Die Dunkelheit
[Kurzgeschichte, veröffentlicht in Prolog 26: Hell und Dunkel, 2023]
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Die Dunkelheit
An jenem Tag fiel ich nach getanem Tagwerk wie ein Stein ins Bett. Mir schmerzte der ganze Körper, denn ich hatte über meine eigentliche körperliche Kraft hinaus meine Arbeiten erledigt. Jeder Knochen und jeder Muskel schrie in mir nach einer Linderung der Schmerzen und ich sehnte mich nach einem erholsamen Schlaf. Die letzten Nächte hatte ich lange und traumlos geschlafen, ohne dass ich mich am nächsten Morgen erholt fühlte. Vielmehr empfand ich mein allgemeines Empfinden als gerädert, und oft war der Zustand nach dem Aufstehen noch schlimmer als der, mit dem ich schlafen gegangen war.
In dieser Nacht aber kamen dann die Träume zurück. Wo vorher restlose Dunkelheit meine geistige Welt umnachtete, erleuchtete nun ein tagheller Augenblick meine Traumwelt: Ich stand inmitten eines mir unbekannten Dorfes und konnte dem Treiben der Menschen zusehen, ohne dass ich eine Ahnung davon hatte, was sie taten, und ohne dass ich das Gefühl besaß, dass sie wussten, wie ich sie beobachtete. So vergingen die Stunden, die ich auf dem zentralen Platz des Dorfes stand und den Menschen dabei zusah, was sie taten – ich tat derweil nichts anderes als zuzuschauen. Das Verstehen hatte ich ausgeblendet, ich verstand nichts. Das Erkennen und das Nachdenken waren ebenfalls ausgeschaltet, ich erkannte nichts, über das ich nachdenken konnte. Es war trotz aller Helligkeit schwarz um mich herum.
Nach einer geraumen Zeit vermochte ich es irgendwann, mich von der bisherigen Stelle zu bewegen und durch das Dorf zu wandern. Ich folgte geschäftig aussehenden Menschen und beobachtete, wie sie durch die engen Straßen hetzten, einem Ziel entgegen – irgendeinem Ziel scheinbar. Zuweilen erhaschte ich einen kurzen Blick in eines der Häuser, in dem die Menschen, denen ich folgte, verschwanden, und zu anderen Zeiten konnte ich mit ansehen, wie Dorfbewohner aus den Häusern kamen, um sich in den Strom der sich fortbewegenden Menschen einzureihen und darin unterzugehen.
Nach einer Weile hatte ich das Gefühl, dass sich hinter den Bewegungen der einzelnen ein System verbarg, das zusammengenommen ein aufeinander abgestimmtes System war, in das sich die Menschen einordneten und ihren Weg abgingen, ohne dass sie einen Sinn dafür hatten, was ihre Aufgabe im großen Räderwerk war. Oder besser: Es war ihre einzige Aufgabe, dem System zu folgen, aber nicht, ihrer ureigensten Aufgabe nachzufolgen: dem Menschsein. Oder noch schärfer gefasst: Da es schien, dass die ureigenste Aufgabe der Dorfbewohner die Einordnung in das System der Laufwege war, hatten sie kein Eigenleben, besaßen keinerlei Eigenfunktion und Eigenantrieb, sondern waren Quasimaschinen, die gelenkt ihren willenlosen Aufgaben nachgingen, ohne aus dem großen System auszuscheren.
Sogleich dachte ich daran, dass ich vielleicht der einzige im ganzen Dorf war, der außerhalb des Systems agierte – und wenn das stimmte: Was würde passieren, wenn ich einen anderen Dorfbewohner dazu brachte, aus dem System auszuscheren? Unter Zwang und Asymmetrie werden erst die Stärken und Schwächen eines Systems sichtbar, war ich mir sicher, und so begann ich, einige der Vorbeilaufenden anzurempeln und aus dem vorbedachten System zu werfen. Siehe da, es gelang mir, in die Gleichförmigkeit einzudringen, denn die so aus dem gleichgeschalteten System Herausgelösten verloren ihre gesamte Orientierung und liefen so lange kreuz und quer durch die Straßen, bis sie einen weiteren Menschen anrempelten und auch diesen aus der Spur brachten. Nun war es an der Zeit, dass ich mich in Sicherheit flüchtete, denn die Unkontrollierbarkeit der Bewegungen der Einzelnen innerhalb der inzwischen anarchisch organisierten Gruppe wurde zu einem Risiko für alle anderen – somit auch für mich.
Ich flüchtete in einen Glockenturm, der insoweit seinen Charme hatte, als ich aus der Höhe direkt auf den Hauptplatz blicken konnte, und von dort oben sah ich mit an, wie die Masse der Menschen unkontrolliert gegeneinanderstieß und jeder für sich aus dem System ausbrach, das schon lange kein System mehr war. Das einzige, das nun herrschte, war Chaos, und ich bemerkte mit einem Mal, wie die Schatten auf dem Platz wuchsen, und als ich mich umdrehte, erkannte ich, dass die Sonne bald den Horizont erreichen würde. Ich suchte mir im Glockenturm einen windgeschützten Platz, von dem ich mittels eines kurzen Anhebens des Kopfes einen Teil des Dorfplatzes einsehen konnte, und schlief ein.
Die Nacht oben im Glockenturm war geprägt von völliger Dunkelheit und einer allumfassenden Kälte, die ich in dieser Form noch niemals in meinem gesamten Leben verspürt hatte. Wie froh war ich, als ich die ersten Sonnenstrahlen des neuen Tages zu sehen bekam! Moment für Moment wurde es wärmer und wärmer, und als ich die Kälte aus meinem Körper vertrieben hatte, wagte ich es, meinen Kopf so weit zu heben, dass ich auf den Dorfplatz sehen konnte – und was musste ich zu meinem Schrecken erkennen: Alles war wieder in völliger Ordnung! Das System funktionierte wieder reibungslos! Langsam ließ ich den Kopf sinken und legte mein Ohr auf den kalten Stein des Glockenturms. Plötzlich schmerzten alle meine Knochen und Muskeln und ein übermächtiger Krampf bezwang meinen Körper, als ich in völliger Dunkelheit aufwachte und keine Kraft mehr besaß, um auch nur in mich selbst hineinzuschreien.