Abhang

Abhang

[Kurzgeschichte]

In Prolog 27 – bedingungslos wurde meine Geschichte „Abhang“ und zwei Bilder „Loderndes Feuer“ & „Blaues Tor“ veröffentlicht. Lieben Dank an Anton & Dorit für das superschöne Heft mit tollen Beiträgen!

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Abhang

Mit voller Spannung steht er am Start, hört die heruntertickende Zeit, beugt sich nach hinten, um Schwung zu holen, und stößt sich aus dem Startloch auf die Piste.

73,2 % Gefälle, 159 Meter bis zum ersten Tor, dann leichter Schwung nach rechts. Starke Kompressionen beim Sprung, dann geht es bei mehr als 100 km/h hart nach links. Durch eine eisige Kurvenkombination, es ist nicht leicht, die Position zu halten, denn dauernd will der Ski nach außen ausbrechen. Eine kurze Erholung ist das lange Gleitstück, auf dem er in der tiefsten Hocke sein muss, paketartig zusammengedrückt, um möglichst wenig Angriffsfläche für den Wind zu bieten. Die Oberschenkel haben volle Belastung, der Kopf kann dafür kurz ausruhen. Doch dann geht es gleich weiter; ab jetzt herrschen unterschiedliche Lichtverhältnisse bei wieder stark steigender Geschwindigkeit. Ein Wechsel der Richtung, hin und her, ein fast direkter Blick in die Sonne und blindes Einbiegen in eine Kurve, die man nur erahnt. Es geht gut und ein zweites Gleitstück ist erreicht, doch dieses Mal mit sehr vielen unebenen Stellen, die durch die Skier bis in die Knie und noch höher durchschlagen. Ohne Pause geht es in den letzten Streckenabschnitt, in eine recht einfache Kurve – wenn man den großzügigen Winkel richtig trifft.

Es ist nicht das Einfädeln, der technische Fehler, den er begeht, sondern die Bodenwelle, die ihn erfasst, just als er gerade aus dem Gleichgewicht kommt. Diese schleudert ihn mitsamt seiner gesamten Geschwindigkeit in die Lüfte, lässt ihn abheben, so hoch vom Boden, als würde er auf der Streif den Schlussabhang hinunter ins Ziel segeln. Doch dieses Mal unkontrolliert – völlig unkontrolliert.

Den sportverrückten Vater hatte er noch besuchen wollen, doch dafür hätte er ein Training schwänzen müssen. Mit der Mutter wollte er sich noch aussöhnen, der Streit dauerte einfach schon viel zu lange und war aus einem nicht sehr wichtigen Grund entstanden. Die Schwester hatte er vor kurzem noch gesehen, aber aus irgendeinem Grund waren sie im Unfrieden auseinandergegangen, weil er sich über ihre Entscheidung, einen Handwerksberuf dem Studium vorzuziehen, lustig gemacht hatte. Seine Ex-Verlobte war inzwischen von einem anderen schwanger und er immer noch allein. Er sollte aber der Patenonkel des Kindes werden, da sie sich immer noch gut verstanden. Er hätte die Auszeichnungen persönlich annehmen sollen, die ihm in der letzten Zeit von den Experten zugedacht wurden, doch er musste trainieren. Er hätte stärker auf seine Fans zugehen sollen, doch er musste noch mehr trainieren. Er hätte mehr leben sollen, doch dann hätte er weniger trainieren können und wäre nicht so erfolgreich gewesen. Dann hätte er keine Auszeichnungen erhalten und weniger Fans gehabt. Außerdem kein Ruhm, aber vielleicht ein Leben.

In dem Moment, in dem er mit seinem Kopf auf den eisigen Schnee aufschlägt, senden seine Schmerzrezeptoren ins Nichts.