1914 | 2014 | 2114

1914 | 2014 | 2114

[Kurzgeschichte, veröffentlicht in The Transnational No 4, 2014]

1914 | 2014 | 2114

1914 | 2014

Denkt man einige wenige Augenblicke über die Situation der Jahre 1914 und 2014 nach, dann kommt man sehr wahrscheinlich nicht zu dem Schluss, dass diese beiden Jahre viel miteinander gemeinsam haben. Deutschland hatte 1914 noch eine institutionalisierte Monarchie, war noch nicht durch zwei Weltkriege gegangen und suchte nach einem Ausweg aus den europäischen Machtverhältnissen über die Stellvertreterkriege und Kolonisierung in Afrika. Das Bürgertum dieser Zeit hatte sich selbst überholt, und Thomas Mann nannte Europa einen kranken Mann. 2014 hat Deutschland eine funktionierende Demokratie, die 2 Weltkriege sind von kaum noch einem Lebenden wirklich erlebt worden, und wenn man von einer kapitalistisch orientierten Kolonisierung namens Globalisierung absieht, wollen wir nicht mehr erobern, sondern vereinen.

Und doch? Gibt es am Ende vielleicht doch mehr Parallelen, die durchaus im ersten Moment konstruiert wirken könnten? Natürlich ist die Welt von 2014 nicht mehr die von 1914. Alleine die Technisierung, das Internet und die Vernetzung der Lebensräume führen zu dem Potential, alles über die Welt wissen zu können. Wenn man davon aber absieht und zu Europa, dem kranken Mann, zurückkommt, dann stellt sich nach der so genannten Finanzkrise, die eine Vertrauens- und daher Bankenkrise war, die Frage, ob Europa nicht wieder der kranke Mann ist. Die Gesellschaft von 1914 hatte das Merkmal einer Distanzierung von der Politik und den gesellschaftlichen Entwicklungen, eine Art Schockstarre. Wenn man die Gesellschaft im Jahre 2014 damit vergleicht, dann ist sie aus einem anderen Grund in einer ähnlichen Lage: Die Idee, dass die Demokratie sowieso funktioniert, führt bei vielen Menschen dazu, dass sie nicht mehr für sie kämpfen – oder zu kämpfen bereit sind. Es wird nicht mehr gestritten, nicht mehr im Bundestag debattiert, nicht mehr in den Medien, die für die kritische Kommentierung zuständig sind, es gibt keine Massenproteste mehr, das Volk ist nicht mehr in Aufruhr. Selbst wenn es Momente gibt, die einen Aufruhr verdient hätten, gibt es am Ende einen wachsweichen Kompromiss. Kein Kompromiss, der dem anderen abgerungen wird, sondern der aus der Vernunft beider Parteien zum Schutz der Allgemeinheit entsteht. Im Prinzip ist das eine Vorstellung, die nahe an einer idealen Welt sein könnte, wenn denn der Mensch mit seinen Eigenheiten dazu passen würde.

Kommt zum Beispiel ein russischer Präsident auf die Idee, in den Nachbarstaaten die russischstämmigen Bevölkerungsteile gegen den eigenen Staat zu mobilisieren, funktionieren die althergebrachten Modelle nicht mehr. Wie im Ersten Weltkrieg, als die Strategen erkennen mussten, dass die alte Kriegslehre nicht mehr half – wie heute die Strategie gegen die russische Okkupation nur bedingt Wirkung zeigt. Zudem erweckt die Europäische Union als Garant des Friedens der letzten Jahrzehnte in den letzten Jahren nicht mehr den Eindruck, als könnte sie die Mitgliedsstaaten wirksam von der eigenen Idee überzeugen. Was wiederum zusammen mit der Finanz- und Ukrainekrise zu einem äußerst instabilen Momentum führt. Dieses Momentum kann, wenn es weiter ausgehöhlt wird, bald in einem entscheidenden Moment (wie in Sarajevo vor einhundert Jahren) münden und zu Entwicklungen und Machtpotentialen führen, die sich niemand wünscht – niemand wünschen kann.

