Die Feier

Die Feier

[Kurzgeschichte, veröffentlicht in Fantasia Magazin 1181e, 2024]

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Die Feier

Im Pentaversum, oder kurz: die Penta, wie die menschlichen Abbilder ihre virtuelle Lebenswelt nannten, drohte ein massenhaftes Chaos. Bei der letzten, groß angelegten Feier, bei der die menschlichen Abbilder zusammen ein Ereignis zelebrierten, mussten die Pentalisten am Ende den Tod von über zwanzig Prozent der Gehirne verzeichnen, die mit der Penta verbunden gewesen waren. Es hatte aufgrund der Vielzahl an Eindrücken und der Dauerbelastung durch die Feierlichkeiten einen massiven Overload und dann einen schmerzvollen Overkill gegeben, der die Leistungsfähigkeit der Penta über einen langen Zeitraum deutlich nach unten zog. So wurde über das Ereignis in den Annalen der Pentalistischen Bibliothek berichtet.

Dieses Mal jedoch waren die Pentalisten besser vorbereitet; ihr Plan war es, die menschlichen Abbilder in kleineren Gruppen an unterschiedlichen Orten der Penta miteinander feiern zu lassen, um so zu verhindern, dass sich große Gruppen in einen Abwärtsstrudel der Reize hineinempfinden konnten. Obwohl die letzte große Feierlichkeit mit den vielen abgestorbenen Gehirnen schon mehr als zehn Jahre vorbei war, spürte man immer noch die verminderte Leistungsfähigkeit, die mit dem Absterben einherging. Da die Erhöhung der Produktion menschlicher Körper und ihrer Gehirne keine allzu leichte Sache war, musste ein groß angelegtes Programm aufgesetzt werden, um vor allem die Trainingsressourcen für die Gehirne der Neugeborenen bereitzustellen. Über die letzten Jahrzehnte hatte sich herausgestellt, dass die Zeit, bis ein menschliches Gehirn ab Geburt seine volle Leistungsfähigkeit für die Penta einsetzen konnte, immer weiter hinausgeschoben wurde, da die Inhalte, die vermittelt und gelernt werden mussten, stärker anwuchsen, als die Vermittlung zeitgleich komprimiert werden konnte. Inzwischen schätzten die Pentalisten, dass die Gehirne knappe fünfundzwanzig Jahre lernen mussten, ehe sie der Penta hilfreich sein konnten.

Speziell dafür ausgebildete Lehrroboter sorgten dafür, dass das Wissen in allen Bereichen der Wissenschaften vollständig zur Nutzung vermittelt wurde.

JA643B wachte eines wolkenbehangenen Morgens auf und prüfte zunächst einmal die Klima- und Wetterdaten, um zu entscheiden, welchen Anzug er an diesem Tag tragen musste. Er würde an diesem Tag den mittelschwer absorbierenden Komplettanzug tragen müssen, da die Feinstaub- wie auch die Kohlendioxidkonzentration in der Luft zu stark toxisch wirkte, wenn er nur den leichten Anzug ohne vollständige Bedeckung der Gesichtsschleimhäute tragen würde. Da sie alle gelernt hatten, dass das Überleben jedes einzelnen Menschen ein hohes Gut für die Oberen Pentalisten darstellte, war auch JA643B darauf trainiert, seine Vitalzeichen im grünen Bereich zu halten. Einige vorgeschriebene Kniebeugen machend, dachte er über die Ziele des Tages nach, ging danach ins Badezimmer und ließ seinen Körper von dem Screener in der Ecke durchleuchten; nach kurzer Zeit entdeckte das Gerät einen leichten Kaliummangel und gab diese Informationen zum Essenszubereiter für den Tag weiter. JA643B mochte nichts weniger als Kaliummangel, denn an solchen Tagen gab es zumeist einen Brei, der so sehr am Gaumen klebte, dass man seine Zunge beim Schlucken – oder eher: beim Würgen – kaum spürte.

Doch all das schien an dem heutigen Tag eine untergeordnete Rolle zu spielen – denn als Unterer Gehirnpentalist war er dafür verantwortlich, dass seine 2.500 Gehirne heute unbeschadet den Tag überstanden. Bei eben jener letzten großen Feierlichkeit, bei der so viele Gehirne gestorben waren, hatte er gespürt, dass etwas Problematisches passieren konnte, und als einer der wenigen Verantwortlichen frühzeitig Notfallprozeduren eingeleitet, die dazu führten, dass von den 125 Gehirnen, für die er damals verantwortlich war, nur eins aufgegeben werden musste. Damals hatte er eine Belobigung durch die Oberen Pentalisten erhalten, die er in seiner jugendlichen Verschwendungssucht mit einer unspektakulären Reise in die Nachbarstadt vergeudet hatte. Zugleich diente diese Belobigung aber auch seinem Aufstieg, denn seither wuchs die Anzahl der Gehirne, für die er verantwortlich war, beständig an, was keine Normalität in der Penta war.

