Nyam
[Kurzgeschichte. Veröffentlicht auf Sechzehn Seiten. 2025]

Nyam
Edgar von Tessel erhielt an einem nebelverhangenen Spätoktobermorgen ein unscheinbares Kästchen aus einer unbekannten Holzart, kaum größer als ein Zigarettenetui, das auf unerklärliche Weise nach verbranntem Harz und feuchtem Papier roch. In seinem Inneren lag – sorgsam in ein schwarzes Seidentuch ohne irgendein Emblem oder eine Nachricht eingeschlagen – ein kleiner, verschnörkelter Schlüssel aus einem Material, das weder Gold noch Messing zu sein schien, und mit ihm ein schmaler Zettel, auf dem in krakeliger Handschrift nur ein einziges Wort stand: Nyam.
Wenige Stunden später saß Edgar in seinem Studierzimmer, eine dampfende Tasse Salbeitee neben sich, und starrte auf das Wort, das sich wie eine Art Fluch oder Segen in sein Denken eingegraben hatte. Nyam – was auch immer das sein mochte, er wusste nur eines: Dieses Wort war nicht aus dieser Welt – und doch, je länger er das seltsame Wort betrachtete, desto mehr kam es ihm vor, als habe er es irgendwo schon einmal vernommen, vielleicht in einem Traum, den er längst vergessen hatte, oder in einem Buch, das sich nie vollständig hatte lesen lassen – entweder aus mangelndem, neuem Inhalt oder weil der Inhalt so schwer war, dass die Augenlider den Drang verspürten, der Schwere nachzugeben.
Noch am selben Abend, als der Wind durch die alten Dachsparren seines Hauses heulte und der Mond wie eine schimmernde Sichel am Himmel hing, passierte es: Der Schlüssel in seiner Jackentasche begann zu vibrieren. Nicht heftig, sondern leise, rhythmisch, wie das Schlagen eines zweiten Herzens. Edgar folgte dem Impuls, stand auf, trat hinaus in die Nacht – und fand sich nach wenigen Schritten nicht mehr in der Welt, die er zu kennen glaubte und die er seine Heimat genannt hätte, wenn ihn jemand gefragt hätte.
Er stand nun auf einem hochgelegenen Felsplateau, umgeben von geifernden Nebelschwaden, durch die hindurch das Licht ferner Himmelskörper drang – Sterne, die so groß und nah wirkten, als könnte man sie mit der eigenen Hand berühren. Vor ihm erhob sich ein Tor, gewunden wie die Gedanken an einen Silberteich in der Nacht, halb gewachsen, halb gebaut, aus demselben seltsamen Material wie der Schlüssel. Ohne zu zögern trat er hindurch – und betrat die Welt von Nyam.
Hier begann seine erste Wandlung. In Nyam war man im eigentlichen Sinne kein Mensch mehr, sondern ein Suchender – ein Korr, wie es dort hieß. Die Welt bestand aus Pfaden, die sich nicht durch Raum, sondern durch ein größeres Bewusstsein schlängelten. Edgar durchwanderte Erinnerungen, die nicht die seinen waren, hörte Stimmen, die trotz der Unbekanntheit aus ihm selbst zu stammen schienen, und traf auf Schatten, die ihn mit seinem eigenen Namen ansprachen, den er selbst längst vergessen hatte.
Mit jeder Erinnerung, die er durchmaß, veränderte sich seine Gestalt. Zuerst kaum merklich – eine neue Färbung in der Iris, ein leichtes Flimmern um seine Silhouette –, später dann gravierender: Seine Haut nahm das Muster alter Landkarten an, seine Finger wurden zu feinfühligen Tastern der Wahrheit, seine Gedanken schienen sich von ihm zu lösen, wie Rauch von einer heißen Glut aufsteigt.
Er war nun ein Korr-Vanx, ein Träger der zweiten Stufe. In dieser Form konnte er nicht nur erleben, sondern auch Dinge in dieser Welt mit seinen eigenen Gedanken und Wünschen formen. Nyam gab ihm die Fähigkeit, zu deuten, zu fragen, aber nicht zu antworten. Denn Antworten – das hatte er inzwischen gelernt – sind in Nyam wie festgefrorene Wellen: sinnlos und still. Nur die Bewegung zählt, das Gehen, das Weitergehen, das Nichtstehenbleiben, denn es könnte zu dem Umstand kommen, dass Antworten verlangt werden – wenn man sich bewegt, gilt die Bewegung.
Und so wanderte Edgar weiter, bis das Licht der Sterne versiegte und die Welt sich in ein einziges Grau verwandelte, der Farbton matt wie altes Pergament. Hier, im Zentrum von Nyam, begegnete er keiner Stimme mehr, keinem Schatten, keinem Widerhall der Töne, die er vorhin noch vernommen hatte. Hier gab es nichts als das große Schweigen, in dem alle Gedanken zu sich selbst zurückkehrten, um am allerletzten und allerersten Punkt dieser Wahrheit zur Wahrheit zu werden.
