Hätte | Wäre | Wenn
[Kurzgeschichte, veröffentlicht auf #kkl 47: Symbolik
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Bild: Die Schlange und das Z
Hätte | Wäre | Wenn
Wäre er nicht verurteilt worden, würde er nicht in diesem Moment aus dem Bus aussteigen, der ihn vom Gerichtssaal ohne Umwege gleich ins Gefängnis bringt, wo er die nächsten Jahre verbringen wird. Das aus groben Steinen gemauerte Gebäude versprüht keinen Charme, und soll es wohl auch nicht. Das doppelt gesicherte, riesige Tor und die Mauer, die nicht minder hoch und mehrfach gesichert ist, lassen die letzten Gedanken an eine Flucht verschwinden. Er hat nicht ernsthaft an eine Flucht gedacht, doch auf dem Weg zum Gefängnis gehen einem Verurteilten vielerlei Sachen durch den Kopf. So viele Jahre, die er jetzt in diesem Gebäudekomplex verbringen wird, mit ein wenig Freigang am Tag und erst dann mit einer einigermaßen richtigen Beschäftigung, wenn er sich gut und verlässlich verhält. Das kann in seinem Fall auch Jahre dauern. Jahre voller Stumpfsinn, ahnt er. Verlorene Jahre. Obwohl – ist sein Leben nicht sowieso schon verloren?
Er steigt aus, wird über mehrere Sicherheitsschleusen in einen Raum geführt, in dem er seine Kleidung wechseln muss. Er erhält einige Einrichtungsgegenstände fürs Zimmer und trottet einem Beamten hinterher, der ihn mit einem Kollegen in seine Zelle begleitet. Als er eintritt, ist er im ersten Moment froh über den Komfort und die Helligkeit, denn er hatte an etwas ganz anderes gedacht. Er geht hinein, legt seine Sachen ab, lässt sich die Handschellen abnehmen, erntet einen nichtssagenden Blick der beiden Beamten und wird eingeschlossen. Erst jetzt ergreift den Gefangenen die Panik, denn er weiß, dass hier, an diesem Ort, sein bisheriges Leben ein Ende gefunden hat.
Wenn er nicht im Gerichtssaal zur Urteilsverkündung erschienen wäre, hätte er heute nicht verurteilt werden können. Oder in seiner Abwesenheit, aber das stünde auf einem anderen Blatt. Er wird von seinem Anwalt in Empfang genommen und durch das riesige Gerichtsgebäude begleitet. Eine Treppe hinauf, dann bis zum Ende des Gangs. Dort müssen sie kurz warten, denn der Gerichtssaal ist noch nicht freigegeben. Der Angeklagte trägt den einzigen Anzug, den er besitzt und den er auch an den beiden Verhandlungstagen getragen hat. Nur das Hemd ist neu, das hat er sich zwischendurch zugelegt. Die Nervosität hält sich in Grenzen und steigt erst, als er in den Saal eintritt. Wie viele Jahre wird er wohl bekommen? Dass er verurteilt wird, steht außer Frage, insbesondere nachdem nicht mal sein Verteidiger Straffreiheit gefordert hat. Einige andere sind noch gekommen, Vertreter der lokalen Presse und Schaulustige, die aber erkennen müssen, dass die Verhandlungen nicht öffentlich sind. Von seiner Familie ist niemand da. Es ist wie an den anderen Verhandlungstagen – es scheint, dass sie nichts mehr mit ihm zu tun haben wollen. Nicht einmal einen fernen Verwandten, einen Beobachter, haben sie geschickt.
Es ist bemerkenswert ruhig in dem Saal, da kaum Personen anwesend sind. Der Richter kommt herein, alle stehen auf. Es hat so gar nichts mit den spannenden Thrillern zu tun, in denen Gerichtsverhandlungen gezeigt werden – das hier ist schnöder Alltag für alle Beteiligten. Außer für einen, denn für ihn geht es um eine konkrete Zahl: die Zahl der Jahre, die er hinter Gittern verbringen muss. Die Urteilsbegründung beginnt, nachdem der Angeklagte erfährt, dass er schuldig gesprochen wird. Er kann der strukturierten Begründung folgen und sie ist deckungsgleich mit seinen Erinnerungen, sodass er am Ende mit den acht Jahren leben muss, die er als Strafe erhält. Sein Geständnis und die Umstände führen zu einer Reduzierung der maximalen Strafe, sagt der Richter und beschließt die Sitzung mit seinem Hammer.
