Acker
[Kurzgeschichte, veröffentlicht in Tausend Tode schreiben, 2015]
Text Nr. 416

Acker
Wenn man es nüchtern von außen betrachtete, war das Stück Land, auf dem Tobias schwitzte, ein Acker, wie er im Buche stand. Ein Acker, zerfurcht und nur durch Geduld oder einen starken Traktor umzugraben, mehr nicht. Der Ertrag stand im schlechten Verhältnis zur eingesetzten Kraft, und doch grub Tobias den Acker mit seinen eigenen Manneskräften um. Er wollte sich selbst, aber vor allem seiner Frau beweisen, dass er so hart und durchhaltevermögend wie seine Ahnen war, die diesen Acker während ihres Lebens mit ihren eigenen Händen umgegraben hatten. Doch es lag noch etwas anderes auf diesem Stück Land …
Der Urgroßvater, von dem Tobias nichts außer den Namen, das Geburtsdatum und den Todestag wusste, war eines Tages auf dem Acker kraftlos zusammengebrochen, just in dem Moment, als er gerade mit voller Wucht ausholte, um einen lehmigen Klumpen, der mit Steinen gespickt in seiner Bahn lag, mitten hindurchzuschlagen. Da war sein Sohn, Tobias’ Großvater, bereits längst verheiratet und arbeitete mit seinem Schwiegervater in einer Manufaktur für Eisenwaren. An diesem einen Tag jedoch änderte sich nicht nur das Leben des Großvaters durch den Tod des eigenen Vaters, sondern auch erlitt die Welt eine gewaltige Veränderung, indem die Deutsche Reichsregierung der Welt den Krieg aufzwang.
Fortan wurde Tobias’ Großvater zum Kriegsdienst in der Heimat eingezogen, denn aufgrund eines tauben Beines konnte er unmöglich an der Front kämpfen. Zu Beginn reichte es noch, dass er seiner Arbeit als Munitionshersteller nachging, doch schon bald warf diese Arbeit nicht mehr genug ab, um alle Mäuler im Haus zu füttern. Notgedrungen stapfte er trotz seiner körperlichen Einschränkung nach der Arbeit noch raus auf den Acker, den er eine Saison lang bestellt hatte und den er vor Räubern aus dem eigenen Ort schützen musste. Dieser Schutz brachte ihm ein, dass er häufig auf dem Acker Wache halten musste, und just in dem Moment, in dem er Wache hielt, drangen feindliche Soldaten durch den Wald auf den Weg, der am Acker vorbeiführte, und entledigten sich seiner, indem sie ihn ohne langes Zögern niederschossen.
Tobias’ Vater war da gerade im Kindesalter und der einzige Sohn der Familie. Damit blieb der Mutter nichts anderes übrig, als den Acker selbst zu bestellen, und als Tobias’ Vater alt genug war, ging er aufs Feld und rang dem Boden die Früchte ab, die dieser ihm zu geben vermochte. Dies tat er jedes Jahr in einem wiederkehrenden Rhythmus, wie es sein Vater und sein Großvater getan hatten, und er fand eine sonderbare Befriedigung bei dem Gedanken, trotz eines auskömmlichen Berufes und sozialem Wohlstand die gleiche Arbeit wie seine Ahnen zu erledigen.
Die Jahre vergingen und Tobias wurde geboren, wuchs heran und gemeinsam bearbeiteten sie den Acker. Nichts war Tobias widerwärtiger als der aus seiner Sicht unsinnige Versuch, dem Boden etwas Gemüse abzuringen, das er viel leichter im Supermarkt kaufen konnte. So war es kaum verwunderlich, dass er gleich bei der ersten Möglichkeit nicht nur dem elterlichen Haus entfloh, sondern auch das Umgraben des Familienackers hinter sich ließ.
Bis zu jenem Tag, an dem sein Vater beim Ernten der Kartoffeln einen Herzinfarkt erlitt und bewusstlos und später tot zusammenbrach, kehrte Tobias nicht zurück zu diesem Stück Land, das kaum wie ein zweites die Geschichte der Männer dieser Familie mitgeschrieben hatte. Doch an dem Tag nach der Beerdigung seines Vaters ging Tobias an den Ort des Todes und sah den Acker, der in vollem Ertrag stand, fand die zurückgelassenen Gerätschaften und begann, ganz im Sinne seines Vaters, die Früchte des Bodens zu ernten.
Das war vor einem guten halben Jahr.