Ein sonderbares Buch

Ein sonderbares Buch

[Kurzgeschichte, veröffentlicht in Fantasia Magazin 1126e, 2024]

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Ein sonderbares Buch

An einem düsteren Morgen, der seine grauen Schleierschatten vor dem Sonnenaufgang vorauswarf, der auch noch auf sich warten lassen würde, ereilte mich eine E-Mail mit einem merkwürdigen Inhalt, in der ich direkt und ohne Umschweife dazu aufgefordert wurde, ein Buch mit dem eigenartigen Titel Die allgemeine und die spezielle Ausdrucksweise in der Sprache der Toten von Elsag Høglå, einem Doktoranden an einer mir bisher unbekannten Privatuniversität, zu erwerben, ein Buch, das in einem mir ebenfalls unbekannten Verlag Fleur de la terre erschienen sei. Sogleich war ich ohne sonderlichen Grund wie elektrisiert, und erst nach einer Weile erschien mir die Vorstellung einer wie auch immer gearteten Ausdrucksweise von Toten das wahrhaft Interessante an dieser Veröffentlichung, die ich auch sogleich zu suchen begann, in Internetverkaufsportalen wühlte, dann in Bibliotheken und schlussendlich ging ich in eine Buchhandlung meines Vertrauens, doch auch der dort stets sitzende und niemals ein Buch zu verkaufen scheinende Kauz von einem Buchladenbesitzer konnte mir nicht sagen, wo ich dieses Buch bekommen konnte. Auch der Verlag Fleur de la terre schien ihm nichts sagen zu wollen; er meinte allerdings, dass es sich viel eher um eine Bodenfrucht, wie zum Beispiel eine Kartoffel, anhören würde, als dass es sich um einen echten Verlag handele. Er fragte mich auch sogleich, ob ich mitunter in Betracht ziehen würde, dass mich jemand auf den Arm nehmen möchte, und mit diesem durchaus möglichen Gedanken ging ich nach Hause, setzte mich an meinen Computer und versuchte, die E-Mail erneut zu öffnen, doch als ich sie anklickte, ging mit einem Mal mein Computer aus, ganz von alleine, während um mich herum die Uhren und die Lichter weiterhin funktionierten. Als ich den Computer erneut hochfuhr, in dem Schrecken, dass ihm dieser Stromausfall geschadet haben mochte, entdeckte ich jedoch keine Schäden, außer, dass die E-Mail nicht mehr vorhanden war; es schien, als wäre sie niemals da gewesen. Dieses Nichtfinden jedoch steigerte nur mein Interesse an diesem Buch, und jetzt, da ich dem Absender dieser mysteriösen Nachricht nicht mal antworten konnte, war ich gezwungen, diesen Titel auf eine andere Art und Weise zu besorgen.

Tagelang trug ich mit mir die Vorstellungen, wie ich die Suche angehen könnte, doch mir wollte keine weitere Möglichkeit mehr einfallen, als mir eine Einladung zu einem Symposium an einer befreundeten Universität gerade recht kam, denn dort lehrte ein Professor Doktor, den ich ohne größere Angst vor einer Blamage oder meiner durchaus möglichen Lächerlichkeit ins Vertrauen ziehen konnte. Leider verzögerte sich meine Anreise, sodass ich erst kurz nach dem Beginn der ersten Rede vor Ort eintraf und mir einige spöttische Blicke meiner Kollegen einfingen, die sich sicherlich schon über die wichtigsten Themen der Fachwelt insoweit geeinigt hatten, dass niemand in den nächsten Publikationen dem anderen ein Stück vom fachthematischen Kuchen wegnehmen würde. Ich setzte mich, so leise es mir möglich war, auf meinen reservierten Platz, schaute durch die Runde und bemerkte, dass sich die meisten mehr für mein Zuspätkommen als für den ersten Vortrag interessierten, was ich aber nach einem Blick auf das Programm auch verstehen konnte, denn wen interessierten schon die nekrophilen Gewohnheiten eines allseits bekannten Autors zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, über den schon so viel behauptet worden war, dass, wenn auch nur zehn Prozent von diesen Behauptungen wahr gewesen wären, er zweihundert Jahre alt geworden sein müsste, um das alles zu erledigen, was ihm im Nachhinein angedichtet worden war. Niemand hörte dem Redner zu, und doch gab es am Ende ein warmherziges Klatschen, denn obwohl man im Grunde im Wettbewerb mit den anderen Anwesenden stand, so war der Druck weitaus geringer als in anderen Forschungsfeldern, sodass wir dem anderen genügend Raum einräumen konnten und es nur sehr selten zu echten fachlichen und späterhin körperlich-psychischen Scharmützeln kam – dafür waren andere Fachbereiche mehr als berüchtigt.

