Die Stimme hinterm Schleier

Die Stimme hinterm Schleier

[Versmaß. Veröffentlicht in Worte aus dem Jenseits. Anthologie, 2025]

Die Stimmen hinterm Schleier

1.
Im nächt’gen Hain, wo dunkle Myrten ragen,
Wo bleich der Mond durch Nebelblicke späht,
Hört’ ich ein Wispern, fern, doch ungeschlagen,
Das wie aus ew’ger Gruft herüber weht;
Es war nicht Laut von Wind, nicht Ruf der Eule,
Kein Flüstern Laub’s, das leis im Abend fällt –
Es war der Ruf aus einer andern Sphäre,
Der mahnend mir von fremder Ordnung erzählt.

2.
„O Menschenkind, du Staub im flücht’gen Reigen,“
So hob’s aus finstrer Ferne an zu klingen,
„Wie leicht vergißt du, was die Herzen neigen,
Und welch Gewicht an deinem Handeln hingen;
Nicht jede Tat verweht mit deinem Hauche,
Nicht jedes Wort verlischt im leeren Raum –
Was hier beginnst, wächst dort in andern Gärten,
Als Ernte deines Hoffens oder Traum.“

3.
Da fror mein Herz; der Tau auf allen Zweigen
Ward mir wie kalter Schweiß auf bleicher Stirn,
Und über mir begann der Mond zu steigen,
Wie ein Gericht, das schweigend blickt und fern;
Ich wusst’ im Innern, diese dunklen Mahner,
Sie kannten jede Regung, jede Schuld,
Und was sie sagten, war nicht Trost des Freundes,
Es war das Wort, das fordert – nicht geduldet.

4.
„Du meinst, du gehst allein auf deinen Pfaden,
Doch alle Schritte hallen wider fort;
Im Reich, wo wir von Gottes Atem baden,
Wird jedes Werk gemessen, jedes Wort;
Kein Lächeln stirbt, kein Zorn verweht im Leeren,
Es webt sich still in jenes große Kleid,
Das um die Welt gelegt von Ewigkeit her
Und dich umschlingt, ob fern, ob nah, in Zeit.“

5.
Mir war, als schlügen hundert Flügelpaare
Unsichtbar über meinem scheuen Haupt,
Und Schatten traten aus dem Dickicht, klare
Gestalten, halb aus Licht und Nacht geklaubt;
Sie wiesen mir in stiller, stummen Rede
Den langen Faden, den ich selbst gesponn’ –
Und ich erkannte, daß die kleinsten Regungen
Den großen Strom des Schicksals mitbestimm’n.

6.
Da sprach die Stimm’ – nun leiser, fast wie weinend:
„Erkenn’ und wandle, eh’ das Werk vollbracht,
Denn nichts ist stumm, kein Schritt verweht ins Eine,
Und jede Schuld erwacht in tiefer Nacht;
Doch wer erkennt, den leitet sanft die Stunde,
Der darf im Sturm den sicheren Hafen seh’n –
Drum fürchte nicht die Mahnung aus den Schatten,
Nur wer sie flieht, muß in das Feuer geh’n.“