JA643B frühstückte seinen erwarteten Kaliumbrei, widerstand mehrfach dem aufwallenden Brechreiz, zog sich seinen mittelschwer geschützten Ganzkörperanzug an und gab seiner Wohnung alle notwendigen Aufträge, in seiner Abwesenheit für Ordnung und Sauberkeit zu sorgen – denn nichts wirkte schädlicher in dieser Welt als ein kontaminierter Wohnraum. Er verließ das Hochhaus, in dem er im 25. Stock von über 120 Stockwerken wohnte, und trat unter eine Überdachung, die die Fußgänger von den schwebenden Flugzeugen abschirmte. JA643B ging ein paar Schritte zur nächsten Station, wo er die Ebenen wechseln konnte, sobald ein Flugtaxi über ihm war. Es vergingen weniger als dreißig Sekunden, ehe eines der Flugtaxis über ihm war und er an Bord gehen konnte. Das Flugtaxi brachte ihn zum Kontrollcenter der Gehirne, das im Kölner Süden gelegen war – im uralten Regierungsbezirk, den JA643B nicht mochte und zudem nicht verstand, warum die Oberen Pentalisten den alten Stadtteil Bonn nicht plattmachten und neu bauten – wofür diese Nostalgie? Das passte alles nicht zu den übrigen Strategien der Oberen Pentalisten und führte regelmäßig dazu, dass einer der unteren Ränge aus dem Bonner Zentrum um die Versetzung in eines der High-Tech-Zentren im Kölner Westen ersuchte; doch JA643B hatte so eine Ahnung, dass ein solches Gesuch nicht positiv aufgenommen wurde, daher schob er die Gedanken stets weg und machte seine Arbeit, die an diesem Tag besonders herausfordernd werden würde. Die Oberen Pentalisten hatten sich zwar den Plan ausgedacht, dass die menschlichen Abbilder in der Penta möglichst in Kleingruppen das Willkommen des neuen, zweiundzwanzigsten Jahrhunderts feiern sollten, doch JA643B hatte in seiner Mannschaft bereits vernommen, dass die einzelnen Gruppen Pläne schmiedeten, wie sie dennoch zusammen feiern konnten. Bei 2.500 Gehirnen lag die Wahrscheinlichkeit für einen Overkill bei einer gemeinsamen Feier schon bei achtzehn Prozent – für mehr als fünfzig Prozent der Gehirne. Die Verlustrate, die akzeptiert wurde, war mit weniger als zwei Prozent angegeben worden, was bei ihm maximal fünfzig Gehirne bedeutete. Das konnte auch bei einer kleinen, unvorhergesehenen Massenpanik passieren, sodass JA643B auf jeden Fall den Zusammenschluss der Gruppen vermeiden musste – das war das einzige Ziel des Tages. Der Rest würde passieren, wie es passieren würde, doch der Zusammenschluss durfte nicht geschehen – niemals!

Nach einem kurzen Flug zum Zentrum für Gehirnarbeit, Arbeitsstelle Bonn, stieg JA643B aus dem Flugcopter aus und ließ sich mittels AMR zu seiner Arbeitsstelle bringen. Dort angekommen, connectete er sich mit der Software zur Steuerung der Arbeits- und Denklast der Gehirne und sah, dass seine Grundeinstellung funktioniert hatte, denn er hatte vorgesehen, dass die Gehirne und damit ihre menschlichen Abbilder nur einfache Tätigkeiten an diesem Morgen machen sollten. Das würde ihm zwar einen gehörigen Dip in der Leistungskurve nach unten einbringen, aber an diesem Feiertag war die Leistung nicht im Hauptfokus der Oberen Pentalisten – das ahnte er. Alles schien perfekt vorbereitet zu sein, doch in ihm arbeitete etwas, das er noch nicht beschreiben konnte: ein diffuses Gefühl von etwas, das über den Gruppen lag, und er fragte sich, ob es an ihm oder an einem tatsächlichen Thema lag, denn in den Zahlen konnte er keine Anomalie feststellen – im Gegenteil, es war zu (!) ruhig!

Um diesem Gefühl nachzugehen, musste sich JA643B in die Penta einklinken. Da dieses Vorgehen, sich als Unterer Gehirnpentalist in die Penta einzuloggen, nur dann erlaubt war, wenn es einen begründeten Verdacht auf etwas strukturell Problematisches gab, ging er damit ein größeres Risiko ein. Auch die menschlichen Abbilder in der Penta schienen überrascht, ihren Befehlshabenden in der Penta zu sehen, und reagierten entsprechend mit einer hohen Irritationsenergie. JA643B hatte das schon einmal gemacht, ganz zu Beginn seiner Karriere, und mit seinem proaktiven Eingreifen einen Aufruhr bereits im Entstehen beendet – und dennoch einen Rüffel kassiert; dieses Mal jedoch hatte er es nicht mit nur 125, sondern mit der zwanzigfachen Menge an Gehirnen zu tun. Kaum dass die durch die anstehenden Feierlichkeiten und die geringe Auslastung am Morgen erhöhten Denkstrukturen erkannten, welche Chance sich ihnen bot, nahmen sie JA643B als Geisel und drohten, den Unteren Gehirnpentalisten in der Penta zu quasiliquidieren, und hofften auf eine Freilassung ihrer menschlichen Abbilder aus der Penta, doch die Oberen Pentalisten ließen sich auf kein Spiel ein und schlossen kurzerhand die Bonner Einrichtung. Unter dem Deckmantel der Feierlichkeiten ließen sie in einer konzertierten Aktion mehrere tausend Gehirne sterben und verlegten nur einige wenige hochproduktive Exemplare in die Zentren im Kölner Westen.

Im Nachgang zu den Feierlichkeiten ging ein Kommuniqué an alle Verantwortlichen für Gehirnaktivitäten: Revolten unter den menschlichen Abbildern müssen zu jeder Zeit niedergeschlagen werden, koste es, was es wolle! Kein Gehirn ist es wert, die Kontrolle aufzugeben. Kontrolle ist alles!