In dieser monotonen Form verging der Tag, und normalerweise hätte mich im Vorfeld dieses Symposiums das Grauen ereilt, daran teilzunehmen, doch an diesem Tag dachte ich immer nur daran, dass ich nach dem Ende des Vortragsteils die Möglichkeit erhalten würde, mit meinem befreundeten Professor über die mysteriöse E-Mail zu sprechen. Doch es sollte ganz anders kommen, denn es war nicht mein Freund, sondern ein mir bisher nicht sehr geläufiger Doktor, sehr jung an Jahren und mit flachsblondem Haar, der mich irritierenderweise auf das Buch ansprach, sodass ich im ersten Moment glaubte, dass er vielleicht sogar der Absender der E-Mail sein konnte. Aber wie sich alsbald schon herausstellen sollte, hatte er diese E-Mail ebenfalls erhalten, doch auch bei ihm geschah Merkwürdiges, als er versuchte, diese E-Mail an den Drucker zu leiten, denn nicht nur sein Computer, sondern das gesamte Netz in seiner Universität brach zusammen, ganz so, als hätte jemand den Gesamtstecker für alle elektronischen Anlagen gezogen. Natürlich ahnte niemand, dass dieser Doktor mit dem Drucken der E-Mail der Auslöser war, und auch er selbst zweifelte noch daran, doch als ich ihm meine Geschichte erzählte, war sich mein Gegenüber umso sicherer, dass diese E-Mail mehr und mehr Zündstoff beinhaltete, als man sich allgemein von einer E-Mail zu denken vermochte. Warum er jedoch auf mich zukam und wusste, dass ich diese Nachricht auch erhalten hatte, war dem Umstand geschuldet, dass der Drucker den Druck der Nachricht noch begonnen hatte, und so konnte der junge Doktor im Header erkennen, dass ich neben ihm der zweite Empfänger der E-Mail gewesen war. Aber viel wichtiger – auch der Absender war erkennbar, und als ich ihm vorschlug, eine E-Mail an diese Absenderadresse zu schicken, meinte er nur lakonisch, dass wir das sein lassen sollten, da er sich das natürlich auch gedacht und einen weiteren Stromausfall auf dem Universitätsgelände ausgelöst hatte.

So verwirrte mich dieses kurze Gespräch, das darüber hinaus noch von einem mir sehr unsympathischen Professor unterbrochen wurde, so wenig gelang es mir, für einige kurze Momente mit meinem befreundeten Professor zusammenzukommen, um ihm von der schriftlichen und merkwürdigen Aufforderung nach dem Erwerb dieses Buches zu berichten. Somit verließen wir alle nach dem Ende des Smalltalks den Saal, zogen uns in ein nahes Hotel zurück, und zusammen mit einigen anderen ging ich an die Bar hinunter, trank eindeutig zu viel, und als ich nach einem langen Abend endlich im Bett lag, fielen mir die Augen fast augenblicklich zu.

