Gierig
[Kurzgeschichte, veröffentlicht in #kkl 24 – Erlauben; 2023]
Gierig
Mein Therapeut hat mir dringend empfohlen, mich meinen Problemen zu stellen, indem ich sie für mich selbst aufschreibe. Ohne jede Lüge, keine Schminke, keine Beschönigungen oder Ausflüchte, sondern so wie es tatsächlich ist. Gut, dann werde ich seinem Rat folgen und schreibe hiermit auf: Wenn ich die gleiche Gier nach Geld wie nach Essen hätte, wäre ich mehrfacher Milliardär. Da ich aber eher Vermögen in mich – wie in eine Mastgans – hineinstopfe, als das Vermögen sinnvoll anzulegen und zu vermehren, vermehre ich allenfalls meinen Bauchumfang, der in der Zwischenzeit eine beachtliche Größe erreicht hat. Dieser Umstand führte vor einigen Monaten dazu, dass ich körperliche Beschwerden bekam, die wiederum zu dem Arztbesuch führten, der mir nach kurzer Behandlungsdauer nicht helfen konnte und mich schlussendlich an einen Therapeuten überwies, um die Ängste in meinem Kopf anzugehen. Ich verstehe zwar bis heute nicht, was Ängste mit meiner Gier zu tun haben sollen, aber das soll mir auch egal sein, da ich glaube, dass der Therapeut mir tatsächlich weiterhelfen kann. Denn die Gier, die ich verspüre, ist keine Erkrankung des Körpers, sondern des Geistes – und das Aufschreiben soll die Reinigung sein. Also schreibe ich alles auf, was in meinem Mund landet, um gekaut, geschluckt, geschlungen oder gelutscht zu werden.
Toastbrot mit Remoulade und Fleischwurst. Darauf ein paar Scheiben Gurken, dann Zwiebeln, dänische Sauce, Ketchup, Mayo, drei gefaltete Käsescheiben (plus eine im Mund während der Zubereitung), eine weitere Schicht Remoulade, eine Schicht Remoulade auf der Scheibe Käse, die ich zusammen mit einem Stück Fleischwurst in meinen Mund stopfe, eine ordentliche Schicht Röstzwiebeln und zum Schluss erneut eine Scheibe Toastbrot.
Kennen Sie das Gefühl, vor dem Kühlschrank zu stehen und zu wissen, dass das, was jetzt passieren wird, einfach nur falsch ist? In dem Sinne falsch, dass es keine Erklärung gibt, die so clever sein kann, dass ich nicht merke, dass jetzt eine Dummheit passiert? Dass ich sehe, wie ich die Türe des Kühlschranks öffne, mir mantraartig sage, dass ich die Türe wieder schließen soll – doch was muss ich sehen? Meine Hand greift in den Kühlschrank hinein, schnappt sich eine Packung mit abgepackter Wurst, nimmt sie hinaus und legt sie auf die Anrichte. Jetzt schließe ich den Kühlschrank und ahne, dass ich diesen Kampf schon verloren hatte, bevor ich überhaupt darüber nachdachte, dass ich darüber nachdenken sollte. Während ich darüber nachdenke, wann die einzelnen Schritte vonstattengingen, kaue ich genüsslich auf den Wurstscheiben, die ich mir von mir selbst unbemerkt in den Mund geschoben habe. Sie schmecken angenehm und mein altes Grundsatzproblem tritt wieder zutage, das besagt, dass ich keine Mahlzeit beenden kann, ohne nicht alles aufgegessen zu haben. Und ich gestehe, dass es Portionen von Fertiggerichten gibt, die selbst mich an den Rand meiner Kapazitäten bringen – zuweilen auch darüber hinaus.
Aufgegossene Fünf-Minuten-Terrine. Während des Essens backt im Ofen schon mal eine Pizza auf. Bei Halbzeit hole ich sie kurz raus, belege die nur notdürftig bedeckte Pizza mit weiteren Zutaten, reibe die zweite, dritte und auf einem Viertel vierte Schicht zartschmelzenden Käse drüber und gebe die Pizza zurück in die Hitze, die sie fertig backt. Dazu gibt es ein herrliches Hefeweizen, gefolgt von einer gekauften Crème brûlée, die trotz der Zutatenliste sehr natürlich schmeckt.
Ich habe mir antrainiert, hungrig einkaufen zu gehen. Es gibt zwar den Nachweis, dass man dann umso mehr einkauft, aber ich halte dagegen, dass ich aus meiner persönlichen Erfahrung vor allem teure, exquisite Lebensmittel einkaufe, wenn ich gesättigt durch den Einkaufsmarkt gehe. Die Konsequenz daraus ist, dass ich sehr viel Geld für sehr wenige Kalorien einsetze. Woraus wiederum resultiert, dass ich nach der nächsten Mahlzeit, die mich keineswegs sättigen kann, angesättigt einkaufen gehe, um den aufkommenden Hunger zu besiegen. Daher habe ich irgendwann entschieden, auf wissenschaftliche Erkenntnisse zu verzichten und alles Angelesene zu diesem Thema zu vergessen. Getreu dem Motto: ungenutzter Speicher im Gehirn verbraucht auch keine Energie – wozu auch?
Eine Tüte Chips ist weg, bevor ich ein Sättigungsgefühl verspüre. Aufgrund des Salzes habe ich Durst und lösche diesen mit einer Cola. Die Cola macht den Mund trocken, sodass ich in einem für mich gemächlichen Tempo eine Tafel Schokolade lutsche, ehe mein Mund so verklebt ist, dass ich ein Bier zum Runterspülen brauche. Zum Bier passt am besten Salzgebäck, das direkt neben den noch geschlossenen Chipstüten steht – ein Teufelskreis, aus dem ein Ausbruch utopisch klingt.
Ich gebe zu, dass ich Angst habe, irgendwann zu platzen. Auch wenn ich weiß, dass das wohl unmöglich ist, bleibt diese Angst in meinem Kopf. In demselben Kopf also, der die Gier zum großen Herrscher gemacht hat, zum uneingeschränkten Taktgeber für alles, was ich mache. Ich lebe, um zu essen – ich esse nicht, um zu leben, wie es andere tun. Diese anderen Menschen beneide ich. Tief in meinem Inneren wäre ich gerne wie sie. Doch ich gestehe mir selber ein, dass diese Menschen so weit von mir entfernt sind, dass es auch keinen Unterschied macht, wenn ich auf die Pizza doppelt oder dreifach Käse reibe. Keinen einzigen. Denn gegessen wird sie so oder so.