Kalenderblatt

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[Kurzgeschichte, veröffentlicht in Prolog 24.4.24 Sonderedition, 2024]

Kalenderblatt

In neun von zehn Fällen kommt in der Radiosendung meiner Wahl eine Berichterstattung über ein Ereignis oder eine Person in der Vergangenheit, die ich entweder kenne oder die für meinen persönlichen Erfahrungshorizont unwichtig erscheint. Selten wird daraus eine literarische Arbeit oder zumindest eine Recherche initiiert, doch wie der Zufall es wollte, war just am 24.04.2024 (vielleicht oder wahrscheinlich durch den Aufruf in der Literaturzeitschrift) das Kalenderblatt in zweierlei Hinsicht spannend. Denn einerseits berichtete es über den Spionagethriller schlechthin in Deutschland, als vor 50 Jahren, am 24.04.1974, Günter Guillaume als Spion enttarnt wurde, und ich im Kopf wieder reaktivierte, diese Zeit noch einmal später literarisch bearbeiten zu wollen. Doch bei der ersten kleinen Recherche stellte ich ein anderes Ereignis fest, das ebenfalls am 24.04.1974 stattfand und mich noch etwas mehr fesselt, denn es war mir bisher völlig unbekannt gewesen und erscheint mir aufgrund der existentiellen Risikobereitschaft der Beteiligten als grandiose Koordinierungsarbeit, als das Liebeslied „E depois do adeus“ von Paulo de Carvalho als verdeckte und nur von Eingeweihten verstandene Botschaft um 22:55 im portugiesischen Radio gesendet wurde, als Zeichen, dass die Nelkenrevolution in Portugal ihren Anfang gegen das Regime von Salazar (bestehend seit mehreren Jahrzehnten) genommen hatte. Wir versetzen uns 50 Jahre zurück, kein Social Media, kein Internet, keine Instantkommunikation, nur Telefon, aber das wird sicherlich abgehört. Geheime Treffen, Absprachen mit hohen Risiken, Informationsknappheit, sicherlich wenig Informationen darüber, wie ein Aufstand in anderen Ländern dieser Zeit lief. Tageszeitungen, recht sicher als Propaganda genutzt, Nachrichtensendungen in Fernsehen und Radio ohne Pressefreiheit – wie also kommunizieren und wie also eine konzertierte Aktion durchführen? Man spürt fast den Puls der Menschen, die eingeweiht sind, ob das Lied wirklich gespielt wird, ob wirklich gemeinsame Sache gemacht wird, ob wirklich eine andere Zukunft möglich erscheint. Wie oft sind solche Versuche in den letzten Stunden aufgeflogen, Menschen verhaftet und gefoltert worden, wie oft sind Geheimbünde auseinandergenommen worden, von Spitzeln oder Denunzianten verraten, und während vielleicht die große Mehrheit der Zuhörer das Lied hört, während sie aufräumen, Zigarre rauchen, die Beine hochlegen, Essen vorbereiten oder gerade einschlummern – so ist mit dem Lied im Radio in Portugal von nun an nichts mehr wie zuvor, und wenn ich heute auf das Land blicke, blicke ich sehnsuchtsvoll nach wundervollen, fast mystischen Orten wie Lissabon, Porto und anderen Geheimnissen, das Land ist frei, demokratisch, in der EU, Teil dieser großen, faszinierenden Gemeinschaft, und das alles begann mit einem verdeckten Lied als Signal zur Revolution. Zurück zum Spüren: Der Puls schwillt weiter an, die ersten Töne werden gespielt, das Pochen wird von Adrenalin abgelöst, das durch den Körper fließt. Es ist alles vorbereitet – ab heute wird für eine bessere Zukunft gekämpft! Los geht’s!