Die experimentelle Natur von Anton Bruckner – ein Versuch zu einer Analyse

Die experimentelle Natur von Anton Bruckner – ein Versuch zu einer Analyse

[Essay. Veröffentlicht in Die Novelle #3. 2014]

Die experimentelle Natur von Anton Bruckner – ein Versuch zu einer Analyse

Erster Satz: Einstieg

Wenn man ausschließlich auf das Leben Anton Bruckners blickt, kann man schnell zu der Erkenntnis gelangen, dass er zwar ein merkwürdiges, außergesellschaftliches Dasein fristete, aber sicherlich keines, das man als Experiment bezeichnen kann. Constantin Floros fasst die althergebrachte Forschung zusammen: »Schon zu Lebzeiten machte er mit der auffälligen Kleidung und den noch auffälligeren Manieren auf viele den Eindruck eines Sonderlings und kauzigen Menschen, eines Originals. Von keinem Geringeren als von Gustav Mahler stammt das Aperçu: »Bruckner, ein einfältiger Mensch – halb Genie, halb Trottel.« »Floros sieht Bruckner jedoch in einem anderen Licht. Er schreibt, dass Bruckner zeit seines Lebens mit großem Ehrgeiz und Zielstrebigkeit nach finanzieller Sicherheit und gesellschaftlicher Anerkennung strebte. Beides erreichte er erst gegen Ende seines Lebens, als sein langer und beharrlicher Kampf Früchte einbrachte. Floros schreibt dazu: »Bruckner hatte nicht bloß ein starkes Selbstbewußtsein, sondern darüber hinaus auch ein ausgesprochenes Sendungsbewußtsein. Je intensiver man sich mit seiner Biographie befaßt, desto deutlicher wird es, daß die kompositorische Arbeit für ihn das Wichtigste war, ihr unterwarf er seine gesamte Lebensplanung.« Bruckners Leben war außergewöhnlich, aber nicht experimentell. Bei Anton Bruckners Musik ist die Antwort auf die Frage nach der experimentellen Natur allerdings offener. Auf den ersten Blick mögen zwar seine Werke in der Tradition anderer Komponisten stehen, als Verknüpfung vieler genialer Stränge im gewobenen Tonteppich, doch spätestens mit der Fünften entwickelt sich ein Freigeist in den Tonstrukturen, der seiner experimentellen Natur entspringt. »Symptomatisch für sein symphonisches Schaffen ist es aber, daß er die erworbene kompositionstechnische Meisterschaft nicht in den Dienst des Historismus, sondern in den Dienst eines neuartigen Ausdruckswillens stellte.« »Rudolf Louis schrieb über [Bruckner], er habe in einer ganz anderen, »uns völlig fremden Welt« gelebt – eine denkwürdige Aussage, die man desto besser zu verstehen beginnt, je mehr man sich in Bruckners geistige Welt und vor allem in seine Religiosität vertieft.« Die Analyse wird dabei am Ende der realgeschichtlichen Ereignisse begonnen: Mit dem Übergang Bruckners in sein geliebtes Himmelsreich, in seinem Bett, das in seiner Wiener Wohnung stand, die zu einem toten Ort wurde, wo seine kompositorischen Meisterwerke mit der unvollendeten Neunten aufhörten.

Zweiter Satz: Fremdartigkeit

Trotz oder gerade wegen der Monumentalität der beiden letzten Symphonien begegneten die Hörer Bruckner oft mit großer Ablehnung. Zu fremdartig, zu grenzenlos schien seine Komposition zu sein. Floros fasst diesen Punkt aus heutiger Sicht zusammen: »Noch heute sind die Meinungen über die Bedeutung des Symphonikers Bruckner nicht einhellig. Seine Symphonik wird immer noch oft für fremdartig gehalten. […] Bruckner [ist] als Symphoniker eine inkommensurable Erscheinung.« Fremdartigkeit ist eines der stärksten Wörter, die zur Beschreibung eines Wesens existieren. Darin verborgen liegen jene Urinstinkte des Menschen, sich von etwas Fremdartigem zu distanzieren, da es nicht in die eigene Lebenswelt hineinpasst. Auch Bruckners Interesse an Morbidem bestärkte diese Fremdartigkeit: »Tatsache ist, daß Bruckner sowohl Menschen in extremen Situationen als auch dem Außergewöhnlichen überhaupt lebhaftes Interesse entgegenbrachte. […] Außerdem interessierte er sich für pathologische und medizinische Fälle.« Immer wieder beschäftigte sich Bruckner mit dem Tod oder mit Sequenzen des Todes – ob in einer Leichenhalle, auf einem Friedhof oder etwa bei berüchtigten Gewaltverbrechen. Diese Beschäftigung mit dem Tod anderer stand unweigerlich neben der Beschäftigung mit dem eigenen Tod. Die Fremdartigkeit der Neunten Symphonie liegt insbesondere in ihrem todessüchtigen, experimentellen Charakter, der jedoch nicht plakativ hervortritt, sondern wie bei allen Werken Bruckners in »verschlüsselter Weise« eingebaut ist. Lorin Maazel schreibt dazu: »Anton Bruckner schuf eine Welt mit einer eigenen Topographie, eigenen Naturgesetzen und einer spezifischen philosophischen Dimension. Der Raum hat dort eine andere Funktion. […] In Bruckners Landschaft finden wir gewaltige Gebirgsmassive und dunkle Täler, durch welche heiter idyllische aber auch mächtige und ehrfurchtsvolle Klänge ziehen. Seine Musik ist trotz ihrer Bindung an die klassische Sonatenform viel weniger zielgerichtet als die der meisten anderen Symphoniker […]. Sie wird zur zeitlosen Zeit.« Gerade die letzten Symphonien stehen außerhalb der gesellschaftlichen Zeit. Mit seinem Willen, seine Neunte Symphonie niemand anderem als Gott zu widmen, erhob Bruckner das Tonwerk zu einer übergroßen Erscheinung.