Wie oft geschieht es, dass man im Traum die Augen aufschlägt und weiß, dass man träumt? Gleichwohl, nachdem ich eingeschlafen war, muss ich in der Traumwelt aufgewacht sein, denn ich lag nicht mehr in meinem angewärmten Hotelbett, sondern mit meinem Rücken auf einem knochenharten und leicht angefrorenen Waldboden, ohne dass mir die Kälte etwas auszumachen schien. Ganz im Gegenteil – sie beruhigte mich sogar so sehr, dass ich liegenblieb, obgleich sich über mir die Wolken am Himmel im faden Mondscheinlicht bewegten, ganz als wäre Geisterstunde. Und eben in dieser geistigen Verfassung geschah es, dass mich urplötzlich und ohne, dass ich etwas mitbekommen hätte, zwei knochige Hände packten, mich hochrissen und kaum, dass ich mich versah und mir der gewollte Schrei im Halse stecken blieb, sah ich in das schrecklich verzerrte Gesicht des Doktors, mit dem ich am Nachmittag auf dem Symposium gesprochen hatte. Wir verharrten in dieser Position und schwiegen uns gegenseitig an, als ein heftiger Wind aufkam, eine starke, warme Luft mit sich führende Böe, die seinen und meinen Kopf umspielte, und als der Mond das erste Mal hinter den Wolken hervortrat und ein direktes Licht auf uns beide warf, schien es mir, als würde ich in seine Seele blicken können – durch seine Augen hindurch, als wären sie aus Glas, und ich sah ein Grauen, das größer nicht sein und tiefer nicht in ihm stecken konnte, doch als der Mond wieder verschwand, verschwand auch mein Blick in sein Innerstes. Dieser Moment der höchsten Überspanntheit hatte mich von dem Wind abgelenkt, der weiterhin steif blies, und als ich genauer hinhörte, vermeinte ich ein Geräusch, eine Art Stimme im pfeifenden Wind auszumachen, ein weiterer Schrecken, der mich schaudern ließ, doch je länger ich hinhörte, desto klarer wurde mir die Stimme, die nicht nur irgendwelche Schreie losließ, sondern tatsächliche Worte formulierte, und erst jetzt, nach all den Augenblicken, in denen ich dem Doktor gegenüberstand, entdeckte ich, dass nicht er, sondern er selbst, das heißt, sein Doppelgänger auf der Rückseite seines Kopfes nach mir schrie. In welch einer sonderbaren Welt war ich gefangen?, durchdrang mich als Frage, und ich schaute mich um, doch je mehr ich mich umsah, desto mehr reagierte der Doktor und zwang meinen Blick zu sich, forderte die Unterhaltung, und als ich mich dazu entschied, ihn anzuschreien und mich von ihm loszureißen, ließ er mich erstaunlicherweise tatsächlich los. Ich warf meinen Körper herum und lief so schnell ich konnte, von diesem Platz fort, sah mich dabei ab und an um und erkannte, dass sich der Doktor nicht von seinem Ort bewegte, sondern mich ziehen ließ. Ein wenig gewann ich die Ruhe in meinem Körper zurück, und so lief ich in dieser Tramwelt umher, ohne Ziel, Plan und Wissen von dem Ort, wo ich mich befand, und als ich verstand, dass ich, egal, wie weit und in welche Richtung ich laufen würde, am Ende immer wieder zum Doktor zurückgelangte, blieb ich stehen, verschnaufte, sah mich um und sackte ob der fehlenden Lösungsmöglichkeiten in mich zusammen. Auf den Knien sitzend blickte ich in den Himmel hinauf, suchte nach einer Erklärung, nach einem Ausweg, und kaum, dass ich glaubte, aus irgendeinem verborgenen Grunde meines Wesens den Mut ein wenig zurückgefunden zu haben, hörte ich ein Geräusch direkt hinter mir, schreckte auf und sah einen Mann in einem dunklen Mantel, den ich noch nie zuvor in meinem Leben gesehen hatte. Dieser Mann kam auf mich zu, und ich vermochte es nicht, mich auch nur einen Millimeter zu bewegen; wie gebannt blickte ich auf ihn, denn in dem Augenblick, in dem er ins Licht trat und mich ansah, unter seinen Mantel griff und ein Buch hervorzog, ahnte ich, nein, wusste ich, dass nicht nur der Doktor, sondern auch ich in dieser Nacht den letzten Atemzug aushauchen würde.