Hätte er das Geständnis nicht abgelegt und erklärt, dass er alleine dafür schuldig ist, dann wäre er zwar aufgrund der Indizienbeweise angeklagt worden, doch die Frage wäre weitaus offener gewesen, ob sie ihn aufgrund der nicht zwingenden Beweise hätten verurteilen können – und wenn ja, für wie viele Jahre. Sicherlich hätte sogar die Möglichkeit eines Freispruchs noch im Raum gestanden.
Er ist die Tortur einfach satt. Seit Stunden bearbeiten sie ihn im Verhörraum, lassen nicht locker, weil die Ermittler merken, dass hinter seinem bisherigen Nichtwissen mehr steckt als reines Nichtwissen. Der Verdächtige hingegen rutscht auf seinem Stuhl nervös hin und her, hat feuchte Hände, ist nicht sicher. Er fragt sich die ganze Zeit über, wie er dem Polizisten klarmachen kann, dass er zwar etwas weiß, aber nicht der Täter ist, doch ihm will nichts einfallen. Jede noch so kleine Information, die er preisgeben kann, würde zu weiteren Nachfragen führen, weil auch ihm klar ist, dass die vorliegenden Indizien schon stichhaltig sein können. Zwar nicht so stichhaltig, dass alles miteinander einen Sinn ergibt, aber jeder Schritt auf die Ermittler zu konnte dazu führen. Das Kartenhaus, das der Verdächtige durch seine bisherigen Aussagen gebaut hat, steht auf so wackeligen Füßen, dass er sich nicht mehr bewegen kann. Für die Polizisten ist klar, dass er der Täter sein muss oder direkt mit der Tat in Verbindung steht, für den Verdächtigen ist klar, dass die Polizisten das wissen. Schweigen führt zur Anklage, und er muss die ganze Zeit darauf warten, ob sie nicht doch den entscheidenden Beweis oder den alles verbindenden Hinweis finden. Und dafür ist er nervlich viel zu instabil, als dass er das Ganze weiter aushalten kann.
In einem ruhigen Moment der Klarheit schließt der Verdächtige die Augen, atmet tief durch, spürt, dass seine Entscheidung die richtige ist, und beginnt zu erzählen. Die Ermittler sind ganz Ohr und schreiben wie wild die Details mit, auch wenn das Verhör aufgezeichnet wird. Der Verdächtige, der nun zum Geständigen wird, endet mit den Worten, dass er einen Anwalt brauche. Dass er darauf nicht vorher gekommen ist, wundert ihn.
Wäre er aus seiner Wohnung genau in dem Moment geflohen, als er erfuhr, dass die Polizei ihn sucht, hätte er vielleicht genug Vorsprung haben können, um aus dem Land zu fliehen. Sie würden ihn auch international suchen lassen, aber es gibt Länder, in die er fliehen könnte, in denen die Justiz keine Stimme hat. Seine Chancen stünden nicht schlecht, da er fließend Spanisch und Portugiesisch spricht, was ihm in Südamerika sehr gut helfen würde.
Aber er geht nicht ins Schlafzimmer und packt schnell einige Sachen zusammen, sondern setzt sich erst einmal auf einen Küchenstuhl, legt das Telefon auf den Tisch und starrt geradeaus. Sein Vater hat ihm gerade erzählt, dass die Polizei ihn sucht, nachdem einem der Ermittler im Gespräch mit seinen Eltern etwas aufgefallen ist. Nun seien sie auf dem Weg zu ihm und der Vater wolle ihn warnen, denn er sei sich sicher, dass sein Sohn nichts mit der Tat zu tun habe. Sofort ist dem Sohn die Flucht in den Kopf gekommen, wie schon so oft, doch diese Idee ist auch gleich wieder verschwunden. Warum, das weiß er nicht.
