An einem Dezembertag in Boston
[Kurzgeschichte. Veröffentlicht in Fantasia 1205e. 2025]

An einem Dezembertag in Boston
Friends! Brethren! Countrymen! That worst of Plagues, the detested tea shipped for this Port by the East India Company, is now arrived in the Harbour: the hour of destruction, of manly opposition to the machinations of Tyranny, stares you in the Face; Every Friend to his Country, to Himself, and to Posterity, is now called upon to meet at Faneuil Hall, at nice o’clock this day, at which time the bells will ring to make united and successful resistance to this last, worst and most destructive measure of Administration…Boston, Nov. 29, 1773.
(Text eines Flugblattes, das den Boykott der englischen Teelieferungen nach Boston 1773 befeuerte, woraus sich die Boston Tea Party am 16.12.1773 entwickelte)
I
Langsam, sich seiner Würde als Mitglied des Unterhauses in Massachusetts und als anerkannter Händler in der Bostoner Kaufmannsgilde bewusst, ging Samuel Adams unter dem tosenden Applaus der Sons of Liberty zum Rednerpult und wartete. Er wartete auf den Moment, in dem er seine Rede peitschend den fiebernden Gleichgesinnten entgegenwerfen würde, eine Rede, die die schon aufgeschäumte Stimmung zum Überschäumen bringen konnte – doch eben genau das wollte Samuel Adams an diesem Abend nicht erreichen. Er wollte nicht erreichen, dass sich die Sons of Liberty von ihrer Begeisterung treiben ließen, denn sein Ziel war es, die Bevölkerung auf die Seite ihrer Bewegung zu ziehen. Samuel Adams wusste, dass es ohne die Bevölkerung nicht ging. Kein Aufstand gegen die Obrigkeit hatte eine Chance, wenn man nicht das Volk hinter sich hatte.
»Die hohen Herren im englischen Ober- und Unterhaus haben in ihrer letzten Session beschlossen, gewisse Zölle aufzuheben!«, begann Samuel Adams demnach auch sachlich und ohne propagandistische Wortwahl. »Auch wenn sie dies nicht aus Milde taten, sondern aus kalter Berechnung, begingen sie zudem den großen Fehler, die Zölle auf den Tee nicht aufzuheben! Wie auch schon zuvor behelfen wir uns mit Lösungen, die uns weiterhin mit Tee versorgen! Dabei muss die Krone erkennen, dass unsere Macht größer ist, als sie allgemein für möglich gehalten hat! Als wir die britischen Tees boykottierten, brachen die Preise ein. Mit den sinkenden Preisen knickte die East India Company ein! Mit der East India Company brach die Krone ein und stoppte das unsägliche Treiben! Aber sie vergaßen die Zölle auf den Tee!«
Samuel Adams machte eine kurze Pause und stellte zufrieden fest, dass sich die Masse der Anwesenden etwas beruhigt hatte, ohne ihre Aufmerksamkeit zu verlieren. Er hatte sie trotz seiner Sachlichkeit in der Hand. Jetzt war es an der Zeit, den Schwung seiner Rede wieder anzuziehen.
»Es kann nicht sein, dass wir als freie Amerikaner kein vollständiges Recht auf Eigentum haben! Es kann nicht sein, dass die britische Krone die Steuern und Zölle festsetzen kann, wie es ihr beliebt! Die Zölle auf die Teeimporte sind nicht mit uns vereinbart! Und damit sind es nicht nur Zölle und Steuern auf die Tees im Allgemeinen, sondern Zölle und Steuern auf jeden von uns, auf jeden Amerikaner!«
Das war es, was die Sons of Liberty hören wollten. Diese direkte Ansprache, dass die britische Krone ungerechte Entscheidungen traf, die von den Kolonisten in der Neuen Welt ausgebadet werden mussten – ohne ein Recht der Mitsprache. Dieses Recht bestand im Prinzip zwar, konnte aber nur von den Wahlmännern wahrgenommen werden, wenn man vor Ort, im britischen Parlament, anwesend war. Dies war nur wenigen vorbehalten, und deren Lobby war nicht gerade eindrucksvoll. Und gerade diese fehlende Mitbestimmung hatte diese jungen Enthusiasten zusammengeschworen, seit die Krone unter dem britischen Premierminister George Grenville vor einigen Jahren die Stempelgesetze erlassen hatte.
»Wir dürfen uns nicht zu Sklaven einer britischen Herrschaft machen lassen!«, fuhr Samuel Adams nach der kurzen Pause weiter fort. »Wir dürfen unseren Traum von Freiheit nicht aufgeben, weil wir uns nicht gegen die Krone wehren! Wir müssen uns gegen Gesetze wehren, die uns auf Kosten der Krone benachteiligen, obwohl wir wählende Bürger der Krone sind! Diese Pläne, die die Regierung gegen uns vollführt, sind ein Angriff auf unsere Freiheit! Sie sind ein Angriff auf unser Leben, auf unsere Eigenständigkeit, auf uns als Amerikaner!«
Nun schrie Samuel Adams zu der Masse und sah, was seine Worte in der tobenden Menge auslösten.
