Die Welt zieht vorbei

Die Welt zieht vorbei

[Kurzgeschichte, veröffentlicht im Dichtungsring Nr. 66, 2024]

Die Welt zieht vorbei

Ich sitze an einem Fenster in einem fahrenden Zug, meine Frau mir gegenüber, und ich schaue angestrengt nach draußen, sehe, wie die Welt an uns vorbeizieht, als wäre ich in einem Raffer aus Zeit und Erleben gefangen. Gefangen ist kein schlechtes Wort für den Zustand, den ich empfinde, denn ich sitze zwar freiwillig in diesem Zug, um die Distanz zwischen Start- und Zielort zu überbrücken, doch ich kann weder den Zug anhalten noch kann ich beeinflussen, wo und wann er sich – und damit ich mich – befindet. Ich denke über diesen Umstand nach, während die Landschaft weiterhin an uns vorbeifliegt, und als ich den Blick meiner Frau bemerke, wie sie nach draußen schaut, beinahe regungslos, als wäre sie eine in Jade gemeißelte Figur, wären da nicht die sich leicht bewegenden Pupillen, dann könnte man meinen, sie wäre eine Puppe. Wie oft habe ich mir schon gewünscht, dass ich in solchen Momenten – wie sie es perfektioniert hat – die Gedanken einfach ziehen lassen kann, anstatt die Ruhe des Dahinziehens zur Unruhe der eigenen Gedanken werden zu lassen. Gerade eine passive Bahnfahrt hat im Gegensatz zu einer aktiven Autofahrt den entscheidenden Unterschied, dass man im Prinzip über seine freie Zeit verfügen kann, solange man bereit ist, die Bestimmung des eigenen Ortes dem Fahrpersonal des Zugs zu überlassen.

Diesen Gedanken einfangend, sitze ich am Fenster und starre wieder nach draußen, versuche es wirklich, wirklich, wie meine Frau gedankenverloren die vorbeifliegende Landschaft mit wertfreien Blicken zu liebkosen, ohne harte Wertungen, mehr als Bilderreihen, die die innere Welt in eine große Ruhe bringen. Bei mir herrscht im Inneren Unruhe, und mit jeder Minute, die ich unruhig auf dem unbequemer werdenden Sitz aushalten muss, wird die Unruhe der Gedanken größer. Loslassen ist das neue Codewort, das durch meinen Kopf wabert, loslassen wovon? – wobei schnell die Erkenntnis reift, dass wohl mal irgendwas loslassen schon ein absolutes Novum bei mir wäre!

Ist es am Ende vielleicht sogar Ignoranz dem Leben gegenüber, was meine Frau dort betreibt? Könnte man aus ihrer Regungslosigkeit darauf schließen, dass sie das Leben weniger wichtig findet und auch das, was um sie herum passiert? Wie oft sehe ich Dinge, lese Artikel, finde Zusammenhänge, beschäftige mich mit den Unwuchten der Welt, während sie ihre Gedanken schweifen lässt, dahinsegelt, doch dann überrascht sie mich wieder und erkennt zwischenmenschliche Entwicklungen, die ich nicht gesehen habe und womöglich niemals sehen werde. Wie macht sie das nur?

Ich beobachte das vorbeiziehende Land, das mir im Moment weite Felder und Landwirtschaft anbietet, während mir bewusst wird, dass ich mich gerade versuche, von außen zu betrachten. Sich selbst von außen zu betrachten, hat das unkalkulierbare Risiko, dass man sich objektiv mies oder objektiv herausragend findet, aber in Wirklichkeit jede echte Objektivität verliert. Ich mache mich nieder, dass ich alles immer so wichtig nehmen muss, dass ich immer darauf baue, dass alles um mich herum, in meinem Erfahrungshorizont, eine Wichtigkeit spielen wird, und Abschalten fühlt sich schlichtweg wie Versagen an. Ich schaue bei dem Gedanken noch mal rüber und sehe bei meiner Frau kein Versagen, keine Sorge, keine Anstrengung, sondern Entspannung und die Weite ihrer Gedanken. Wie sehr ich mir diese Fähigkeit wünsche, ist kaum in Worte zu kleiden – deswegen seufze ich, und selbst dieser Laut reißt sie nicht aus der Welt der Glückseligkeit! Einfach erstaunlich!