Druck
[Kurzgeschichte, veröffentlicht in Traumhaus am Meer, 2014]

Druck
Der Druck wuchs stetig. Mit jedem Tag fühlte sich Falk mehr und mehr in die Enge gedrängt. Der Druck kam von oben, von unten, von der Seite – überall her, selbst aus Richtungen, aus denen er es niemals erwartet hätte. Doch einige andere Abteilungsleiter pflichteten ihm bei, dass das nichts Ungewöhnliches in einem Konzern war, in dem als oberste Maßgabe eine sauber durchgeführte Dokumentation galt – der allgemeinen Compliance-Regeln wegen. Compliance, im Grunde ethische Vorschriften, von denen man ausgehen sollte, dass jeder normale Mensch diese Regeln im Schlaf anwendet. Doch diese Regeln waren notwendig geworden, da sich die Menschen von der Macht und dem Stress, der das Urteilsvermögen stark beeinträchtigt, zu äußerst kurzfristigen und unüberlegten Entscheidungen hinreißen ließen, bei denen jeder menschenwürdige Anstand vermisst werden konnte. Compliance war das neue Schlagwort, mit dem der Konzern Jagd auf Mitarbeiter machte, vor allem in den unteren Führungsebenen, die es nicht so genau mit der Ethik und Moral nahmen. Und Falk war ein Mitarbeiter, der nicht umsonst im Ruf stand, über Leichen zu gehen.
Während die anderen Abteilungsleiter um ihn herum studierte Köpfe waren, denen alles zuzufliegen schien, hatte sich Falk vom einfachen Sachbearbeiter hochgedient, war hohe Risiken eingegangen und bisher auch immer für sein Engagement belohnt worden. Aber mit jeder Stufe die Karriereleiter hinauf wurde das Eis dünner, auf dem er stand, und jenes, auf dem sich Falk im Moment befand, hatte schon kaum zu übersehbare Risse. Falk wäre aber nicht Falk, wenn er abwarten und sich nicht gegen diese Risse wehren würde. Mit dem einzigen Mittel, das er kannte: diejenigen, die für die Risse verantwortlich waren, vorher in den Abgrund zu stoßen.
Es ist ein unumstößliches Gesetz, dass man sich mit steigender Machtfunktion innerhalb einer hierarchischen Organisation einsamer und einsamer fühlt. Falk hatte diesen Weg mitgemacht: vom Kollegen, mit dem man über alles sprechen konnte, zum Teamleiter, der noch nahe genug bei den Kollegen war, um keine allzu große Distanz aufzubauen, dann zum Unterabteilungsleiter, bei dem er schon für mehr als vierzig Mitarbeiter verantwortlich war, die allesamt nicht mehr seine Freunde und guten Kollegen sein konnten, hin zum Abteilungsleiter mit knapp zweihundert Mitarbeitern, die zum Teil so weit von ihm entfernt waren, dass er nicht mit absoluter Sicherheit sagen konnte, dass er alle von ihnen mit Namen kannte. Mit jedem Schritt wurden die Aufgaben, die er zu erfüllen hatte, immer weniger detailorientiert, sondern mehr high-level, mit dem Anspruch, die Einzelthemen in die große Gesamtstrategie des Konzerns einzufügen. Außerdem erhielten spätestens seit seiner Zeit als Unterabteilungsleiter alle Themen eine wachsende unternehmenspolitische Ausrichtung, sodass er mehr und mehr Zeit damit verbrachte, gegen eine Vielzahl von Windmühlen zu kämpfen, als dass er basisstrategische Arbeit verrichtete.
In diesem schwierigen, sehr von persönlichen Zu- und Abneigungen abhängigen Club der Mächtigen des Konzerns hatte sich Falk nach seinem Aufstieg mit den studierten Köpfen angelegt. Das Ergebnis war, dass nicht nur der Konzernvorstand, sondern auch das Controlling und seine eigenen Unterabteilungsleiter auf ihn Druck ausübten, sodass Falk kaum noch entscheiden konnte, welchen Weg er gehen wollte – denn jeder Weg bedeutete, dass er mindestens einem den Weg abschnitt. Entschied er sich für den Konzernvorstand, bekam er Widerstand von unten, verbündete er sich mit dem Controlling, war alles unsicher, und wenn er sich mit seinen Mitarbeitern solidarisierte, konnte es passieren, dass er auch unangenehme Themen zum Vorstand tragen musste, die dieser sich nur sehr ungern anhörte. Und ein ausgleichender Charakter war Falk allemal nicht – ganz im Gegenteil.
