Das sonore Piepen
[Kurzgeschichte, veröffentlicht in Traum/ etcetera 48/ Mai 2012]
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Das sonore Piepen
Als ich an diesem düsteren Morgen, noch weit vor dem Aufgehen der Sonne, um exakt 06:13 meine Zeitkarte vor die elektronische Zeiterfassungsanlage halte und auf das sonore Piepen warte, bemerke ich, wie die anderen, die Privilegierten, in meinem Rücken an mir vorbeischleichen, jene geifernden Machtwesen, die auf eine andere Art und Weise angestellt sind, zumindest anders als ich auf meine sklavische Art und Weise. Mit diesem kleinen Piepen bleibe ich in der Bringschuld zu meinem Arbeitgeber; ich muss dafür sorgen, dass ich beweise, dass ich arbeiten gekommen bin, um das spärliche Gehalt, das am Ende des Monats mein Konto für weniger als zwei Tage ziert, einigermaßen erklärbar zu machen, denn sonst würde der Arbeitgeber wie eine Heuschrecke darüber herfallen und es einfach in sich einverleiben. Einem niederen Insekt gleich, einem Gewürm, einem Käfer, der von einem Menschen achtlos mit dem polierten und gewichsten Schuhwerk zerquetscht wird, fühle ich mich, während mir die Blicke der anderen zufallen, die wissenden, achtlos dahin geworfenen Blicke, dieselben, die man bemerkt, wenn ein Straßenköter die Straße entlangläuft, ohne Achtung und ohne Respekt vor dem Leben. Einem Leben, das sich nichts sehnlicher wünscht als Sicherheit; Sicherheit, dass genügend Essen vorhanden ist; Sicherheit, dass das Leben ausreichend sicher ist; Sicherheit, dass man sich in der eigenen Gesellschaft in gewissen Maßen bewegen kann. Doch hier im Flur, vor dem Automaten, der mein Arbeitsleben allumfassend für den Arbeitgeber kontrolliert, fühle ich mich unsicher – und wo man sich unsicher fühlt, da ist man auf keinen Fall sicher – selbst, wenn irgendwer permanent neben mir stehen würde und papageienartig im Sprechrhythmus mir beteuert, dass nichts, aber auch rein gar nichts in der Welt zu fürchten sei, und am wenigsten er selber. Den Weg ins Büro gehe ich mit wachem Blick nach allen Seiten, darauf gefasst, dass mich irgendwer anfällt – sei es körperlich oder auch mit einer monströsen Aufgabe. Den Fluchtweg ins Großraumbüro unbeschadet überstehend, sehe ich einen Teil meines Teams bereits versammelt, aber gut versteckt hinter den einzelnen Trennwänden, die uns unsichtbar machen sollen: Einzelwesen in der Masse, getrennt, aber voneinander abhängig. Ich habe schon immer den schlechtesten aller denkbaren Plätze; genau jenen, der so platziert ist, dass der Schrecken immer im Rücken erscheint, und bei großen Anschleichkünsten oder hoher eigener Konzentration kann das bedeuten, dass ich als niederes Insekt schon in der Falle sitze, ohne etwas davon zu merken. Insbesondere mein Chef-Chef besitzt die Angewohnheit, sich so an mich heranzuschleichen und mir eine Frage zu stellen, dass ich aus dem Gedankengang heraus antworten muss – ansonsten würde ich wahrscheinlich mit Haut und Haaren verschlungen. Was bei diesen dahin genuschelten Gedankenfetzen herauskommt, ist jedoch des Öfteren von einer vergleichbaren Qualität, sodass mir nach wenigen Sekunden des frontalen Angriffs meine Stellung innerhalb der Hackordnung erneut bewusst wird: Ohne Futtertiere gibt es keine Herrenwesen! Doch an diesem Morgen finde ich keinen Plage in meinem Posteingang, ein paar unwilde Anfragen, einige wenige Sonderlocken, die irgendein Frosch gekämmt haben möchte, aber nichts Wildes. Ich beginne mit der Arbeit, steigere meine Wachheit, werde plötzlich aktiv, finde mein konzentriertes Leistungsmaximum – und kaum, dass ich es erreicht habe, spüre ich den gewichsten Schuh, der mich wie eine fleischige Made, die gerade aus dem Speck erscheint, auf dem Boden der Realität zerquetscht. Der Chef-Chef sitzt in meinem Nacken, hat sich wie eine Python an mich herangeschlichen und beobachtet mich wie ein Beutetier, wie das unschuldige Häschen, das zu spät merkt, dass es an diesem Tag die Hauptspeise mimt, und ehe ich tatsächlich eine Chance habe, mich aus der Situation zu winden, antworte ich in meinem