Die doppelte Sekunde

Die doppelte Sekunde

[Kurzgeschichte, veröffentlicht in: Von der Zeit, Anthologie, 2012]

Die doppelte Sekunde

Als in der Nacht vom 30.06.2012 zum 01.07.2012 bei allen überall auf der Welt gültigen Atomzeitmessgeräten der Befehl einging, für eine Schaltsekunde die Zeit anzuhalten, dachte nicht einmal der versierteste Ingenieur daran, dass diese Doppelsendung einer fest definierten Uhrzeit-Logik in dem gerade neu gebauten Atomwaffenarsenal in der Nähe von Teheran eine Fehlermeldung auslöste, die als vermeintlicher Hackerversuch von außen derart hoch einkategorisiert war, dass die Triebwerke automatisch zündeten und die Mittel- und Langstreckenraketen mit ihren Atomsprengköpfen in den Himmel schossen, mitten in der Nacht und auf ihrem Weg, das Antlitz dieser Erde binnen eines Momentes zu verändern. Niemand der Erbauer des Atomwaffenarsenals hatte daran gedacht, dass es alle Jahre dazu kommt, dass die Abweichung der Atomuhren mit der tatsächlichen Erdzeit mittels einer Schalt- oder Doppelsekunde ausgeglichen wird, die nur deswegen entsteht, weil die Erde von mehreren Faktoren derart beeinflusst wird, dass es keine harmonisierte Messsystematik gibt. Die Tatsache, dass sich die Erdkruste auf dem flüssigen Kern darunter bewegt und zudem die Gezeitenströme einen spürbaren Einfluss auf die Erdrotation besitzen, ist seit Jahrzehnten bekannt, doch diese Bekanntheit konnte nicht verhindern, dass sich ein menschlicher Konstruktionsfehler in die Systematik der automatischen Abwehrsteuerung des Atomwaffenarsenals eingeschlichen hat, der dazu führt, dass sich alle vermeintlichen Gegner rund um den Iran einem Angriff gegenübersehen. Wie der Zufall es wollte, schaltete nicht nur das automatische Abwehrsystem der Raketen aus falschem Grund scharf, nein, zugleich fiel die computergestützte Kommunikationsplattform aus, sodass es den Technikern im Arsenal nicht mal mehr möglich war, die gestarteten Raketen abzulenken und in einem nahen Meer oder in einer Wüste zu vernichten. Die Frage war nun, wie schnell die Welt in der näheren Umgebung auf diesen vermeintlichen Angriff, der programmiertechnisch ein Abwehrversuch eines global eingeleiteten Angriffs auf das separierte Land Iran war, reagieren würde, denn niemand wusste um die Wirksamkeit der israelischen oder russischen Raketenabwehrsysteme – selbst die Russen und Israelis konnten sich nicht sicher sein, dass diese Systeme funktionierten, die sich noch niemals zuvor einem solch gewaltigen Erstschlag gegenübersahen. Die Panik im Kontrollraum in der Nähe von Teheran stieg ins Unermessliche, als die mündliche Bestätigung eintraf, dass Techniker überland gesehen hatten, wie die großen Bodenplatten sich zur Seite schoben und die Raketen aus dem Boden starteten, ihren Antriebsfeuerschweif hinter sich herziehend, dem Himmel entgegen, alle nacheinander und doch alle auf einmal. Doch niemand der Techniker in dem Kontrollraum vermochte etwas gegen diese Situation zu tun, und so begannen sie, ihre Optionen zu überdenken, und die meisten kamen schnell zu dem Schluss, dass es das einzig Sinnige wäre, dieses Arsenal so schnell wie möglich zu verlassen, um nach Hause zu der eigenen Familie zu fahren, die gewarnt werden müsse – vor einer Vergeltung, vor einer Vernichtung. Nur einige wenige, meist Techniker ohne Familie, blieben vor Ort und versuchten das Unmögliche – den gesamten Neustart der Anlage. Wenn es ihnen gelang, die Verbindung zu den Raketen zurückzuerlangen, dann wäre es möglich … Doch als sie nach mehr als fünf unglaublich langen Minuten endlich startklar waren und keine Verbindung zu keiner einzigen Rakete herzustellen vermochten, wurde ihnen klar, dass nichts, was sie jetzt noch einleiten würden, die Katastrophe verhindern könnte. Den verbliebenen Technikern wurde bewusst, dass sich die Lenk- und Leitsysteme der Raketen in dem Moment vom Mastersystem abgekoppelt hatten, als die Verbindung aufgrund des Neustarts abgerissen war, was im Grunde dem Denkansatz einer Zerstörung des Kontrollraums bei einem vermuteten Angriff gleichkommt. Diese Momente der tiefen Erkenntnis der Ausweglosigkeit einer Situation sind es, die Menschen dazu befähigen, an unwirkliche und sehr unwahrscheinliche Dinge ihre Hoffnung zu ketten, sodass einige der anwesenden Techniker darüber phantasierten, dass diese Schaltsekunde vielleicht auch in dem computergestützten Satellitennavigationssystem einen Fehler hervorgerufen habe, oder dass Allah einschreiten würde, da er nicht zulassen könne, dass der Mensch aus Ungeschicklichkeit heraus seinen eigenen Untergang herbeirufe, oder, oder, oder! Zum Unglück ihrer Existenz waren die Techniker in dem Atomwaffenarsenal in der Nähe von Teheran einige der wenigen Iraner, die einen uneingeschränkten Zugang zum Internet hatten, und sie versuchten, diesen für eine Nachricht an die von ihnen gedachte freiheitliche Presse zu nutzen. Kaum war diese Nachricht geschrieben und übermittelt, rechnete der eine Techniker aus, dass die ersten Einschläge nun unmittelbar bevorstünden, doch niemand im Raum vermochte zu ahnen, ob man diesen Einschlag in irgendeiner Form mitbekommen würde. So warteten sie auf eine Reaktion, erhielten kurze Zeit nach ihrer Nachricht bereits alarmierende Antworten und ahnten, dass sie die gesamte Welt binnen weniger Augenblicke in Alarm versetzt hatten. Diese Mobilisierung ließ ein wenig Zuversicht zurückkehren, die jedoch in dem Moment erstarb, als das Telefon auf einer als sicher geltenden Leitung klingelte, sich alle im Raum umschauten, ehe sich ein Techniker traute, abzuheben. Mit zittriger Stimme und nicht minder zittriger Hand antwortete er seinem Gesprächspartner und fiel noch während des Telefonats in Ohnmacht, sodass der Hörer auf den Boden fiel und in seine Einzelteile zersprang. Die anderen Techniker standen für einen Augenblick tatenlos herum und starrten auf den zerstörten Hörer, aus dem nicht einmal ein Tuten kam. Aus der Starre erwachend kümmerten sich zwei der Anwesenden um den Ohnmächtigen, und da keiner mehr eine Idee hatte, wie sie zu einer Verbesserung der weltweiten Situation beitragen konnten, ignorierten sie die eintreffenden Antwortnachrichten, die allesamt die gleiche Frage stellten: Wer denn die Witzbolde am anderen Ende der Internetleitung seien, die behaupteten, dass die Welt in der bisher bekannten Form ihrem Untergang geweiht sei.