Das Geheimnis der Acerolakirsche

Das Geheimnis der Acerolakirsche

[Kurzgeschichte. Veröffentlicht in Auf den Kern gebracht – Die Kirsch-Anthologie. 2025]

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Das Geheimnis der Acerolakirsche

Sie hatte sich mit einem überreifen Mangosaft und einem Buch über die Philosophie der Langsamkeit auf die Veranda des kleinen Hostels gesetzt, dessen Holzplanken beim Gehen so laut knarzten, als würden sie sich bei jedem Schritt an alte Geschichten erinnern und diese auch mit einer gespannten Verve kundtun, doch sie hatte nicht damit gerechnet, dass ihr dieser Tag, der wie eine tropisch flirrende Postkarte begann, ein Gespräch bringen würde, das sich aus dem bloßen Nichts wie ein warmer Wind erhob und in wenigen Minuten eine seltsame Vertrautheit in ihre Gegenwart wehte.

Er kam mit einem blassblauen Hemd, das an den Schultern vom Rucksack gegerbt war, und sagte ohne Begrüßung, dass der Saft hier besser schmecke als irgendwo sonst in Guatemala, worauf sie schnell nickte, ohne auch nur aufzuschauen, denn irgendetwas in seiner Stimme hatte nicht die Absicht, nur zu reden, sondern sich wie ein neugieriger Vogel auf eine fremde Schulter zu setzen und dort einfach und endgültig zu bleiben.

Ein Gespräch entspann sich, wie es sich selten entspinnt – nicht geplant, nicht höflich, nicht tastend, sondern wie ein Tanz, bei dem beide bereits die Schritte kannten, ohne je gemeinsam geübt zu haben, und als sie schließlich nach dem dritten Saft und dem vierten Lächeln einander nach der Herkunft fragten, stockte der Augenblick wie eine Szene in einem dieser alten Filme, wenn die Musik aussetzt, weil die Pointe zu groß ist, um beiläufig ausgesprochen zu werden.

Denn sie kamen aus derselben Stadt in Deutschland, einem mittelgroßen, unauffälligen Ort, den niemand freiwillig nennt, wenn er sich weit weg befindet, und der doch in diesem Moment wie ein glühender Punkt auf der Weltkarte aufleuchtete – nicht weil er schön oder begehrenswert nach Heimatgefühlen war, sondern weil er plötzlich alles verband, was nicht erklärbar, aber unendlich echt war.

Sie gingen an diesem Nachmittag durch die Randgebiete des Dorfes, dort, wo der Dschungel nicht aufhörte, sondern einfach nur dünner wurde, und wo die Häuser wie halb vergessene Spielzeuge im Grün lagen, als hätte jemand mit einem übermütigen Lächeln Architektur und Wildnis ineinander geworfen und vergessen, sie wieder zu trennen – einfach, weil er es schön fand, wie es war.

Und dort, neben einem rostenden Stromkasten, halb verdeckt von einem Gebüsch, das wie zufällig gewachsen schien, entdeckte sie ihn – den Acerolakirschenstrauch, den kaum jemand beachtete, weil seine Früchte zu klein und auch zu sauer und dabei zu unhöflich wirkten neben den glanzvollen Mangos und volumigen Papayas, aber in ihren Augen war er wie ein Geheimnisträger, der nur jenen etwas zuflüsterte, die sich tief genug vorbeugten.

Sie blieb stehen, legte den Finger an die Lippen, wie um den Moment zu versiegeln, und begann dann, ihrem Begleiter eine herbeigerufene Geschichte zu erzählen, mit dieser leicht gedämpften Stimme, die Kinder annehmen, wenn sie Märchen weitererzählen, die ihnen niemand beigebracht hat, sondern die sie einfach wissen, weil sie irgendwo zwischen Sternenlicht und Kirschmarmelade aufgesogen wurden.

Sie sagte, dass dieser Strauch nur in Jahren wuchs, in denen ein Schamane aus der Linie der Nebelsprecher in die Liebe fiel – eine Liebe, die nicht erwidert werden durfte, denn sonst würde das Gleichgewicht zwischen den Geistern der Luft und den Wächtern der Erde kippen, weshalb die Früchte der Acerola auch so rot seien, als würden sie ständig an diese verbotene Leidenschaft erinnern.

Und jedes Mal, wenn die Früchte besonders zahlreich seien, kämen Tiere aus dem Wald, nicht, um zu fressen, sondern um zu lauschen, denn in der Nacht, so sagte sie, erzähle der Strauch Geschichten in einer Sprache, die nur jene verstünden, die einmal an der Grenze zwischen Traum und Tod standen – also zum Beispiel Kolibris, Jaguargeister oder alte Frauen mit schleichenden, leisen Schritten.

Dann blickte sie ihn lange an und fuhr fort, dass die Früchte nicht einfach nur gegessen werden dürften, sondern man sie küssen müsse, bevor man sie kaue, denn sonst verliere man sein schönstes Lachen – und dass es eine Gruppe von Halunken gäbe, die einmal im Jahr zurückkäme, um eine Frucht zu stehlen, in der Hoffnung, das große Geheimnis zu lüften, das hinter dem Strauch liege, aber sie würden jedes Mal scheitern, weil sie nicht glaubten, dass es Geister wirklich gäbe.

Er hatte ihr zugehört wie jemand, der weiß, dass dieser Geschichte keine Wahrheit innewohnt, die nicht erfunden wurde, und keine Lüge, die nicht irgendwo einmal den Himmel berührt hat, und er fragte nichts, sondern lächelte nur, dieses leise, wirkliche Lächeln, das man manchmal hat, wenn man sich nicht sicher ist, ob man gerade verführt wurde oder einfach nur in eine bessere Welt gefallen ist.

Sie pflückten eine der Früchte, rot und winzig wie ein geheimer Punkt auf einer Schatzkarte, hielten sie zwischen ihren Händen, als könnten sie durch Berührung eine zweite Geschichte freilegen, und dann küssten sie sie – einer nach dem anderen –, ohne zu wissen, ob es der Zauber war oder nur die Hitze des Tages, die plötzlich eine andere Art von Nähe zuließ.

Sie blieben lange dort stehen, erzählten sich weitere halbwahre Begebenheiten, von flatternden Schals, die Zeichen gaben, von Affen, die die Nacht durchlasen, und von einem alten Fischer, der mit jeder Acerolakirsche, die er in den Fluss warf, ein vergessenes Gedicht ins Wasser schrieb – Geschichten, die sich gegenseitig nährten wie Lianen, die sich in einem Baum verranken, der nie gefällt werden würde.

Und als die Sonne sich anschickte, hinter den Bergen zu versinken, blieb von all dem nichts als der Schatten zweier Stimmen, die sich ineinander verheddert hatten, und ein paar zerdrückte Früchte auf der Handfläche und ein Versprechen, das nie ausgesprochen wurde – nämlich, dass sie einander auch in der Heimat nicht begegnen würden, ohne an den Strauch zu denken, der nur wächst, wenn jemand etwas erfindet, das zu schön ist, um gelogen zu sein.