glaube, einen zu finden, und begebe mich an den Aufstieg, der härter und gefährlicher ist, als er von unten ausgesehen hat; nicht selten rutsche ich mit einer Hand ab und habe das Glück, mit der anderen Hand nachgreifen zu können, sodass ich das hohe Blätterdach erreiche, das bereits derart hoch ist, dass ich über viele Bäume blicken kann, doch es soll bis nach ganz oben gehen. In der Baumkrone wird das Klettern wieder leichter und mir ist es vergönnt, mich für eine kurze Zeit auszuruhen, und es stellt sich sogleich heraus, dass dies nötig ist, denn mit dem Erheben des Kopfes aus dem oberen Rand der Baumkrone durchfährt mich ein Blitz, der meinen Körper dermaßen wanken lässt, dass ich beinahe zurück auf den Boden gefallen wäre. Vor mir befindet sich eine vielarmige Gestalt aus Feuer in der Luft, denn sie scheint keinerlei festen Tritt mit der Erde zu benötigen, doch das wahrhaft Furchterregende dieser Gestalt ist der bohrende und feurige Blick aus den vielen funkelnden Augen. Dieses Wesen, das nicht nur ein Gesicht, zwei Arme, einen Leib, zwei Augen und einen Kopf besitzt, sondern sich in mehrere Gestalten zu teilen scheint, trägt auf einem Haupt, das mithin das hauptsächliche scheint, eine goldene Krone und in den beiden Händen an den beiden stärksten Armen eine unermesslich mächtige Keule, mit der die Gestalt mit einem Wischer eine ganze Dorfschaft auslöschen könnte. Ich klettere den letzten Schritt hinauf und spüre, wie mir das Blätterdach zu einer mich tragenden Ebene wird, lasse mich auf die Knie hinabfallen und verbeuge mich vor diesem Wesen, das für mich der Hüter des Urgesetzes und des Universums ist, der zugleich der Niedrigste und das höchste Wesen darstellt, der Herrscher über die Elemente und die Gottheit Krishna für die Menschen ist, dieser wehrhafte Gott, der den vergänglichen Körper der Menschen, in dem ihre unsterbliche Seele einen Lebensort gefunden hat, in einen Krieg anführt, um die Ungläubigen unter den Seelenträgern zu vernichten. Indem ich mich auf die Knie geworfen habe, um meinen Blick von der allumfassenden Gottheit wegzulenken, befinde ich mich auf der Lichtung, von der meine Kletterei in den Himmel begonnen hat. Langsam hebe ich meinen Kopf und sehe eine menschliche Gestalt vor mir, hinter dessen Antlitz man weiterhin die vielschichtige Gottheit erkennt, sodass ich mich erneut verbeuge, um nicht von dieser Gestalt gestraft zu werden. »Stehe auf und erblicke mich von Angesicht zu Angesicht«, sagt die Gestalt mit einer Stimme, deren Festigkeit alle anderen vernommenen Stimmen meines Lebens übertrifft, »und sage mir, ob du als kriegführender Mensch bereit bist, an meiner Seite in einen Krieg gegen die Ungläubigen zu ziehen, deren Vernichtung nicht nur für die Welt von Notwendigkeit ist, sondern für das Gesamtgefüge alles Seins.« Ich schließe meine Augen und möchte wahrhaftig eine Entscheidung treffen, doch im gleichen Moment reißt erneut die Zeit an meinem Körper und bringt mich an einen anderen Ort, wobei ich jedoch von der Reise nichts mitbekomme, da ich mir weiterhin Gedanken darum mache, wie ich mich wohl entschieden hätte.