Aber welche Mächtigen innerhalb eines Unternehmens sind die gefährlichsten? Die Intelligenten, die wissen, dass sie intelligent genug sind, als dass ihnen bei krummen Dingen niemand auf die Schliche kommt? Oder die Dummen, die nur durch Glück und Gerissenheit nach oben gekommen sind, weil sie am richtigen Ort zur richtigen Zeit waren und sich das genommen haben, was ihnen bei näherer Betrachtung gar nicht zustand? Oder die so genannten mittleren Charaktere, denen die ganze Bandbreite zur Verfügung steht – von der Intrige bis zum Best-Buddy?
Falk war der dritte Typ, von mittlerer Intelligenz, mittlerer Führungskompetenz, mittlerem Sinn fürs Politische. Das Einzige, bei dem er überdurchschnittlich war: Er konnte die brennende Lunte riechen, die ihn zu versengen drohte. Und sie brannte, nein, sie stank dermaßen, dass er aufwachen musste. Viel zu lange hatte er die unliebsamen, aber notwendigen Richtungsentscheidungen vor sich hergeschoben, und nun war es kein Wunder, dass er über den ihm gebliebenen Flurfunk mithörte, dass er bald schon gegen einen anderen Abteilungsleiter ausgetauscht werden sollte. So gut funktionierten seine Kanäle noch, wenn sie ihm auch nicht sagen konnten, aus welcher Richtung diese Gerüchte kamen. Er wusste nur, dass an Gerüchten meistens auch ein wahrer Kern war – das war immer seine Strategie gewesen, denn im Verbreiten und Verstärken von Gerüchten war er selbst ein Meister gewesen –, und so wusste er, dass er der Ursache des Gerüchtes nur auf die Spur kommen musste, um herauszufinden, wer an seinem Stuhl sägte. Sollte er diesen Umstand klären können, mit dem vollen Risiko, dass er auch den Falschen erwischen konnte, dann galt es, schneller zu sägen als der andere. Denn diesen Vorteil hatte er schon immer gehabt: Er wusste, wie man bedingungslos an den Stühlen anderer sägt, während sich die meisten anderen erst einmal darüber klar werden mussten, ob sie das Risiko eingehen wollten – denn ein offener Krieg zwischen zwei Abteilungsleitern führte nur in den seltensten Fällen dazu, dass der Überlebende unbeschadet aus der ganzen Affäre hinauskam.
Falk wusste, dass er seine eigentliche Arbeit für eine gewisse Zeitspanne würde ruhen lassen müssen, wenn er dem Übel auf die Spur kommen wollte. Um das zu arrangieren, suchte er sich eine nebulöse Aufgabe, die niemand so richtig anpacken wollte – mit dem Hintergrund, dass es niemanden wirklich interessieren würde, wenn das Ergebnis kein produktives wäre –, und indem er seine Unterabteilungsleiter versammelte, delegierte er an sie einige seiner Aufgaben, um sich diesem nebulösen Thema widmen zu können. Seine Unterabteilungsleiter nahmen diese neue Aufgabenverteilung ohne Widerspruch zur Kenntnis, denn sie alle wussten, dass die Karten unter der Führung eines neuen Abteilungsleiters sowieso neu gemischt würden. Nach einer guten Stunde waren die Unterabteilungsleiter aus dem Büro, und Falk konnte sich daranmachen, den Gerüchten auf die Spur zu kommen. Da er die Spielchen kannte, die hinter dem Rücken der Abzuschießenden gespielt wurden, hatte er die Reaktion seiner Unterabteilungsleiter sehr genau beobachtet, doch unter ihnen keinen gefunden, der direkt an dem Absägen beteiligt zu sein schien – allenfalls als Mittelsmann, um die nötigen Informationen zu besorgen. Aber dafür hatte Falk über die letzten Jahre gesorgt: Beim Ausscheiden oder dem Abwandern eines Unterabteilungsleiters war er stets so vorgegangen, dass er sich für den nachzubesetzenden Posten einen potentiell schwachen Gegner aussuchte, damit er keinen Aufstrebenden in seinen Reihen hatte, den er bald schon nicht mehr kontrollieren konnte. Alles in seiner Abteilung war perfekt durchgeplant und auf eine maximale Abschottung von unten gebaut, sodass der Druck eigentlich nur von außen kommen konnte. Den Vorstand schloss er indirekt aus, denn die würden – bis auf einen fiesen Typen, der es gerne sah, wenn andere litten – nicht diese Schleichwege gehen, sondern ihm die Pistole auf die Brust setzen, um ihn zu einem Richtungswechsel zu zwingen. Es konnte nur einer seiner Kollegen auf derselben Ebene sein! Zu diesem Schluss kam Falk von alleine; jetzt musste er sich nur noch schlau machen, wer unter der Gruppe seiner Gegner der Wortführer war.