gewohnten Stakkato-Tonfall, der meinen Chef-Chef dazu bringt, sein Maul derart weit aufzusperren, dass ich ohne Schwierigkeiten nachschauen kann, ob er noch seine Mandeln besitzt. Ich bettle förmlich um eine Ohrfeige, einfach nur darum, weil es ein körperlicher Schmerz ist, doch mein Chef-Chef hat kaum mehr im Sinn als meine Arbeitszeit, die auch ohne ihn nur unter den allerbesten Umständen für die ganzen anstehenden Aufgaben ausreichend ist, noch so viel weiter zu verdichten, dass es endlich an der Zeit ist, mein Arbeitsleben für immer von mir zu lassen. Der Bogen ist überspannt, ich ein niederes Tier, ein Wesen ohne Wert, außer den allerletzten Wert, noch gekündigt zu werden. Ich stoppe mitten in meiner Antwort, stehe auf, begegne meinem Chef-Chef auf Augenhöhe, trage die ganze Gewalt, den ganzen Frust meiner Erniedrigungen in mir, balle in der Tasche meine Faust, bin auf Augenhöhe, blicke ihm fest in die Augen, starre womöglich sabbernd aus dem Mundwinkel, der Geifer, der Schaum, bleibe auf Augenhöhe, irgendwie, rieche mit einem Mal die Veränderung, den Schweiß, die Unsicherheit, die Angst meines Gegenübers, beobachte die keimende Unklarheit des Moments in seiner Mimik, in seinen Augen, die zu rotieren beginnen, seine Gestik, seine Gestalt, seine Persönlichkeit, die nur dadurch ein Rückgrat besitzt, weil die Arbeitsstelle einen Titel führt, als Mauer, als Grenze, als Linie, die niemals überschritten werden darf! Aber genau das tue ich in diesem Moment, trete mit meinen sonst in der Scheiße des Lebens stehenden Krähenfüßen über die Linie, beflecke den sauberen, englisch gestutzten Rasen, scheiße auf die Welt, ihre Regeln, die festgezurrten Normen, auf alles. Die Gedanken meines Chef-Chefs purzeln über- und untereinander, ich sehe an ihm, dass er kurz vor dem Explodieren ist, doch dann passiert etwas, was ich nicht erwarte, denn er dreht sich um und geht. Wortlos. Ohne eine Androhung, ohne einen Kommentar, ohne mich zu erniedrigen. Mein Aufstand hat Wirkung gezeigt, ich bin für mich selbst gegen die herrschende Schicht aufgestanden und habe mich selbst erhöht, indem ich den Erhöhten die Stirn geboten habe. Erst jetzt bemerke ich die Blicke meiner Kollegen, die sich wie scheue Hunde vor dem Räudigen zurückziehen, als ich ihrem Blick begegne. Mit einem Mal scheint die Luft verändert. Sie ist reiner, stärker, frischer, riecht nach Freiheit, Erlösung, Hoffnung und nach einem klaren Punktsieg nach Runden. Ich atme tief durch, setze mich an meinen Platz zurück, suche meine Arbeit, konzentriere mich, lasse mich aber nicht mehr stören. So vergeht der Arbeitstag in höchstmöglicher Ruhe und Sittsamkeit, bis ich auf dem Weg nach Hause an der Zeiterfassungsanlage vorbeigehe, reflexartig meine Zeitkarte hervorhole und sie bereits davorhalten will, als ich mir darüber im Klaren bin, dass ich eine Revolte nicht nur antäuschen, sondern auch durchziehen muss. Somit stecke ich meine Zeitkarte zurück in meine Tasche und gehe mit dem Stolz des Tages nach draußen, in die Dunkelheit des winterlichen Abends, in die Nacht, atme die Kälte ein, hauche sie erwärmt aus, beobachte meinen Atem, der sich im Licht der Straßenlaternen verflüchtigt. Das Kribbeln der Kälte wird noch verstärkt durch das Kribbeln der Macht, die ich verspüre, jene Macht, die mich in Zukunft davor beschützen wird, dass die anderen Mächtigen mich als ein niederes Insekt ansehen, welches sie achtlos zerquetschen können. Nein, jetzt bin ich ein Teil von ihnen, jetzt müssen sie mich akzeptieren, jetzt…
»Wären Sie so nett, sich endlich einzuloggen?«, höre ich mit einem Mal eine Stimme hinter mir. »Wir anderen würden auch gerne mit der Arbeit beginnen!«
Ich drehe mich um und sehe eine Kolonne Insekten hinter mir stehen, Arbeitsbienen, deren einziger Lebenszweck das Ausgebeutetwerden ist. Ich blicke zurück zur Zeiterfassungsanlage, suche die darauf befindliche Uhrzeit und sehe, wie diese gerade auf 06:15 umspringt, halte meine Zeitkarte davor und warte auf das sonore Piepen, das mir bescheinigt, wo sich mein Platz in diesem Gefüge befindet.