Geschwister sucht man sich nicht aus
[Kurzgeschichte, veröffentlicht in leja 4, 2024]

Geschwister sucht man sich nicht aus
Auf der Beerdigung meiner Mutter hatte ich viel mehr Bammel vor dem Zusammentreffen mit meiner Schwester als davor, vor vielen Leuten eine Rede zu halten, obwohl ich normalerweise nicht der Typ bin, der sich vor einer großen Menschenmenge wohlfühlt. Da meine Mutter ein herzensguter Mensch gewesen war, der in ihrem Leben vor allem für andere Menschen gelebt hatte, konnte jeder mitfühlen, was ich meinte, als ich am Rednerpult stand und meine Erinnerungen vorlas. Meine Schwester war direkt nach mir dran, und während sie einen ähnlichen Inhalt vor den Versammelten ausbreitete, beobachtete ich ihre Mimik und Gestik, suchte darin meine Ablehnung, die ich mit jeder Faser meines Körpers zu verspüren glaubte, und musste feststellen, dass ich weit weniger in mir spürte, als ich gedacht hatte.
Meine Schwester und ich waren schon immer unterschiedlicher Ansichten gewesen, doch während dies in unserer Jugend vor allem durch unsere Mutter und die tägliche Abwesenheit mit Schule, Sport und Freunden in gewissen Bahnen geregelt gewesen war, rasselten wir spätestens mit dem Abitur aneinander, und viele Vorwürfe und aufgebauschte Nachrichten später waren wir entzweit, als ich es je für möglich gehalten hatte. Diesen Zustand kultivierten wir für eine lange Zeit, und er kulminierte in einem Moment, in dem wir uns beide vergaßen und auf der Beerdigung unseres Vaters uns anschrieen, solange, bis uns unsere Mutter aus dem Restaurant warf, in dem wir den Leichenschmaus abhielten. Dieser Tiefpunkt brachte meine Mutter dazu, uns beide nicht mehr gemeinsam einzuladen; penibel achtete sie darauf, dass wir selbst an Weihnachten und Ostern an verschiedenen Tagen zu Besuch kamen, und unsere Kinder entwöhnten sich voneinander, sodass sie nach einigen Jahren sogar die Namen ihrer Cousins und Cousinen vergaßen. Ich glaube, meine Schwester und ich taten einfach nichts mehr für unsere Beziehung zueinander, und wenn wir nicht Geschwister gewesen wären, wären wir uns sicherlich nie wieder über den Weg gelaufen.
Doch in diesem Moment, als ich sie beobachtete, fragte ich mich, ob ich sie wirklich so abgrundtief hasste, dass ich nie wieder mit ihr reden wollte. Auch wenn ich den Impuls kaum zu deuten wusste, hörte ich dem Ende ihres Vortrags zu, schenkte ihr ein offenes Lächeln und erhielt eins zurück. Ich war irritiert – sollte sie sich auch Gedanken darüber machen, ob wir die Vergangenheit nicht ruhen lassen konnten? Ich schwankte und hatte das drängende Gefühl, mich mit meiner Frau zu beraten, wie ich damit umgehen sollte, doch kaum, dass die Zeremonie vorbei war und wir als Familie an der Tür zur Kirche standen, kam meine Schwester auf mich zu, umarmte mich inniglich und hauchte mir ins Ohr, dass wir ab jetzt alleine waren. Vielleicht ging mir dieser Gedanke das erste Mal bewusst durch den Kopf und ich gab ihr mit meinem ganzen Herzen recht, sodass ich die Umarmung annahm und für mich entschied, dass ich diesem Versuch eine echte Chance geben wollte, denn verloren hatte ich schon alles – wir konnten wohl alle nur gewinnen, wenn wir beide es nochmal versuchten, wieder echte Geschwister zu sein. Ich sah über die Schulter meiner Schwester in die Augen meiner Frau, die mir stumm zunickte, dass alles gut sei, und ich spürte, trotz des Todes unserer Mutter, eine neue Kraft in mir aufsteigen: die Kraft der Familienzusammengehörigkeit.