Erneut hat es mich in ein Gebirge verschlagen, doch dieses Mal an dessen Fuß und mit einer Landschaft in meinem Rücken, deren Lieblichkeit mit nichts vergleichbar scheint, was ich kenne. Die völlige Stille herrscht in diesem Teil der Welt und ich frage mich, wie bei den vorherigen Stationen auch, welchen Sinn es hat, mich an diesem menschenverlassenen Punkt der Erde abzusetzen. Doch nachdem ich bei den letzten beiden Stationen jeweils spannende und einsichtige Augenblicke verlebt habe, bin ich frohen Mutes und setze mich auf einen Stein, der inmitten des Weges bergan so etwas wie ein Grenzstein anmutet, auf welchem sitzend man beide Gegenden im Auge zu behalten vermag. Wiederum kehrt eine völlige Ruhe in mein Wesen ein und ich genieße das Leben im Mikrokosmos um mich herum, als ich Schritte auf dem schottrigen Untergrund vernehme, die aus Richtung des Weges bergan kommen, jedoch noch weit hinter der nächsten Biegung sein müssen. Im baldigen Vernehmen, dass es nur ein Mensch sein kann, der diese Schritte verursacht, bleibe ich auf dem Stein sitzen und harre demjenigen, der aus der Unwirtlichkeit der Bergwelt in die Reichhaltigkeit der sanften Ebene zurückkehrt und als ich einen alten Mann in einem weitem Gewande erblicke, dessen weißer Bart eine hohe Würde ausstrahlt, erinnere ich mich an die im Vorhinein ereignete Geschichte unserer beiden Figuren, wobei der Gelehrte sich in die Berge zurückgezogen hat, um sich vor den feindlich gesinnten Massen der kriegerischen Zeiten zu entziehen, während es meine Aufgabe ist, diesen strategisch nicht unwichtigen Pass zu bewachen, um notfalls das Eindringen einer größeren Armee meinem Landesherren zu melden. Doch bisher habe ich in dieser Gegend kaum einen Menschen vorbeiziehen sehen, außer diesem Gelehrten, mit dem ich beinahe jeden siebten Tag austausche; während er von mir lebensnotwendige Dinge erhält, die er sich nur sehr schwerlich in den Bergen aneignen kann, habe ich das riesige Glück, von der absoluten Weisheit dieses Mannes, der sich selbst Laozi nennt und den ich vor einiger Zeit gebeten habe, seine Weisheiten zu Papier zu bringen, um sie der gesamten anderen Welt nicht vorzuenthalten, zu profitieren, denn diese Weisheiten und Ratschläge sind es, die unsere Zeit vergessen hat und sich daher entgegen jedem menschlichen Recht in blutigen Kriegen abschlachtet. Eben aus diesem Grund fußen die Lehrsätze dieses Meisters darauf, dass man im Zweifel einer Tat lieber tatenlos bleiben soll, denn jede eigene Handlung birgt eine unmittelbare Gegenhandlung, denn alles in der Welt gleicht sich aus; das Böse und das Gute, das Glück und das Unglück, Frieden und Krieg, Tod und Leben, Armut und Reichtum. Was der eine besitzt, will der andere haben, denn naturgemäß muss er diesem entbehren, und daher kann es letzten Endes keine andere verständige Handlungsweise geben als das Nichtstun. Vermeide eine nötige Handlung und es soll dem Menschen gelingen, sich dem Unaussprechlichen zu nähern, denn das Dao ist es, was im Ursprung den Wandel der Zeit herausbildet, einer Zeit, die selbst dem Nichts unterliegt und zu diesem auch wieder zurückkehrt. Auf diesem Weg kann der Mensch folgen, doch sein irdisches Leben wird allein zu einer Annäherung gereichen, dennoch ist es stets von eminenter Wichtigkeit, sein Leben danach auszurichten, denn wo anders als beim allumfassenden Nichts kann die absolute Glückseligkeit herrschen? In dem gleichen Augenblick, als ich die Rollen aus der Hand des Meisters der Worte empfangen will, um sie der Welt außerhalb dieses Mikrokosmos zu bringen, entsteht ein großer Strudel der Zeit, der mich aufnimmt und meine zupackenden Finger ins Leere greifen lässt.