Das Überleben im mittleren Management eines Konzerns war mit den Spionagetätigkeiten im Kalten Krieg gleichzusetzen – so versinnbildlichte sich Falk immer seine Situation. Aus diesem Grund hatte er über die Jahre seiner Tätigkeit als Abteilungsleiter in nahezu jeder gegnerischen Abteilung Spione aufgebaut, die ihm regelmäßig Informationen gaben; eben jene Spione musste er nun anzapfen. Jedoch ohne, dass sein Nachbohren allzu sehr auffiel, denn auch seine Spione sprachen in ihren Teams, und wer weiß schon so genau, ob ein Spion nicht auch ein Doppelspion sein konnte?
Vorsichtig tastete sich Falk vor; mit dem einen ging er Mittagessen, beim nächsten kam ihm der Zufall zu pass, dass etwas in dessen Familie passiert war, sodass er zu einem unverfänglichen Gespräch vorbeigehen konnte, beim dritten kam ihm eine Einladung zum Joggen gerade recht, die er sonst immer ignorierte, und zum vierten ging er ganz einfach, weil dieser Geburtstag hatte. Immer versuchte Falk in den Gesprächen nicht nur die Worte selbst aufzunehmen, den gesagten Inhalt, sondern auch die Gestik und Mimik, die Spannung in der Stimme, die Variation der Tonhöhen und allgemein die gesamte Art und Weise der Informationsweitergabe. Bei zweien merkte er gleich, dass sie ihm gegenüber reserviert waren; daraus konnte er schließen, dass sie schon von den Gerüchten um seinen baldigen Abschied wussten und sich nun entscheiden mussten, ob sie auf dem sinkenden Dampfer bleiben wollten oder sich vorher von ihm verabschiedeten. Derjenige, mit dem er joggen ging, sprach hingegen frisch und frei von der Leber weg, erzählte, was ihm sein Teamleiter und Unterabteilungsleiter alles anvertraut hatten, und half Falk, das Bild ein wenig genauer zu sehen. Inzwischen hatte er ein gutes Gefühl dafür, welche Abteilungsleiter sich gegen ihn verbündet hatten, und zu seinem Erstaunen waren es eben nicht jene, die er erwartet hatte, sondern gerade die, die er auf seiner Seite wähnte. Einem vorne herum ins Gesicht lächeln und hinterrücks das Messer zum Zustoßen halten!
Das Gespräch mit dem vierten Spion bestätigte diese Meinung nur noch, ohne dass dieser viel erzählen musste – Falk hatte ein fertiges Bild im Kopf. Es würde nicht leicht werden, da sich gleich drei Abteilungsleiter gegen ihn verschworen hatten, doch er wusste, dass einer aus dieser Gruppe der Anführer war. Gegen diesen zu schießen, konnte nur unweigerlich zu seinem eigenen Ende führen, da dieser Abteilungsleiter so fest im Sattel saß und hervorragende Ergebnisse brachte, dass der Kampf keiner auf Augenhöhe wäre. Somit musste er sich einen der beiden anderen aussuchen, und er wusste auch schon welchen. Denn einer seiner vier Spione hatte im gleichen Atemzug davon gesprochen, dass er gehört habe, wie man auch an dem Stuhl des anderen Abteilungsleiters sägen würde, der nur noch von dem starken Partner geschützt und gehalten wurde. Wenn es Falk gelänge, diesen einen aus dem Weg zu räumen, könnte das allen zeigen, dass er doch fester im Sattel saß, als alle meinten, und dem gegnerischen Trio einen solch heftigen Schlag versetzen, dass er wieder seine Ruhe finden könnte.