In diesem Moment wurde er zum Torr, dem dritten und letzten Zustand. Ein Wesen ohne Namen, ohne Fragen, am Ende tatsächlich sogar ohne Notwendigkeit – das wurde ihm bewusst, ohne dass er den Gedanken tatsächlich hatte. Er stand still, doch die Welt bewegte sich um ihn, faltete sich ein, drehte sich um sich selbst, und er wusste: Jetzt war er an dem Punkt angekommen, an dem das Streben endet – nicht, weil das Ziel erreicht wäre, sondern weil das Streben selbst aufhört, eine tiefere Bedeutung für die eigene Existenz zu haben.
Plötzlich – ohne dass etwas geschah – war er zurück. In seinem Studierzimmer. Der Tee war inzwischen kalt geworden, das bedeutete, dass er eine Zeit lang unterwegs gewesen war. Der Schlüssel war verschwunden. Das Papier, das vor ihm ausgebreitet lag: leer.
Doch Edgar von Tessel war nicht mehr derselbe wie vor der Gedankenreise. Er war ein Nyam-Torr-Korr, ein Verschlossener in der Welt des Offenbaren. Als man ihn später fragte, was ihm denn fehle – er wirkte seit jenem Morgen seltsam abgewandt, geistig abwesend, als würde er durch Mauern in eine ferne Welt hinausblicken –, antwortete er mit einem milden Lächeln: „Nichts fehlt mir. Es ist nur… zu viel da.“
Von da an sprach er nur noch selten mit einem anderen Menschen – und wenn, dann mit Bedacht. Denn er wusste: Worte wie Nyam sind nicht dafür gemacht, gesprochen zu werden. Doch was Edgar nicht ahnte: Die Welt von Nyam war längst nicht abgeschlossen. Sie war auch keineswegs linear. Nicht einmal rückführbar. In Nächten, in denen der Wind aus Osten kam und das Licht der Sterne blasser schien als sonst, kehrten Fragmente zu Edgar und seinen Gedanken zurück – in Träumen, in Geräuschen – von denen unklar war, ob sie wirklich waren oder nur in seinem Kopf, in dem Muster von Rissen an der Wand. Eines Abends, als die Dämmerung besonders lange verweilte und das Zwielicht wie eine Haut auf allen Gegenständen lag, öffnete sich erneut etwas in ihm – kein Tor diesmal, kein vibrierender Schlüssel, sondern eine längst vergessen geglaubte Erinnerung.
Er erinnerte sich an das, was zwischen den Pfaden lag. Die Kernlinien, so hatte er sie genannt – woher er den Namen dafür hatte, wusste er nicht mehr. Bahnen, die nicht betreten, sondern nur gespürt werden konnten. Dort flossen die Dinge, die in Nyam selbst nicht gedacht werden durften – Urfragen, Vorworte zur Erkenntnis, sich am Ende selbst zu suchen und zu vergessen, das nackte Gefühl vor der Bedeutung einer eigentlichen Bedeutung.
Und in dieser Erinnerung, diesem tastenden Wiedererleben von Ereignissen, die vielleicht niemals stattgefunden hatten, geschah das Unfassbare: Edgar erkannte, dass Nyam gar kein Ort war. Es war ein Spiegel, ein verdichteter Reflex des Menschlichen, so tief und uralt, dass die Seele daran entweder zerbrechen – oder im besten aller Fälle aufblühen konnte.
Edgar brauchte ein Ventil für diese Gedanken, die ihn im Innern zu zermartern drohten, und er begann zu schreiben. Nicht mit Tinte oder auf Papier. Sondern in die Wände seines Hauses und in den Staub auf dem Boden, zuweilen sogar in die Haut seiner Hände. Zeichen, die wie Adern verliefen, Wörter, die nur nachts bei diesem merkwürdigen Lichteinfall leuchteten. Als die Menschen in seinem Umfeld ihn baten, zur Vernunft zu kommen, lächelte er nur und schrieb schweigend weiter. Immer tiefer hinein in das Muster, das wie ein Hologramm vor seinem geistigen Auge stand, fest und unverrückbar.
Am Ende seines Lebens, viele Jahre später, verschwand Edgar von Tessel von einem auf den anderen Tag aus dieser, uns allen bekannten Welt. Sein Haus stand leer, seine Schriftzüge verblassten – doch nicht gänzlich. Manchmal, wenn jemand den alten Dachboden des Hauses betritt und durch vergilbte Scheiben das Mondlicht einfällt, liest man es noch: das Wort: Nyam.
Und es beginnt von Neuem, das Spiel.