»Mein Name lautet Gilgamesch«, höre ich eine Stimme ganz in der Nähe an mein Ohr drängen, »und ich habe dich, unsterblicher Uta-napischti, aufgesucht, um die Lösung des Rätsels zu erfahren, wie ein göttlicher Mensch, wie ich, zum ewigen Leben gelangen kann.« Als ich die Augen öffne, sehe ich, wie Gilgamesch seinen Fuß aus einem herangetriebenen Boot aufs Land dieser Insel setzt, auf der der angesprochene Uta-napischti eher ablehnend als freudestrahlend wartet. – »Ich kenne deinen Namen«, entgegnet der Herr der Insel«, und ich weiß auch, dass du der König von Uruk, der wichtigsten Stadt in der weiten Umgebung bist, doch sage mir zuerst, warum du dermaßen ausgezehrt vor mir erscheinst.« – »Auf der Suche nach Unsterblichkeit und dem Besiegen vieler gefährlicher Gegner sowie dem Tod meines besten und wahrhaft einzigen Freundes Enkidu, der zum Lehm der Erde geworden ist, war es mir nicht vergönnt, ein angemessenes, königliches Leben zu führen«, entgegnet Gilgamesch und wagt einen Schritt auf den Unsterblichen zu. – »Eigentlich müsste ich dir jetzt sagen, dass du die Unsterblichkeit nicht verdient hast, denn eben jenes Ausgezehrtsein sollte die Erkenntnis deiner Reise sein, da nur in dem Erkennen, dass du als König nicht nur für die wenigen Gutgesitteten verantwortlich bist, sondern vor allem für all jene Menschen, die von dem Bodensatz deines Reichtums leben, der Verdienst der Unsterblichkeit liegt. Du als König solltest jede Entscheidung, die du Tag für Tag triffst, stets bedenken, die weitreichende Auswirkungen haben könnte, insbesondere für jene, die bereits mit einer kleinen Portion Brei und Kleie leben müssen, während sie über den Tag mit zerschlissenen Kleidern, die von einfachen Seilen gehalten werden, die Felder bestellen, von denen du und deine Mannen speisen. Wenn du von dieser Insel fortgehst, verstehe dich darauf, wie ein König zu handeln, denn allein dies ist es, das dir für alle Zeiten die Unsterblichkeit in den Geistern der Menschen sichern wird.« – »Gibt es denn neben der geistigen auch eine körperliche Unsterblichkeit?«, will Gilgamesch von Uta-napischti wissen und deutlich ist ihm seine Unsicherheit anzusehen, da er sich nun am Ziel seiner Reise wähnt. – »Ja, es gibt einen Weg zur Unsterblichkeit«, entgegnet Uta-napischti mit gespielter Freundlichkeit, »doch dafür musst du auf den Boden der unterirdischen Wasser tauchen, um dort eine dornige Pflanze zu pflücken, die dir deine Jugend wiedergeben wird. Doch sei gewarnt: Nicht alle Kräfte, die es in den verschiedenen Wirklichkeiten gibt, werden deine Unsterblichkeit begrüßen, und mitunter werden sie dir aufzeigen, dass es besser wäre, sie nicht anzustreben.« Trotz dieser Warnung ist Gilgamesch bereits an einen großen Stein herangetreten, um den er ein starkes Seil knotet, das er an seinem Fuß, aber auch an meinem festbindet, ehe er den Stein auf seinen starken Armen zum Wasser trägt und mich zwingt, in seinem Schlepptau zu bleiben. – »Ich werde diese Pflanze auf dem Grund dieses Bodens finden, sie ihm entreißen und nach meiner Rückkehr einem Greis von ihr zu essen geben, um ihre Wirkung gefahrlos zu erproben«, meint Gilgamesch, und mit dem Hineinwerfen des Steines ins wellenanbrandende Wasser zieht es ihn, aber auch mich in die Tiefe der unterirdischen Wasser hinab. Wir sinken immer tiefer, bis wir schlussendlich an den Grund gelangen, auf dem diese seltene Pflanze wächst; Gilgamesch nimmt einen Dolch aus seinem Gürtel und pflückt zunächst die rosenähnliche Dornblume, ehe er das um seinen Fuß gebundene Seil zerschneidet und schnellstmöglich nach oben treibt, während ich an dem Stein gefesselt bleibe und langsam spüre, wie mir die Luft aus den Lungen weicht, sodass mich eine leichte Panik erfüllt. Wild um mich tretend, hauche ich die letzten Reserven meiner verbrauchten Luft in großen Blasen aus und mit meinen letzten Sinneswahrnehmungen greife ich nach einer dieser Blumen auf dem Meeresgrund, stopfe sie in meinen Mund und mit den letzten Luftblasen weicht auch das Leben in mir, das mir auf dieser Reise niemals so wichtig war wie in diesem Moment.
