Das Haus auf der Anhöhe

Das Haus auf der Anhöhe

[Kurzgeschichte, veröffentlicht in der Anthologie „Verlassene Orte“, 2012]

Das Haus auf der Anhöhe

Als er um die Kurve der waldigen, alleeartigen Straße bog, sah er das Ziel seiner Reise. Zunächst zog eine Schockwelle durch seinen Körper, sodass er stehenbleiben musste, ehe er sich tief durchatmend einen Ruck gab, einen Schritt vor den anderen setzte und weiterging, auf das Haus zu, das ihm im ersten Moment in seinem verfallenen Zustand wie eine Unwirklichkeit vorgekommen war. Der Reisende fragte sich im Näherkommen, was er wohl erwartet hatte, fand, dass er sich eigentlich nichts Konkretes vorgestellt hatte, aber noch viel weniger das, was er dort auf der Anhöhe zu sehen bekam. Was war nur über all die Jahre geschehen, seitdem er nicht mehr vor Ort gewesen war? Diese Frage schoss ihm immer und immer wieder durch den Kopf, mit jedem Schritt wurde der Gedanke erneuert und ganz gleich, wie nahe er dem alten Haus kam, es war nicht weniger irreal als in dem ersten Moment des Entdeckens.

Der Tag neigte sich bereits dem Ende entgegen, ohne dass die Nacht drohte, doch die Dämmerung warf ihre ersten längeren Schatten voraus, und da der Eingangsbereich des Hauses nach Westen gebaut war, wurde das gesamte Haus in die bunten Lichtstrahlen des Sonnenuntergangs getaucht. So blutrot der mit kleinen Wolken behangene Himmel über dem Horizont war, so leuchtstrahlend wirkte das abgeblätterte Weiß des Hauses, das an vielen Stellen bereits wieder den grauen Stein der Mauer offenbarte, das reine Nackte des Hauses. Nun war der Zurückkommende so nahe ans Haus herangetreten, dass er nicht nur mit seinen Augen die Einzelheiten besehen, sondern auch mit seinen Händen über das Unwirkliche fahren konnte, um es wirklich zu machen. Dabei schloss er die Augen, ließ seine Handinnenfläche über die raue Oberfläche der Außenwand fahren, spürte das gebrochene Alter des Hauses, die allzu vielen Jahre, in denen es ohne Bewohner dem Zerfall überlassen gewesen war, die Traurigkeit des Momentes, aber auch den Stolz einer goldenen Vergangenheit.

Minutenlang blieb der Spürende an der Wand stehen, träumte, erinnerte sich, ehe er sich einen inneren Ruck gab, seine Augen wieder öffnete, kurz mit zusammengekniffenen Augen Richtung Sonne blickte, um festzustellen, dass er nicht nur Teil dieses sonderbaren abendlichen Farbenschauspiels war, sondern es ganz so schien, als wäre er in einer anderen Zeit, in einem anderen Jetzt und Hier, in einem anderen Abschnitt seines Lebens. Mit traumwandlerischer Sicherheit ging er zur Eingangstüre, ergriff den Türknauf, drehte diesen, spürte, roch die alte Eichentüre, drückte sie gegen einen unbekannten Widerstand im Innern nach innen, trat ein und zitterte, vor Glück, vor Traurigkeit, vor sich selbst, vor der Welt, vor seiner Welt.

Im großen Eingangsbereich, der von einer nicht minder pompösen Wendeltreppe nach oben wegführend flankiert wurde, erkannte er dann die Wunden der Zeit, denn nicht nur der Putz war von Decke und Wänden abgeblättert, nein, das Alter hatte alles im Innern angegriffen. Und doch wirkte es, als könne sich der Erinnernde, wenn er nur kurz die Augen schloss, wieder alles vor sich sehen, die Kommoden, die Teppiche, die Statuen, Bilder, die gesamte Einrichtung. Aber noch viel mehr, denn er vermeinte sogar den Geruch wiederzuerkennen, aus seinen sprechenden Bildern im Kopf, aus seiner Jugend, aus seinem Leben.

Dort, dort hinten war der Eingang zum Wohnzimmer, einem Raum, in dem der Kamin an der Seite prangte, einem Raum, in dem früher nicht nur Sessel und Tische standen, sondern vor allem der Duft von Zigarren, Pfeife und gutem Whiskey in der Luft hing, einem knisternden Feuer im Kamin, das man beim Anschmiegen in das Leder des Sessels in sich aufnahm, wie die Luft nach einem langen Tauchgang, wenn bereits die Lungen zu bersten drohen.

Aber anstatt sich in einen schon längst nicht mehr vorhandenen Ledersessel zu schmiegen, machte sich der Entdeckende auf in den nächsten Raum, gelangte in den Nachbarraum, das Esszimmer, in dem früher eine lange Tafel gestanden hatte, an der die ganze Familie Platz fand, ganz gleich, wie viele der Verwandten auch herbeigeströmt kamen. An eins der seitlichen Fenster tretend, blickte der Melancholische nach draußen, besah den Garten hinterm Haus, doch dann wurde sein Blick von der fleckigen Scheibe abgelenkt, und indem er dem Flecken folgte und versuchte, daraus ein Muster zu bilden oder diesem eine Erinnerung zuzuordnen, sah er im dämmrigen Licht hinter dem Haus sein eigenes Antlitz, zwar nur schwach, aber gerade dieser kurze Moment brachte ihn zurück in die Wirklichkeit.

Mit einem Lächeln auf den Lippen, das eine Mischung aus Freude, aber auch Bitterkeit über den Zustand dieses Hauses ausdrückte, trat der Erkennende aus dem Esszimmer in die angrenzende Bibliothek, in der er gewahr wurde, dass es der einzige Raum war, der vollständig leer war. Nein, das stimmte gar nicht und war selbst für ihn eine überraschende Unwahrheit, denn trotz der beinahe vollkommenen Leere war ein einziges Utensil an der heruntergekommenen Wand hängen geblieben – ein Spiegel, dessen Glas zwar ebenso fleckig wie das Fensterglas war, aber deutlich geringere Schäden der Zeit ertragen musste. Seitlich an den Spiegel herantretend, blieb der Heranschleichende kurz davor stehen, schloss seine Augen, atmete tief durch, spürte, wie die Erinnerungen nahtlos, Bild an Bild, vor seinem geistigen Auge abgespielt wurden.

Als der Filmabspielende alsdann seine Augen öffnete, war es ihm, dass er sich wunderte, warum er direkt vor dem Spiegel stand, und als er in diesen blickte, erschrak er kein bisschen, obwohl weder er noch der Raum dahinter der war, den er an diesem Abend wiederentdeckt hatte. Er sah hinter sich die Bibliothek, wie sie dereinst mit Bücherregalen voller Bücher gefüllt war, er bemerkte, wie Lesemöbel herumstanden, er vermeinte sogar, den Geruch der Bücher riechen zu können, jenes wohlbefindliche Gefühl der Erhabenheit des Wissens. Wie in Schockstarre blickte der Zeitreisende in den Spiegel, fand alte Bilder, erdachte sich fehlende und durchlebte die Vergangenheit, vor diesem Spiegel, dem einzigen Gegenstand in diesem Raum, der trotz seiner Verfallenheit niemals von der Zeit geraubt würde, zumindest nicht, solange der Erinnernde sich erinnern würde, an seine Wirklichkeit, an die Wirklichkeit des Hauses, in dem er gerade stand und gemeinsam mit ihm verfiel, so weit, bis er wieder der war, der in das Haus vor einer langen Zeit eintrat.