1914 war die Generation, die im Krieg 1870/71 war, schon älter. Zwei Generationen lagen dazwischen, heute sind es noch mehr. Solange jedoch diejenigen an der Macht waren, die um die Schrecken des Zweiten Weltkriegs wussten, keimte keine neue Kriegslust in Europa. Doch nun, mit den Provokationen, der Verstärkung der NATO im Osten, den Beitritten zur Europäischen Union und den ungelösten Völkerfragen in vielen ehemaligen Sowjetländern ist es nicht abzusehen, ob diese Bombe, die munter vor sich hintickt, auch zünden wird. Denn wer vermag es schon, in das Gehirn eines russischen Imperialisten zu schauen? Den europäischen Politikern scheint es nicht zu gelingen.

1914 | 2114

Ein Brief an einen Kriegsteilnehmer 1914

Lieber Franz,

ich ahne kaum, wie hart es im Feld zugehen muss, zwischen den Frontverläufen, den Bombardements und den Anstürmen des Gegners, und doch muss ich dir ein weiteres Mal das Gemüt erschweren. Dein allerbester Freund August ist aus dem Leben geschieden. Wir haben es soeben gemeldet bekommen und die Trauer ist nicht zu beschreiben. Wie viele Träume und Pläne in euch beiden lebten und zur Verwirklichung drangen! Wie viele Schönheiten seine Hände noch erschaffen sollten! Ach, warum muss nur dieser bescheuerte Krieg die besten unserer Zeit dahinraffen! Für wen? Für was? Die Welt krankt an so vielem, warum nur müssen sich jetzt auch noch Menschen gegenseitig danach trachten, dem jeweils anderen den Kopf einzuschlagen, mit dem Bajonett, einer Kugel, von Angesicht zu Angesicht, oder von oben mit unsichtbaren Bombardements, ohne einen Blickkontakt von Angesicht zu Angesicht! Warum nur müssen diese Zustände herrschen, warum müssen Menschen wie eingepferchtes Vieh in Rinnen hocken, die sie selbst ausheben müssen, damit der Gegner nicht sieht, wie die Truppen hin und her verschoben werden? Sinnloses, grausames Sterben!

Ich trauere aber nicht nur um August, unseren Freund, deinen besten Freund, sondern um die Werke, die er nicht mehr malen wird, um die Ideen, die er im Kopf hatte, um die Malerei zu verändern, zu entwickeln, maßgeblich zu gestalten. Wie gut ging es dir, lieber Franz, wenn er in deiner Nähe war, wenn er sich mit dir unterhielt, ihr gemeinsam Pläne austüfteltet, um noch präsenter, noch wirksamer sein zu können. Das alles ist jetzt mit seinem Tod hinfällig. Hinfällig und verloren für alle Ewigkeiten.

Nun sei vorsichtig, dass dir nicht das gleiche Schicksal ereilt wie August! Auch wenn allein die Vorstellung schon traurig genug ist, sollst du wissen, dass wir für dich beten, jeden Tag, damit du heil nach Hause zurückkehrst, um im Schoße deiner Familie deiner Arbeit wieder nachgehen kannst, deiner Kunst, die uns allen so viel bedeutet. Und wenn du dann zurückkehrst, kannst du ja für August malen, Bilder über Bilder, zu Ehren des Gefallenen, zur Huldigung eines großen Künstlers, der noch lange nicht fertig war – so werde du es wenigstens! Kehre zurück und wachse mit deinen Taten und Aufgaben! Kehre zu uns zurück und vollende deine Entwicklung, die dich bis heute und hierhin getragen hat, nur unterbrochen von den Wirren des Krieges, den niemand gewollt haben kann. Bleib am Leben! Für uns, für die Malerei, für die Kunst, für alle Menschen, die sich an deinen Bildern ergötzen und damit ein wohliges Empfinden verbinden. Komm zurück, Franz! Hörst du?! Komm zurück!

Ein Brief an einen Menschen im Jahre 2114

An einen Leser in einhundert Jahren!

