Die alte Dame

Die alte Dame

[Kurzgeschichte, veröffentlicht in etcetera 50: Wozu Literatur?, 2012]

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Die alte Dame

An einem verregneten, grauen und unwirtlichen Novembernachmittag traf sich in einem gräulich-grünen Funktionalhotelbau aus den Siebziger Jahren eine Gruppe von Literatoren, die rund um die Gegenwartsliteratur alles Mögliche zu sagen hatte. In dem Kongresssaal, der den Charme einer kalten Ruine besaß, saßen sie alle wie an einer Perlenschnur aufgezogen – die Literaturschaffenden, die Literaturkritiker, die Literaturvertreiber, die Literaturliteraten, die literarischen Literatoren, die Literaturvernichter. Am Ende, weit hinten im abgedunkelten und mit schwerem, leicht modrig riechendem Brokat ausgestopften Raum, hatte sich unanständigerweise auch eine kleine Splittergruppe der Literaturfreunde eingefunden, die man sich, als sie bereits auf ihren Sitzen saßen, nicht mehr traute, aus dem Saal zu entfernen, denn alles, was man nicht wollte, war Aufregung oder ein Aufschrei von Gerächten, die laut blökend und hetzend den Literaturbetrieb störten.

Alle, die programmmäßig auf die Bühne gelassen wurden, hielten gewichtige Reden, formulierten in rhetorischen Gewändern gekleidet ihr Wissen über die Literatur, das sie im Blute und Schweiße ihres langen Lebens erworben hatten. Die meisten der Zuhörer drohten in dem diffusen Licht, das als einzige Quelle auch noch von der Bühne kam, in eine leichte Traumwelt abzudriften, und nur jene, die wie Schießhunde aufpassen mussten, dass nicht einer der Vorredner sich eine ihrer exklusiven Ideen oder Thesen klaute, sodass sie wie ein schlechter Nachmacher auf der Bühne stehen würden, waren voller Kaffee und sonstiger Aufputschmittel, um den kräftezehrenden Tag zu überstehen. Im Jahr zuvor, als man einen ähnlichen Kongress abgehalten hatte, geschah eben jenes, dass einer der herausragenden und leuchtenden Beispiele des Literaturbetriebes an den Universitäten einen Herzinfarkt erlitt, als ein eitler und sich im Glanze anderer hervorragend sonnender Kollege die Behauptung aufstellte, dass alles, was der Kollege nachher sagen würde, auf seinen Arbeiten fußte – und das, ohne selbst auch nur eine einzige seiner vermeintlichen Thesen hervorzubringen. Das Geschrei war groß, und als der Redner mit dem Herzinfarkt endlich aus dem gruftartigen Raum entfernt worden war, klatschten die Anwesenden Beifall, ohne sich jemals wieder daran zu erinnern, was dieser eitle Mann oben auf der Bühne denn Wundersames für diesen Applaus getan hatte.

Auch in diesem November dieses Jahres wog die Stimmung wie ein Hochsegler auf unruhigem Meer hin und her, doch sie hielt bis zum letzten Kongresstag, und der Präsident hoffte bereits, dass dieses Mal alles gut gehen würde, als mit einem Mal, urplötzlich und ohne vorherige Ankündigung, eine alte Dame auf der Bühne stand, sich zum Pult und dem Mikrofon vorbeibewegte, und der gesamte Raum, der soeben aus seiner halbschlafenden Lethargie aufzuwachen schien, sah wie gebannt auf die hell erleuchtete Bühne und zu dem Pult, hinter dem die alte Dame nun stand.

Jene, die sich die Augen rieben, sahen nun klarer als zuvor, dass es sich nicht um eine alte, sondern sogar um eine steinalte Dame handelte, von gebrechlicher, aber noch aufrecht haltender Statur, und obgleich sie von faltiger Haut übersät war, stand sie mit schneeweißen Haaren vor allen und jeder wusste, dass sie dereinst eine überaus schöne und elegante Frau gewesen sein musste. Auch noch in diesem Moment, als alle zu ihr auf die Bühne hinaufsahen, merkte man ihr den Glanz ihrer Schönheit an, die von innen heraus strahlte und sich insbesondere in ihrem Lächeln widerspiegelte. Elegant, aber zurückhaltend gekleidet, betonte der beige, lange Rock mit der blutroten Bluse ihre ehrwürdige Erhabenheit, ohne großes Aufmachen, einfach, weil sie dort stand. Ohne auch nur ein Wort zu sagen, wusste jeder im Saal, wer sie war, intuitiv, als würde sie jedem der Anwesenden ins Herz sprechen: Sie war die Literatur.