Dritter Satz: Bruckners Neunte als einziges Experiment

Vor dieser übergroßen Erscheinung der Neunten schreckten sogar Dirigenten zurück. Benjamin-Gunnar Cohrs führt Bruckners Freund Ferdinand Löwe an, der bei »den Proben zur Uraufführung der Neunten am 11. Februar 1903 in Wien […] vor ihrer radikalen Originalität zurück[schrak].« Bruckners Neunte ist ein einziges Experiment. Ausgerichtet auf ein zentrales chromatisches Motiv, das die Verbindung zum Schlussmotiv der Achten bildet, begünstigt sie Assoziationen mit Totenglocken und Sterbesentenzen. »Die Introduktion des Finales der Neunten ist also aus der Vorstellung der Totenuhr, der Vorstellung eines Menschen, der im Sterben liegt, konzipiert«, schreibt Floros. Was aber kann experimenteller als die Beschäftigung des Menschen mit seinem eigenen Tode sein? Ausgehend von jedweder philosophischen Schule – selbst jener, die jegliche Gottwirkung in dieser Welt negiert – ist der Tod eines der zentralen menschlichen Ereignisse, das mystischer kaum sein könnte. Das nicht vollendete Finale ist aber nicht der einzige Hinweis auf den experimentellen Charakter der Neunten. Floros meint:

»[Es] läßt darauf schließen, daß Bruckner im Adagio der Neunten seinen Todesahnungen, seinem religiösen Glauben und seiner Hoffnung auf Gottes Erbarmen rührenden künstlerischen Ausdruck verlieh.« Ausgehend vom Adagio erklärt Cohrs, dass das begonnene, aber nicht mehr vollendete Finale der Neunten die Kulmination des experimentellen Umgangs mit Bruckners eigenem Tod darstellt: »Auf die Spitze getrieben wird die Problematik der Defragmentierung ohne Zweifel in der Neunten Symphonie, wo Bruckner es wagt, das Sterben des musikalischen Materials als Metapher seines eigenen Sterbens zum Subjekt der Musik selbst zu machen.«

John A. Phillips resümiert, dass Bruckner zu diesem Zeitpunkt seines langen Schaffens nie innovativer war. Er führt weiter aus, dass Bruckners öffentliche Erklärung, Gott seine letzte Symphonie zu widmen, zeige, wie sehr er diese Neunte als sein Meisterwerk ansah. Die Neunte sollte der Höhepunkt seines Schaffens werden.

Vierter Satz: Conclusio

Diese Grenzerfahrung des eigenen Todes zeigt die übermenschliche kompositorische Tonkunst der Neunten. Nikolaus Harnoncourt merkt an: »Wir sind alle auf das Höchste überrascht, wie fortschrittlich, wie außerhalb seiner Zeit Bruckner steht: man hat den Eindruck, es wäre ein Stein vom Mond heruntergefallen.« Dieser Schluss deckt sich mit der Auffassung Constantin Floros, der Bruckners Formprinzip grundsätzlich von dem der Klassik unterscheidet. »Bruckners Interesse für das Außergewöhnliche beschränkt sich nicht auf wissenschaftliche Erkenntnisse und Grenzsituationen des Daseins, sondern erstreckt sich auch auf das weite Gebiet der Kompositionswissenschaft.« Diese Grenzsituationen im Zusammenspiel mit seinen Todesahnungen machen Bruckner zu einem experimentellen Tonkünstler. Welche Neuerungen und Ideen in Bruckners Symphonik liegen, wird besonders deutlich, wenn man auf die Zeitzeugenaussagen schaut. Gerade die Wiener Musikkritiker sahen in Bruckner »beiweitem de[n] Gefährlichste[n] unter den musikalischen Neuerern des Tages.« Benjamin-Gunnar Cohrs erfasst Hanslicks Kommentierung ebenfalls in diesem Sinne:

»In seiner Symphonik liegt eine bis heute nur vereinzelt bemerkte Sprengkraft, die Bruckners Zeitgenossen aber durchaus wahrgenommen, vielleicht gar als Bedrohung empfunden haben. Kein Geringerer als Eduard Hanslick hatte schließlich bereits 1885 scharfsinnig erkannt: »Es bleibt ein psychologisches Räthsel, wie dieser sanfteste und friedfertigste aller Menschen – zu den jüngsten gehört er auch nicht mehr – im Moment des Componirens zum Anarchisten wird.« »Hanslicks Aussage muss natürlich aus heutiger Sicht widersprochen werden. Bruckner war sicherlich kein kompositorischer Anarchist, sondern er wagte sich in Grenzbereiche vor, die sich mit den Grenzbereichen des Lebens deckten. Diese Grenzen vermochte er nur aufgrund seiner Experimentalität zu erkunden, indem er sein Erlerntes immer weiter in Richtung dieser Grenze verschob, so weit, bis er irgendwann den letzten Ort, den Totenort seines Lebens, erreichte: seine persönliche Himmelfahrt zu Gott.