Elektras Monolog

Elektras Monolog

[Monolog, Auszug aus Elektra in Phokis, veröffentlicht in Matrix 38, 4/2014]

Elektras Monolog

Aus: Elektra in Phokis (I. Szene): Schauspiel in einem einzigen Aufzug.

»Nachts hab ich nicht geschlafen, hab mein Lager

mir auf dem Turm gemacht, und hab geschrieen

im Hofe und gewinselt mit den Hunden.

Verhaßt bin ich geworden und hab alles

gesehen, alles hab ich sehen müssen

so wie der Wächter auf dem Turm, und Tag

ist Nacht, und Nacht ist wieder Tag geworden,

und an der Sonne nicht und an den Sternen

hab ich mich nicht gefreut, denn alles war mir

um seinetwillen nichts, es war mir alles                        

nur Merkzeichen, und jeder Tag war nur

ein Merkstein auf dem Weg!«

(Hugo von Hofmannsthal: Elektra)

Text

Vor dem Palast in Phokis. Im Hintergrund sieht man einen Nebeneingang in den Palast. Zur rechten Seite sieht man einen Gemüsestand, der ohne Ware und Händler ist. Links neben dem Nebeneingang ist in etwas Abstand eine Sitzgelegenheit zu sehen. Nach rechts geht es in die Stadt hinaus, nach links zum Hauptplatz vor dem Palast. Es ist früher Morgen. Der gesamte Platz liegt in völliger Ruhe da. Kein Lüftchen regt sich, kein Laut ist zu hören. Da der Platz während des gesamten Morgens im Schatten liegt, ist es noch dämmrig. Nach einer Weile tritt Elektra von der rechten Seite auf. Sie ist in einem dunklen Mantel eingewickelt und huscht über den Platz. Sie läuft zum Nebeneingang, rüttelt leicht dran und findet ihn verschlossen. Sie versucht es erneut, zischt kurz einen unverständigen Namen, ehe sie sich nach vorne zurückdreht.

Elektra:

Ausgesperrt aus dem eigenen Palast!

Geschlossen sind die Türen und Pforten,

Als hätten die Bewohner des Palastes

Große Angst vor den Menschen von Phokis!

Oder als ob jemand die Stadtbewohner

Vor einem absonderlich wilden und

Gefährlichen Getier beschützen müsste!

Der unsagbare Widersinn, der herrscht!

Es ist eben noch frisch und früh am Morgen,

Noch vor dem baldigen Sonnenaufgang,

Und auch wenn der Himmel über unsren Köpfen

In seinem blausten Blau des Morgens erstrahlt,

Erstrahlt er doch nur für diejenigen,

Die noch den Blick gen Himmel richten können,

Und nicht zerbrechen an der großen Qual,

An der so viele leiden.

Sie lehnt sich an die Türe.

Elektra:

             Jede Nacht,

Wenn‘s in abendlicher Stund‘ dunkel wird,

Und die Menschen sich zum Schlafe legen,

Muss ich diesem Gefängnis entfliehen,

Das kein echtes ist, das nicht meines ist,

Und streife unerkannt durch die Straßen,

Suche mit meinen Augen nach dem Leben,

Suche nach Wenigem, was Lebendigem,

Das mir hilft, die Leere zu verscheuchen,

Die wie ein Flächenbrand in mir wütet.

Die wie der Himmel ohne die Sonne ist,

Eine schwarze Nacht ohne Wolken und Mond.

Aber ist es überhaupt ein Wüten in mir?

Kann die Leere überhaupt in mir wüten?

Oder ist es nicht mehr ein sinnloses Sein,

Ein absolut leerer Raum, den ich selbst

Mit Gedanken nicht zu füllen vermag,

Ganz gleich, woher diese auch kommen mögen?

Gedanken, die, wenn sie denn herankommen,

Ohne den lebensfüllenden Sinn sind,

Reine Blitze, die absolut leer sind,

Ohne jeden Bezug zu der Zukunft,

Zu irgendeiner Vergangenheit, ja,

Nicht einmal zum Hier und Jetzt. Nicht mal das!

Ich bin ohne eine Bindung zu mir selbst,

Ohne eine Bindung zu meiner Zeit,

Eine Gefangene in meiner selbst.