Es dauerte eine geraume Zeit, in der die steinalte Dame dort oben auf der Bühne wartete, ehe sich einer aus dem staunenden Publikum zu einer Frage getraute, und indem er die Literatur fragte, wie alt sie denn sei, lächelte diese den Fragenden an, wie es nur altehrwürdige Menschen können – mit der gesamten Würde ihres großen Lebens. Auch auf viele weitere Fragen, die nun auf sie niederprasselten, antwortete sie mit einem Lächeln, und als die Fragenden aufgrund der wortlosen Antworten nach und nach verstummten, bewegte die Literatur ihren Kopf ein wenig, schaute zum Präsidenten des Kongresses, und kaum, dass eine gespenstische Ruhe in den Saal eingekehrt war, beugte sie sich leicht zum Mikrofon und sprach mit einer glockenklaren Stimme zu den Wartenden, die bis ins Mark erzitterten.

Sie sprach von der Bürde, aber auch von der Schönheit ihres Lebens, sprach von unvorstellbar geistreichen und anspruchsvollen Aufgaben, Höhen und Tiefen, und kam alsbald auf das eigentliche Thema ihres Vortrages – das Vergessen. Die Literatur berichtete von ihrer wichtigsten Aufgabe für den Menschen, dem Vergessen, denn indem sie für die Menschen vergaß, konnten die Menschen Neues in der Literatur aufnehmen, neue Wege erschließen, altbekannte und ausgetretene Pfade verlassen, den Blick nach rechts und links wenden, Neuland entdecken. Das habe sie jetzt seit langer Zeit getan, immer wieder vergessen, immer wieder Raum für Neues geschaffen, doch nun sei es an der Zeit – und in diesem Moment stockte wirklich jedem im Saal der Atem –, dass sie sich selbst vergessen würde. Kaum, dass sie diesen letzten Satz ausgesprochen hatte, brach die Literatur am Pult zusammen und schlug, ohne einen Ton zu verursachen, auf dem Boden der Bühne auf. Niemand, nicht mal die unerwünschte Gruppe der Literaturfreunde, konnte sich bewegen; alle verharrten regungslos auf ihren Sitzen, denn jeder schien zu ahnen, dass damit die Literatur tot sei.

Als wäre das gesamte Leben aus den Menschen im Saal gewichen, als wäre die Zukunft aller verloren, blieben sie stehen und glotzten in Richtung der auf der Bühne Liegenden, und indem sie sogar vergaßen, Tränen zu vergießen, standen die Mäuler geifernd offen und die Augen weiteten sich schreckartig bis ins Unendliche.

Aber mit einem Mal, ebenso unerwartet wie der Tod der Literatur, ging von der toten Dame auf dem Boden der Bühne ein gleißendes Licht aus, erfüllte den ganzen Raum, und als das Licht wieder weniger wurde, sodass die menschlichen Augen den Geschehnissen gewahr wurden, war die alte Dame verschwunden, und es lag dort eine deutlich jüngere Frau, eine lebendige, wie die weiterhin dorthin starrenden Besucher des Kongresses sahen, eine neue Literatur, die wie der Phönix aus der Asche erstanden schien.

Doch kaum, dass sich die neue Literatur vom Boden erhob, um sich umzublicken, in den mit ungläubigen Menschengesichtern gespickten Saal hinein, an sich herab und die neuen, modernen Kleider an ihrem Körper sah, wusste sie sofort, dass nicht nur sie sich etwas verändert hatte.

Erneut hielten alle im Saal den Atem an, und als sich die neue Literatur die Kleidung an ihrem jungen, frischen Körper glattstrich, die Haare richtete, die langen, die in einem matten Blond fast bis auf den Boden fielen, in die wartende Menge schaute, in den diffus-dunklen Saal, in die Gesichter der grauen Masse der Literatoren, da war auch dem letzten im Saal klar, dass sich aus der ehrwürdigen, alten und immer noch Schönheit ausstrahlenden Dame eine junge, aber abgrundtief hässliche Göre entwickelt hatte, deren einzige Schönheit das schmuckhafte Geschmeide war, das sie am gesamten Körper zu tragen schien. Blendend brachen sich die Lichtstrahlen der auf die Bühne gerichteten Strahler in den Schmuckstücken, und die Anwesenden mussten sich von der neuen Literatur abwenden, beschämt und angewidert.

Dann, als der Geist der schönen, alten Literatur ins Ewige verweht war, räusperte sich die neue Literatur und donnerte erklärend ins Mikrofon, dass sie aus dem Geiste der versammelten Literatoren entstanden sei, um dem höchsten Wunsch aller Anwesenden zu genügen: dem Nichtvergessen! Denn sie sei die neue Literatur, jene, die sich die Anwesenden gewünscht hätten, jene, auf die alle hingearbeitet hätten, jene, die sich nun mit ihrer Auferstehung aus der alten Literatur erfüllt hätte.

Und jeder der im Saal Anwesenden wusste sogleich, dass ab diesem Tag die schöne Literatur gestorben war und sie eine neue Literatur erhalten hatten, die sie sich gewünscht hatten, ohne zu wissen, wie sehr sie diese eigentlich im Herzen verteufelten.