»Der Aufstand gegen diese Art der Unterdrückung ist die Pflicht eines jeden Amerikaners! Sie ist die Pflicht eines jeden von uns! Sie muss das Blut sein, das durch unsere Adern fließt! Es muss unser Schicksal sein!«
Es brauchte nicht mehr, um die Masse zu einem wütenden Mob werden zu lassen. In diesem Moment hätte er nur den Namen des Gouverneurs von Massachusetts, Thomas Hutchinson, erwähnen müssen, und er war sich sicher, dass dieser Mob marodierend durch die Straßen zum Haus des Gouverneurs gezogen wäre, um ihn aus dem Bett zu reißen.
Doch Samuel Adams hatte andere Pläne.
»Ihr habt alle schon von der bevorstehenden Ankunft von Teelieferungen durch die East India Company gehört! Die Schiffe werden in unseren Hafen, hier in Boston, demnächst einlaufen! Der geladene Tee soll so billig angeboten werden, dass all unsere Geschäfte, die wir mühsam, mit dem Schweiße unseres Angesichtes errichtet haben, vor dem Ruin stehen werden, wenn die Preise so gewaltig ins Bodenlose sinken! Deswegen appelliere ich an euch, meine Mitstreiter, dass wir es nicht zulassen, dass diese Ladungen im Hafen gelöscht werden! Wir werden alles tun, um eine Entladung zu verhindern! Und sei es, dass wir die Kapitäne dazu zwingen müssen! Dieser Kampf ist unsere Pflicht! Unsere Pflicht als Amerikaner!«
Samuel Adams blieb auf dem Podest stehen und sah, wie die Menge ihm aufgeputscht zujubelte. Er wusste, dass sie ihm und seinen Worten folgen würden. Doch erst, als er John Hancock im Publikum, an der Seite des Raumes, wahrnahm, wie dieser gerade aus dem Saal verschwand, wusste Samuel Adams, dass die Aussichten nicht schlecht standen. Auch wenn es ihn drängte, seinem Freund im Geiste hinterherzueilen, wusste Samuel Adams, dass er an diesem Abend bei den Sons of Liberty bleiben musste. Er war ihre Stimme und ihr Anführer geworden, der Mann, der die Richtung vorgab, die in diesem Moment nur ein Ziel kannte: den Bostoner Hafen.
II
Die Wut der Sons of Liberty erhielt ihr Ziel nur wenige Tage später, als die Dartmouth in den Bostoner Hafen einlief. Am Pier stand bereits eine große Menschenmenge an Schaulustigen, und auch Kapitän Francis Rotch hatte schon durch die Seemänner des Schleppers vernommen, dass es wohl keinen angenehmen und freudigen Empfang für seine Einfahrt geben würde.
Somit blieb die Stimmung auch gedämpft, als der Kapitän zwar befahl, das Schiff zu vertäuen, aber keinen Befehl zur Löschung der Ladung aussprach. Mit dem Schutz von Soldaten des Gouverneurs verließ der Kapitän das bewachte Schiff und gelangte ohne tätlichen Angriff zur Residenz von Thomas Hutchinson.
Nach einem kurzen Gespräch, in dem der Kapitän wie auch der Gouverneur ihre Sichtweisen darlegten, entschieden sich die beiden, den Weg der Konfrontation auszuschlagen und den Weg des Kompromisses zu suchen. Thomas Hutchinson, der selbst nur noch wenig Rückhalt in der Bevölkerung und noch weitaus weniger Rückhalt unter den Händlern und Politikern der Kolonie hatte, wusste nur zu genau, dass er mit der Schaffung eines Präzedenzfalles seinen eigenen Fall heraufbeschwören konnte. Aber so weit wie der Kapitän wollte er auch nicht gehen. Dafür war Thomas Hutchinson ein viel zu eiskalt berechnender Machtmensch.
Um Zeit zu gewinnen und darauf zu hoffen, dass die Bostoner in der winterlichen Kälte des Dezembers die Lust an einem offenen Streit im Hafen verlieren würden, erklärte der Gouverneur, dass die Dartmouth seit dem Einlaufen und Festmachen im Hafen dem Bostoner Zollamt unterstellt sei. Der Tee verbleibe aber vorerst auf dem Schiff.
Diese sich ergebene Pattsituation war auch für Samuel Adams und John Hancock besonders delikat, denn sie wussten genau, was der Gouverneur mit dieser Hinhaltetaktik bezweckte. Während das Schiff nur im Hafen lag, gab es keinerlei Grund, etwas dagegen zu unternehmen. Und da der Gouverneur den Vorschlag des Kapitäns abgelehnt hatte, wieder in Richtung der britischen Inseln auszulaufen, weil er darauf bestand, dass die anfallenden Importzölle gezahlt werden sollten, bewegte sich rein gar nichts. Das einzige, das Bewegung in die festgefahrene Situation bringen konnte, war das Ultimatum, das Hutchison gesetzt hatte, um den Kapitän zum Einschwenken zu bewegen.