Falks Schlachtplan stand – jetzt musste er sich nur noch über die Taktik Gedanken machen: ein frontaler Angriff oder sollte er über Schleichwege versuchen, seine Ziele zu erreichen? Angesichts der Tatsache, dass sein Stuhl bereits sehr wackelig wirkte, blieb ihm nicht sehr viel Zeit für taktische Spielchen, sodass nur ein Angriff mit voller Breitseite eine richtige Wirkung erzielen konnte – und wie es der Zufall wollte, kam ihm das richtige Gerücht gerade zupass: Der ausgesuchte Abteilungsleiter sollte eine Affäre mit einer Mitarbeiterin aus seinem Team haben, einer verheirateten Frau, deren Reputation und Integrität weit über die eigene Abteilung hinausging. Wenn es also Falk gelingen würde, dieses Tächtel-Mächtel aufzudecken, vermochte er zum Gegenschlag auszuholen, den niemand erwartete. Das Geniale an dieser Taktik war, dass es nicht mal ein fachlicher Angriff sein musste, in dem die Geschütze, die auf ihn gerichtet waren, durchaus Gegenfeuer leisten konnten. Süffisant lehnte sich Falk in seinem Schreibtischstuhl zurück und malte sich aus, was passieren würde, wenn er die beiden auf frischer Tat ertappte – im Kopiererraum, im Heizungskeller oder wo auch immer –, doch er wusste ebenso gut, dass das niemals passieren würde. Er brauchte einen anderen Schlachtplan und wiederum kam ihm der Zufall zur Hilfe.
Einer von seinen jungen Mitarbeitern, die sich nach dem Studium noch besonders profilieren wollten, schickte ihm eine E-Mail mit einer Analyse, die er laut Konzernvorschriften und Betriebsvereinbarungen nicht machen durfte. Deswegen schickte der Mitarbeiter auch nur Falk diese Ergebnisse zu, und Falk erinnerte sich schwach daran, dass er diese Analyse irgendwann einmal in Auftrag gegeben hatte. Ihr Inhalt war, herauszufinden, welche Mitarbeiter die Konzernpoolings der Telefon- und Datenverbindungen besonders belasteten. Als Falk die Datei öffnete und die Ergebnisse sah, erkannte er sogleich die Brisanz dieser Daten. Da er selbst früher ausgiebige Datenanalysen gemacht hatte, konnte er blind zwischen den riesigen Datentöpfen hin- und herspringen, filterte die Nummer des Abteilungsleiters heraus, ließ sich über Querverweise die Einzelnachweise der Anrufe in einer gesonderten Tabelle ausweisen und sah gleich, dass sein Opfer zumeist mit zwei Nummern telefonierte: mit einem Festnetzanschluss und einer Handynummer. Schnell fand Falk über die Stammdaten der Personalabteilung heraus, dass der Festnetzanschluss der eigene Privatanschluss war, doch die Handynummer war nirgendwo in den Personaldaten zu finden. Es musste eine private Nummer sein, und so gab er einer unbedarften studentischen Hilfskraft den Auftrag, zwölf beliebige Nummern zu prüfen, die sich Falk aus der Datei gezogen hatte. Ein nebulöser, fadenscheiniger Grund reichte dem Studenten, der beinahe schlotternd vor dem so scheinbar mächtigen Abteilungsleiter gestanden hatte, um sich an die Arbeit zu machen, und als die Liste binnen weniger Minuten zurückkam, wusste Falk, dass sein Geschütz nicht nur auf den anderen Abteilungsleiter gerichtet war, sondern nun auch mit einer Sprengladung bestückt war, die nicht nur einen kleinen, sondern einen Flächenbrand auslöste, in dem mindestens ein Abteilungsleiter zum Opfer werden würde.