Tycho Brahe und das Weltwissen
[Kurzgeschichte, veröffentlicht in Matrix 4/2014, 2014]
Tycho Brahe und das Weltwissen
Als Tycho Brahe zu Beginn des Jahres 1600 das erste Mal persönlich mit Johannes Kepler in Prag zusammentraf, erkannte dieser hoch gefeierte Mann der Astronomie die herausragenden mathematischen Fähigkeiten des Geistes seines jungen Gegenübers und nahm ihn wohlwollend als seinen neuen Assistenten auf, der dann nur ein Jahr später an der sich im Aufbau befindlichen Sternwarte des Kaisers des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, Rudolf II., nach dem eigenartigen Tod des großen Wissenschaftler, zu dessen Nachfolger als kaiserlicher Hofmathematiker wurde, mit dem Auftrag des fortschrittsaffinen Kaisers, die Rudolfinischen Tafeln zu erstellen, eine Sammlung in lateinischer Schrift, in der die Planetendarstellungen vorhersagt werden sollten. Neben all den Entdeckungen und verbesserten Messmethoden, die Tycho Brahe in der Astronomie und Astrologie einführte und die dazu führten, dass ein solch mathematisch exakt denkender Mensch wie Johannes Kepler große, allgemeingültige Gesetze daraus abzuleiten vermochte, war sicherlich das Erkennen von Keplers Genie die allergrößte Menschentat des adeligen Dänen, der noch wenige Jahre zuvor, bis 1597, in seinem eigenen Observatorium, dem mehrenteils unterirdisch liegenden Stjerneborg auf der Öresundinsel Ven, die Sterne beobachtet hatte. Dieses Observatorium, gebaut und finanziell betrieben vom dänischen König Friedrich II., war eine der Speerspitzen der sich erhebenden Wissenschaften gegenüber den Doktrinen der christlichen Kirche, die über Jahrhunderte jegliche andersartigen Weltbilder bis zum Tode verfolgt und aus den Köpfen der Menschen verbannt hatte. Doch selbst Tycho – obgleich er ahnte, dass die alten hergebrachten Weltbilder aus seiner Zeit nicht das erklärten, was er im nächtlichen Himmel zu sehen bekam – vermochte es nicht zur Gänze, das erklärte Weltbild vollständig zu widerlegen, und so brachte er ein neuerliches, ein tychonisches Weltmodell vor, in dem er versuchte, beide – das ptolemäische und das kopernikanische – miteinander in Einklang zu bringen, indem er zwar grundsätzlich die kopernikanischen Bewegungen der Planeten um die Sonne akzeptierte, jedoch die Sonne selbst – wie auch den Mond – im ptolemäischen Sinne um die Erde kreisen ließ, was implizit hieß, dass indirekt auch alle anderen Planeten eine bewegte Form gegenüber der Erde besaßen – nunmehr zwar keine runde oder elliptische, sondern eine völlig obskure. Hätte Tycho Brahe, dessen Anspruch, so genau wie nur möglich eine Beobachtung oder Messung durchzuführen, etwas mehr von den Lehren der Mathematik verstanden, wäre ihm sicherlich aufgefallen – wie es sein Assistent Kepler nicht verschweigen wollte –, dass das tychonische Weltbild nichts weiter war als die Fiktion eines Geistes, der nicht mit allem brechen konnte – oder wollte. Somit brauchte es den mathematisch talentierten und nüchtern rechnenden Johannes Kepler, um die tychonischen, bahnbrechenden Erkenntnisse in den Beobachtungen der Sternbewegungen so nutzbar zu machen, dass die Menschheit durch die Zusammenarbeit der beiden – die leider nur etwas mehr als ein Jahr andauern sollte – eine schier unfassbare Erweiterung des Wissensbereichs erhielt, die auch nur deswegen eine solche Dimension zu erhalten vermochte, weil Tycho Brahe – ob nun aus Eigenantrieb, seine Forschung nicht untergehen zu lassen oder dem Wissen darum, dass Johannes Kepler damit Großartiges für alle Menschen anstellen könne – über seinen Schatten sprang und kurz vor seinem Tode dem ungeliebten, weil zu forschen Assistenten alle seine Arbeiten anvertraute, obgleich er zuvor, in der eineinhalbjährigen Zusammenarbeit stets darauf bedacht gewesen war, dass Kepler immer nur das zu sehen und zu studieren bekam, was dieser für seine Arbeiten brauchte; nicht mehr und nicht weniger. Die Erkenntnis Tycho Brahes, dass sein Menschenleben dem Ende nahe war, zusammen mit dem Erkennen, dass sein Menschenleben wohl nicht ausreichen würde, um die großen Mysterien des Universums zu entdecken, vermischt mit dem Eingeständnis, dass sein mathematisches Geschick dem von Johannes Kepler planetenweit unterlegen war – dieses Gemisch an Einsehen bot den Nachfolgenden, zusammen mit seinen Beobachtungen und Messungen aus Stjerneborg, den Nährboden, auf dem die Menschen beweisen konnten, dass sich nicht alle Planeten, auch nicht die Sonne, um die Erde dreht, sondern allein nur der Mond. Diese Leistung wird man Tycho Brahe niemals absprechen können, ganz gleich, was man auch gegen ihn vorzubringen versucht: Ehebrecher, Ehrgeizling, Hochmütiger, Zecher, aufbrausender Kopf, Zorniger, Beleidigter – aber welcher menschliche Geist kann schon erfassen, dass er den Weltgeist, die Weltseele, das Weltgeschick derart stark beeinflusst hat, wie es Tycho Brahe mit seinen Beobachtungen und Messungen tat – ohne zu vergessen, dass er vor allem eines war: ein Mensch mit all seinen Leidenschaften?