Unsere Zeit in Europa ist vor allem durch eine langjährige Zeit des Friedens geprägt, auch wenn es an den Grenzen der Europäischen Union kriselt und immer wieder zu Kriegen und Bürgerkriegen kommt. Die Europäische Union selbst hat sich zu einem beständigen Friedensgaranten entwickelt, der nun jedoch selbst Gefahr läuft, sich selbst zu überholen. Zum einen sind wir Europäer nicht schnell genug, alle Staaten – aktuell sind es 28 – zu integrieren, und zum anderen sind alle Staaten viel zu eigensinnig, da sie nichts von ihrer territorialen Macht abgeben wollen. Was durchaus verständlich ist, wenn man das Ist heute betrachtet, doch was ist das Soll? Was ist ein möglicher Soll-Zustand, der nicht nur das erhalten kann, was wir aktuell besitzen, sondern diesen noch erweitert? Diese Frage muss sich die Europäische Union, aber vor allem die Mitgliedsländer stellen, denn bisher sind wir zwar schon viel weiter als eine reine Wirtschaftsunion, aber noch weit davon entfernt, ein einheitlicher, föderaler Staatenbund zu sein. Aber genau ein solcher Staatenbund müssen wir werden – und du, Leser einer fernen Zukunft, kannst mit großer Sicherheit bewerten, ob dieses Experiment, das im Prinzip fast einmalig in der Weltgeschichte ist, funktioniert hat oder nicht. Wie gerne würde ich an deiner Stelle sein, da es mich brennend interessiert, was die Zukunft gerade in dieser Frage für uns auf Lager hat. Denn daran knüpfe ich den Fortbestand des europäischen Wohlstands, denn wie sollen wir uns als Einzelstaaten gegen die hochkapitalistischen Megamächte USA, China und Japan zur Wehr setzen, wenn nicht als Allianz? Auf der anderen Seite erfordert aber gerade diese Allianz nicht nur, dass wir uns wirtschaftlich vereinigen und einen riesigen Binnenmarkt künstlich kreieren, um dann zu merken, dass der Rest, vor allem das rein gesellschaftspolitische Feld, nicht kompatibel zueinander ist. Ja, es ist das vielleicht größte Experiment, was passiert, wenn verschiedene Völker über Jahrzehnte sich annähern, auf Augenhöhe, ohne den anderen als eingegliedertes Volk anzusehen, wie es aufgrund von Eroberungen früher der Fall gewesen ist (Alexander der Große, die Römer, die Hunnen, die Chinesen, die Russen…). Goethe schrieb schon vor zweihundert Jahren sinngemäß, dass alles in sich selbst eingehen muss, wenn es keinen Einfluss von außen besitzt. Es gibt wohl kaum eine Zeit vorher in der Menschheit, in der die Chancen auf gegenseitiges Befruchten so gut waren wie in diesen Jahren. Doch wo wird das hinführen? Wird die Kommerzialisierung der Kunst weiter voranschreiten? Wird sich die Kultur dem allgemeinen Kapitalismus unterwerfen und zu einem Teilaspekt desselben werden? Wird sich die unabhängige Kunst irgendwann dem allgemeinen Treiben entgegenstemmen? Und wenn es passieren sollte – was passiert dann mit ihr selbst? Wie die Europäische Union auf eine Zeit der Ungewissheit zusteuert, steuert auch die Kunst auf eine solche Zeit zu. Jetzt könnte man einwenden, dass die Kunst schon immer auf einer Scholle hockte, von der niemand wusste, an welcher Küste sie irgendwann anlanden würde, doch ist es dieses Mal nicht anders? Weil Kunst einen neuen Herrn bekommt, der in persona Künstler mag oder ablehnt? Sondern ein neuer, unpersönlicher Herr: das Geld. Und wenn dieser Herr bestimmt – wie es heute bereits in Ansätzen beginnt –, was Kunst und was keine Kunst ist – wo ist dann die Grenze? Ab wann müssen sich die Künstler dagegen wehren, gegen diese Vereinnahmung? Genau das ist die gleiche Frage, vor der die Europäische Union steht: Ab welchem Zeitpunkt, ab welchem Aggregatszustand muss die Europäische Union den Mitgliedsländern klarmachen, dass es nur eine Wahl gibt: mitmachen oder austreten und