In einem unsichtbaren Gefängnis,

Das mich und mein ganzes Wesen umgibt,

Ohne dass es jemand ersehen kann,

Denn es ist meine eigne Vergangenheit,

Es sind meine bittren Erlebnisse,

Die mich in der Leere gefangen halten,

Hier, in dieser unwirtlichen Einöde.

Es entsteht ein kurzer Ton in ihrem Rücken und sie erhebt sich schlagartig, schaut durch die Türe, doch nichts rührt sich und alles ist wieder ruhig.

Elektra:

Ach! Warum nur haben mir die Götter

Diese übermenschliche Last auferlegt?

Was habe ich, Elektra, verbrochen,

Ein solches Urteil tragen zu müssen?

Hinabgezogen in jenes Elend

Der immer kalten, finsteren Leere,

Des unsagbaren Nichts, das mich umgibt,

Das umhüllende, mächtige Schweigen,

Obwohl sie alle reden und scherzen,

Die tiefe Stille in meinem Herzen!

Sie dreht sich wieder nach vorne, den Rücken gegen die Eingangstüre. Dieses Mal bleibt sie jedoch stehen.

Elektra:

Wie es wohl Pylades und Orest ergeht?

Schon lange sind sie unterwegs, zu suchen,

Was kaum zu finden ist, um zu finden,

Was sie kaum erstehen werden können,

Zu erstehen, was dort wohl gut bewacht

Beim Versuch ihr Leben kosten könnte.

Ach, könnte ich nur dieses verhindern,

Dass beide bei ihrer Suche stürben.

Ach ihr Götter! Wer weiß schon so genau,

Ob die Getreuen überhaupt noch leben?

Wer weiß schon so genau, was die Götter

Mit ihnen vorhaben? Wer weiß das schon?

Niemand! Niemand! Niemand! Nicht einer weiß es!

Nicht einmal ich, die es wissen müsste!

Doch das Schlimmste an diesem Umstand ist,

Dass das Ganze mich nicht einmal berührt!

Mein von Leere umhüllter Kopf sagt mir,

Dass sich mein Mann in Gefahr befindet,

Dass er sein Leben für Orest einsetzt,

Um zu erfahren, wie der große Fluch

Aus unsrem Leben zu vertreiben ist!

Doch fühlen – nein, ich fühle nichts. Gar nichts!

Selbst wenn ich mir vorstelle, wie Pylades,

Durchbohrt von vielen Speeren, blutgetränkt

Auf dem Boden eines Tempelhofs liegt,

Dann fühle ich nichts! Ich fühle gar nichts!

Ich sehe Pylades vor mir liegen,

So als ob er hier gleich vor mir läge,

Sehe, wie das rote Blut des Todes

Aus den Stoßwunden seines Körpers dringt

Und auf die todesschwarze Erde rinnt,

Sich dort in einer Blutlache sammelt,

Um ohne ihn Trauernde zu versickern.

Nach und nach, bis der blutende Quell versiegt,

Bis das Leben aus ihm ausgehaucht ist,

Bis ich Witwe bin. Bis ich Witwe bin!

Sie stößt sich ab und geht ein paar Schritte nach vorne, ehe sie sich auf die Knie fallen lässt.

Elektra:

So könnte er denn hier vor mir liegen,

Völlig ausgeblutet, ohne Leben,

Ohne Augenlicht, geschunden, gemordet,

Und doch fühle ich im Inneren nichts,

Ich fühle keinen Verlust, keinen Schmerz,

Sondern nichts als die reine Leere in mir.

Es ist, als ob ich schon gestorben bin,

Obwohl ich atme. Obwohl ich lebe!

Obwohl mein Körper atmet und er lebt.

Tot verharre ich in meinem Gefängnis,

Das unsichtbare, das mich hier umgibt.

Elektra starrt einige Zeit ins Leere, ehe sie sich erhebt.

Elektra:

Es wird mir wohl keine Wache aufmachen,

Wenn ich hier im Dunkel herumschleiche!

Wer es wohl entdeckt hat, das offne Tor?!

Das werde ich wohl herausfinden müssen,

Um weitre Aussperrungen zu verhindern.

Sonst wär‘ ich entdeckt! Jetzt aber will ich es

An einem anderen Eingang versuchen.

Hoffentlich hört mich dort jemand Vertrautes,

Ohne gleich den Hofstaat aufzuwecken!

Elektra schaut sich kurz um, ehe sie zur linken Seite abgeht.