Hustend und nach Luft schnappend wache ich aus meiner grenzwertigen Erfahrungsreise wieder auf und stelle zu meinem Erstaunen fest, dass ich mich in meinem eigenen Bett befinde und der Wecker auf dem Nachttisch mir anzeigt, dass ich mindestens eineinhalb Tage geschlafen haben muss, denn es ist später Nachmittag am übernächsten Tag nach meinem ereignisreichen Ausflug in die Stadt. Nur mit Mühe gelingt es mir aufzustehen, denn meine Muskeln haben sich derart ans Liegen gewöhnt, dass sie gegen jedwede Bewegung mit Schmerzen rebellieren, doch ich zwinge mich hinüber ins Badezimmer, wo ich zunächst die Toilette besuche, ehe ich in den Spiegel sehe und mich erschrecke, denn es ist keineswegs das Bild von mir, das ich erwartet habe, sondern zwar meines, jedoch ein jugendliches, jenes, das momentan meinen Klon ziert. »Ist dies die Realität und bin ich der Klon meines eigenen Ichs?«, frage ich mich und muss mich setzen, denn meine Kraft in den Beinen reicht für diesen Nackenschlag noch nicht aus. Erst nach und nach gelingt es mir, die Bruchstücke meiner Gedanken zusammenzufügen; ich gehe bedächtig und immer auf der Suche nach einem sicheren Halt zurück ins Bett, lege mich hin und warte auf eine entscheidende Veränderung, die mir helfen soll, Ordnung in das vollbrachte Chaos zu bringen. Doch diese kommt nicht, wie erwartet, aus mir selbst heraus, sondern in einer Form, wie ich sie niemals erwartet habe, denn eine gute Stunde später tritt meine ebenfalls um zwanzig Jahre verjüngte Frau herein, die sich überschwänglich freut, dass ich nach meinem langen Schlaf endlich erwacht bin. Ohne auf ihre Liebkosungen einzugehen, springe ich aus dem Bett und suche in meinem Arbeitstisch nach der Adresse und Telefonnummer, die mir mein Klon bei seinem ersten Besuch hinterlassen hat, doch die mit Schriften meiner literarischen Ideen übersäte Schublade birgt keinen Zettel mit seiner Hinterlassenschaft. Wie wild durchsuche ich den ganzen Arbeitsbereich und meine Frau hält einen Sicherheitsabstand zu mir, doch ich finde keine Notiz; was mir jedoch sogleich ins Auge fällt, sind die Veränderungen an meinem Arbeitsplatz, an dem vor meiner Reise mehrere Stapel mit beschriebenem Papier und Briefen gelegen haben. Außerdem fehlt mein Drucker und zudem kann ich nirgendwo meinen Computer finden. »Wohin hast du meine Schreibutensilien geräumt?«, frage ich meine Frau erregt und merke, wie die gefühlte Distanz zwischen uns sich weiter vergrößert, »vor meinem Schlaf sah mein Arbeitstisch völlig anders aus.« – »Ich habe nichts angerührt«, schwört meine Frau, »außer, dass ich diesen einen Brief vom Verlag, den du soeben unter einen anderen Stapel Papier begraben hast, auf deinen Schreibtisch gelegt habe.« – »Welchen Brief meinst du?«, frage ich sie, und als sie mir den Stapel anzeigt, welchen sie meint, und ich den gesuchten Brief darunter entdecke, erschlägt es mich beinahe; ich sinke auf meinen Drehstuhl und blicke aus veränderten Augen in diesem Zimmer umher, das ich nicht als mein neues, sondern als mein altes erkenne. Es ist mein Schlafzimmer vor zwanzig Jahren, als meine Frau noch meine Freundin war und ich mir noch Geld mit Zellenspenden dazuverdiente. »Die Zeit muss sich um zwanzig Jahre zurückgedreht haben«, denke ich, »denn auch der Brief, den ich in den Händen halte, ist jener Brief, in dem mir mein Verlag mitteilt, dass er bereit ist, meinen Erstling auf den Markt zu bringen.