III
Das Ultimatum näherte sich seinem Ende, und Francis Rotch, der Kapitän der Dartmouth, sah sich gezwungen, zu handeln, da ihm drohte, zwischen Pest und Cholera wählen zu müssen. Inzwischen waren auch zwei andere Schiffe aus England eingetroffen, die Eleanor und die Beaver, deren Kapitäne vor demselben Problem standen und ihnen ebenfalls keine Ausweichmöglichkeiten einfielen.
Kapitän Rotch setzte somit alles auf eine Karte und startete den letzten Verhandlungsversuch mit dem Gouverneur, indem er sich der aufgebrachten Versammlung der Sons of Liberty stellte, die sich im Old South Meeting House eingefunden hatte.
Die Versammlung war deswegen so aufgebracht, weil das Gerücht durch Boston zog, dass die drei Schiffe alsbald die Löschung ihrer Ladung beginnen wollten, und Kapitän Rotch ließ sich dazu drängen, mit einem allerletzten Versuch zum Gouverneur zu gehen, um dort das Auslaufen ohne Zahlung der Importzölle zu erreichen.
Der Gouverneur hörte sich ein weiteres Mal die Klagen des Kapitäns an und entschied, ohne groß mit der Wimper zu zucken, dass er sich nicht von einigen Bostoner Händlern – mit Namen Hancock und Adams – herumschubsen ließe, und beschied das Verhandlungsangebot des Kapitäns abschlägig.
Als der Kapitän mit der Antwort des Gouverneurs zurück zu den Mitgliedern der Sons of Liberty kam, entbrannte deren Zorn, und der wütende Mob zog durch die Straßen in Richtung des Hafens. Da niemand der Mitglieder mit einer Zustimmung gerechnet hatte, war man auf das, was jetzt geschehen sollte, gut vorbereitet.
Verkleidet als Mohawk-Indianer – mit Federn in den Hüten, Kriegsbemalungen im Gesicht und einem Beil in der Hand – gelangte man in den Hafen, stürmte mit der Macht der Massen an Schaulustigen auf die Wachsoldaten des Gouverneurs zu und sah ohne eine gewaltsame Aktion mit an, wie die verschreckten Soldaten die Flinte ins Korn warfen und flohen.
Auch die Seeleute zogen sich beim Anblick der grausam aussehenden Angreifer in die Ecken des Schiffs zurück und ließen es zu, dass die Frachträume geöffnet wurden. Einer nach dem anderen Indianer verschwand darin, während andere mit wilden Grimassen und dem Schwingen ihrer Beile dafür sorgten, dass niemand auf den Gedanken kam, diese Inbesitznahme zu stören.
Alles lief friedlich ab; die mehr als vierhundert Kisten voll mit Tee wurden an die drei Decks geschafft, ehe einer der als Indianer verkleideten Angreifer die Tat ergriff und die erste Kiste öffnete. Langsam und mit großer Strahlkraft trug er die Kiste an die Reling und ließ den Tee in das schwarze Wasser des Bostoner Hafens rieseln.
Während die anderen an Bord seinem Beispiel folgten und nacheinander die Kisten aufrissen, sahen die Schaulustigen in friedlicher Ruhe zu und verhinderten zudem, dass Nutznießer die Blätter aus dem Wasser fischten.
Bis tief in die Nacht verlief das ungewöhnliche Löschen der Ladung der drei Schiffe, und als die versammelten Menschen den Hafen von Boston verließen, schwammen mehrere Tonnen Teeblätter durchweicht im Wasser herum und bedeckten das dunkle Wasser.
Auch Samuel Adams kam spät in der Nacht ins Bett und war bereits wieder früh auf den Beinen. Obwohl er nur wenig geschlafen hatte, fühlte er sich befreit – befreit von einem jahrelangen Joch, das von fremder Hand des momentanen englischen Premierministers Lord North über die Kolonien verhängt worden war, und weit am Horizont vermeinte er die Glocken der Freiheit zu hören, die drei Jahre später zur Erklärung der Unabhängigkeit führen sollten.
IV
An diesem Tag eins nach den Ereignissen der Nacht, die als Boston Tea Party in die Geschichtsbücher eingehen sollte, notierte Samuel Adams in seinem Tagebuch: Gestern Abend wurden drei Ladungen Bohea-Tee ins Meer geschüttet. Heute Morgen segelte ein Kriegsschiff los. Dies ist die bisher großartigste Maßnahme. Dieses letzte Unternehmen der Patrioten hat eine Würde […], die ich bewundere. Das Volk sollte sich nie erheben, ohne etwas Erinnerungswürdiges zu tun – etwas Beachtenswertes und Aufsehen Erregendes. Die Vernichtung des Tees ist eine so kühne, entschlossene, furchtlose und kompromisslose Tat, und sie wird notwendigerweise so wichtige und dauerhafte Konsequenzen haben, dass ich sie als epochemachendes Ereignis betrachten muss.
Und dieses Ereignis machte Epoche!