Stattdessen fällt ihm so etwas anderes ein, wie etwa, dass er ja Kaffee machen könne, weil es unhöflich sei, nichts anbieten zu können, wenn er nachmittags Besuch bekam. Das hat seine Mutter immer gepredigt. Ob er Kaffee aufsetzen soll? Da ihm keine bessere Idee in den Sinn kommt, setzt er tatsächlich Kaffee auf, deckt den Tisch mit Tassen und Löffeln, wartet, bis der Kaffee durchgelaufen ist, und als die Ermittler klingeln, drückt er den Summer und wartet an der Türe, um die Ermittler hereinzubitten. Diese fragen ihn, ob er Besuch erwarte, doch er meint nur trocken, dass sie selbst seine Gäste seien. Schnell wird auch dem Verdächtigen klar, dass er ab nun ein Verdächtiger für die Ermittler ist, und er lässt sich ohne Handschellen auf die Wache abführen. Dort angekommen erhält er von den Polizisten seinerseits einen Kaffee und beginnt, die Geschichte abzustreiten, die die Ermittler vor ihm ausbreiten.
Hätte er es nicht getan, hätte sein Leben auch keine Wendung genommen. Alles wäre wie immer und nichts hätte verändert werden müssen. Deswegen beschließt er, dass sich auch nach der Tat nichts ändern wird, und lebt sein Leben ganz normal weiter.
Es ist spät, als er wieder nach Hause kommt. Es war schon dunkel, als er zur Tat aufbrach, doch inzwischen ist es tiefste Nacht, da er stundenlang durch die Gegend gefahren ist, solange, bis die Anzeige seines Tanks ihm meldete, dass dieser bald leer sei. Er schließt die Tür seiner Wohnung auf und achtet auf dem Weg durch den Flur nicht einmal darauf, ob ihn jemand sieht oder hört, und erst, als er die Türe hinter sich ins Schloss fallen hört, kommt ihm in den Kopf, dass etwas ganz Absonderliches an diesem späten Abend geschehen ist.
Im Flur hängt ein nahezu bodenlanger Spiegel, und er betrachtet sich darin, sieht das Blut an seinen Händen und an seinem Hals, zieht sich langsam, Stück für Stück, aus und steckt alles in die Waschmaschine. Auf neunzig Grad stellt er die Maschine ein, ganz egal, was mit den Kleidungsstücken passiert. Er selbst stellt sich unter die Dusche und wäscht sich mehrfach am ganzen Körper, als könne er dadurch die Schuld seiner Tat von sich seifen. Als er sich abtrocknet, die Haare föhnt und zudem noch rasiert, bemerkt er, dass es nach drei Uhr in der Nacht ist. Er legt sich schlafen, denn sein Wecker klingelt um kurz vor sieben, damit er pünktlich um acht auf der Arbeit ist.
Als er am nächsten Morgen aufwacht, macht er genau das, was er sich vorgenommen hat: nichts Ungewöhnliches. Er frühstückt wie jeden Tag, macht sich wie jeden Tag in derselben Reihenfolge, inklusive Rasur, fertig und erreicht die Arbeitsstätte planmäßig um kurz vor acht. Doch das alles erstaunt ihn weniger als der Umstand, dass er nicht nur normal leben, sondern auch normal arbeiten kann, und spät am Nachmittag hat er die Sache schon fast wieder vergessen.
Hätte er seine Cousine nicht umgebracht, dann wäre wohl alles anders gelaufen, was in der nächsten Zeit passieren wird. Hätte er sich, wie sonst auch immer, kontrollieren können, wäre er stinksauer in sein Auto gestiegen und nach Hause gefahren, er wäre am nächsten Tag genervt und mit schlechter Stimmung zur Arbeit gefahren, doch dann wäre es auch am Abend wieder gut gewesen. Aber es sollte anders kommen, und als er die Welt von diesem Monster befreit hatte, rückte sich einiges in seinem Leben wieder zurecht, was vorher an einem falschen Platz gewesen war.