« Langsam fahre ich mit meinem Blick über die Absenderadresse hinüber zum Poststempel, und mit dem Erkennen des darin abgedruckten Jahres ist auch für mich jetzt klar, dass dies eine frühere Realität ist als jene, die ich vor meiner Reise verlassen habe. Meine gesamte innere Gefühlswelt bricht in diesem Moment in sich zusammen und mir wird dermaßen schwindelig, dass ich zum Bett zurücktorkele und mich neben meine Freundin niederwerfe, die mir liebkosend, ohne ein Wort zu sagen, den Rücken streichelt, solange, bis es mir endgültig gelingt, meine wirren Gedanken zu sortieren, um zu einer abschließenden Entscheidung zu gelangen. Langsam drehe ich mich um, blicke in ihr erwartungsgespanntes Gesicht und beginne, ihr selbstsicher und entschieden meine Entscheidung bekannt zu geben: »Mit dem heutigen Tage enden meine literarischen Bemühungen, denn ich habe in der letzten Zeit und insbesondere in den letzten Tagen feststellen müssen, welchen Weg man einschlagen muss und welche Gefahren dieser in sich birgt, sodass ich aus festen und freien Stücken mich zu diesem radikalen Schnitt entschieden habe! Vielmehr werde ich mich bereits morgen um ein anderes Studiengebiet, vorsorglich in einem naturwissenschaftlichen Bereich, kümmern, in dem ich einen engeren Rahmen für meine geistige Betätigung gesteckt bekomme. Die Humanbiologie interessiert mich außerordentlich, und vor allem interessiert mich darin die Möglichkeit, Menschen aus Zellen anderer Menschen zu reproduzieren, was vielleicht irgendwann einmal möglich sein wird. Doch jetzt und heute fühle ich mich einfach nur noch müde, und obwohl ich in der letzten Zeit viel geschlafen habe, werde ich diesen Schlaf noch benötigen, um mich von den sorgenden Qualen meines Geistes endgültig zu befreien.« Empfindsam erhalte ich einen intensiven Kuss meiner Freundin, die mir zudem einen erholsamen Schlaf wünscht, um dann aus dem Schlafzimmer zu gehen und mich meiner Entscheidung und ihren geistigen Nachwehen zu überlassen. Ich schließe die Augen und träume von all diesen Dingen erneut, doch dieses Mal als Wissender und nicht mehr als Staunender, sodass ich mich besser kennenlerne, als es mir jemals in der wahren Realität hätte gelingen können.
Am nächsten Morgen erwache ich aus diesem erkenntnisreichen Schlaf, schäle mich tatendurstig aus dem Bett und fühle das erregte Aufwachen meines Körpers, verzichte auf ein Frühstück, sondern gehe direkt an meinen Arbeitsplatz, um die Fetzen dieses lebhaften Traums als letztendlichen Abschluss der schriftstellerischen Tätigkeit niederzuschreiben, da mir bewusst geworden ist, dass es kein Ende geben wird, wenn ich mit allem Schreiben sinnvoll und vollständig abschließe. Mühelos gelingt es mir, den Kontakt mit den Erinnerungen meiner Phantasie nicht abbrechen zu lassen, und ich erreiche es, diesen Text vollständig zusammenzutragen, ihn – und damit auch meine schriftstellerischen Bemühungen – zu beenden und ab diesem Zeitpunkt für immer zu schweigen.