Anna und das Wissen der Welt

Anna und das Wissen der Welt

[Kurzgeschichte, veröffentlicht in #kkl33 Vollendung, 2023]

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Anna und das Wissen der Menschen

Als Anna merkte, dass alles, was sie wusste, dass alles, was sie in der Welt entdecken konnte, dass alle Sätze, alle Gedanken, die sie zu sagen und zu denken vermochte, bereits von einem Menschen erfunden, gedacht, gelernt, entdeckt und gesagt worden waren, verspürte sie zum ersten Mal in ihrem Leben die Last des menschlichen Wissens.

Als Anna verstand, dass alles, was sie benutzte, was sie artikulierte, was sie verstehen konnte, was sie zu sehen und zu berühren, zu hören und zu schmecken vermochte, bereits von einem Menschen durchdacht und durchlebt worden war, erlebte sie die ungemeine Verantwortung, die mit dieser Last des menschlichen Wissens einherging.

Als Anna dann durchschaute, dass sie alles irgendwann einmal in ihrem Leben gelernt, erfahren, beigebracht oder auch wieder vergessen hatte, sich daran erinnerte, wie sie Worte las, Geräusche vernahm, Gerüche entdeckte, Menschen und Gegenstände erfühlte, die Welt mit ihren Sinnen begriff, empfand sie die Weite und Vielfalt des menschlichen Wissens.

Als Anna am Ende begriff, welche Rolle sie als Lernende, Hüterin und Mehrende des menschlichen Wissens spielte, war es ihr, als würde die schwere Last von ihr abfallen, und ihr Blick richtete sich nach vorne, in die Weite, dorthin, wohin sie nur gelangen konnte, indem sie das menschliche Wissen für sich und alle Menschen sinnvoll einsetzte.

Als Anna in der Weite ihr Ziel ausmachte, wusste sie, dass das menschliche Wissen genau dann keine Last mehr war, wenn der Mensch aufhörte, vor lauter Ehrfurcht zurückzublicken.