schauen, was passiert. Diese Entscheidung wird wohl bereits gefallen sein, wenn du in einhundert Jahren diesen Brief lesen wirst. Ist es die Welt, die ich mir erträume, die weltoffene, stabile Friedenswelt, oder wurden die Entwicklungen der letzten siebzig Jahre wieder zurückgedreht und es besteht nicht einmal die Möglichkeit, dass du diese Zeilen liest, ohne dass du Gefahr läufst, gegen ein System zu verstoßen, welches dich dafür bestrafen will, dass du freiheitliche Gedanken liest? Liegst du gerade unter einer Decke, leuchtest mit einem elektrischen Licht das Dunkel hinweg und horchst angespannt, dass niemand in deiner Nähe ist? Wobei die Frage natürlich zu stellen ist, ob es überhaupt die Möglichkeit eines elektrischen Lichts noch gibt, wo du dich befindest. Durchaus ist es im Bereich des Möglichen – auch wenn ich es nicht für dich und die Zukunft in einhundert Jahren hoffe –, dass sich das Konzept großer Energiemengen, die quasi permanent für jeden innerhalb der Europäischen Union verfügbar sind, selbst überholt hat. Das Konzept der Energie-Entropie ist gefährlicher, als wir uns das alle gerade vor Augen führen! Was, wenn die ökologische Revolution gegen die Sturheit der Menschheit verloren hat und aufgeben musste? Was, wenn sich die Natur selbst überholt hat, um sich gegen den Menschen und die anderen Lebewesen auf der Welt zur Wehr zu setzen? Das allerdings könnte eine der absurdesten aller Möglichkeiten werden: dass es der Mensch nach Jahrtausenden voller Krieg und Grausamkeiten in Europa endlich geschafft hat, einzusehen, dass solche Massenausrottungen für niemanden einen Mehrwert bringen, und dann wehrt sich die Natur, die man kollektiv angepasst und zur Reaktion gezwungen hat. Du siehst, lieber Leser, in einhundert Jahren: Der Grat, auf dem wir uns gerade in der Europäischen Union bewegen, ist so schmal, dass ich nicht mal weiß, welche Entwicklung die gefährlichste für die nächsten Jahrzehnte sein wird. Da wirst du auf jeden Fall weiter sein. Auf der anderen Seite machten sich die Menschen vor einhundert Jahren (für dich vor zweihundert Jahren) ähnliche Gedanken wie ich heute. Andere Inhalte, aber dasselbe Prinzip. Warum also sollte ich nicht davon ausgehen, dass du dich, indem du diese Zeilen liest, mit derselben Frage auseinandersetzt, was wohl in weiteren einhundert Jahren (für mich zweihundert Jahren) sein wird? Das Schöne und Beruhigende an den Menschen ist ja, dass sich zwar alles ändern kann, aber die Grundkonstanten gleich bleiben. So gehe ich davon aus, dass bei dir die Themen Liebe, Leid, Kunst, Kultur, Freude, Schmerz, Hoffnung, Trauer, Zorn, Leidenschaft und, und, und, dieselben sind wie wir sie heute haben – nur in einer anderen Ausprägung. Warum also sollte mir Angst und Bange sein? Weil ich nicht in die Zukunft sehen kann und Angst davor habe – nein, es ist keine Angst, sondern eine Unbestimmtheit, ein seltsames, unwirkliches Gefühl –, dass wir ohne Reflexion auf eine Situation in Europa zusteuern, die uns nicht gefällt, die wir aber nicht mehr ändern können, wenn der Stein mal ins Rollen gekommen ist. Es gibt für mich immer mehr Parallelen zum Zustand von vor einhundert Jahren, in dem ein singuläres, weltenveränderndes Ereignis das Fass zum Überlaufen brachte und plötzlich, wenige Wochen später, die Völker sich untereinander mordeten. Eine Zäsur, aus der der Mensch nicht gelernt hat, wenn wir wieder so blind darauf zusteuern. Wie glücklich musst du sein, der weiß, ob wir Europäer aus der einen fatalen Blindheit gelernt haben oder nicht. Ich für meinen Teil wünsche mir, dass wir gelernt haben – doch es ist wie immer mit den Menschen, denn nicht alles Ewige an ihm ist schön: Lernen ist einfach nicht seine allergrößte Stärke.