Comptonisierte Nahrung
[Kurzgeschichte, veröffentlicht in Fantasia Magazin, 2023]
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Comptonisierte Nahrung
Die Idee, im menschlichen Körper in Clusterenergien aufgebrochene und in neutrale Trägerstoffe reduzierte und verschlossene Nahrungsbestandteile einzulagern, war bereits eine weit verbreitete Methode zur Versorgung der Menschheit, und im Zuge dieser Depotlösung vermochte es der menschliche Körper in seiner evolutionären Entwicklung, den Magen-Darm-Trakt zu einem Relikt aus der Zeit einer notwendigen Nahrungsaufnahme verkümmern zu lassen, dessen Aufgaben von den Nahrungsdepots und den zentralen Modulationsstellen für das Immunsystem übernommen wurden, die den Menschen an allen relevanten Körperstellen direkt nach der Geburt eingepflanzt wurden und aufgrund der mitwachsenden Struktur ihrer bionischen Außenhaut einen permanenten Veränderungsprozess mitmachten. Die vielen Vorteile für diese Versorgungsstrategie des Menschen waren immens und ließen jeden Zweifel über das Abstellen der Nahrungsaufnahme durch den Menschen in Eigenverantwortung verschwinden, doch es gab auch genügend Schwachstellen im System, die dazu führten, dass nicht wenige Menschen, die nicht in den Standardprozessalltag einzubetten waren, immer wieder Probleme unter der Eigenversorgung durch die Depots litten, da diese für den Standardbetrieb entwickelt worden waren, es aber Menschen gab, die weiterhin einer nicht-standardisierten Aufgabe nachgehen mussten, die eine andere Modulation der Energiecluster oder eine dichtere Versorgungskette der Depots im Körper erforderten, insbesondere dann, wenn die Tätigkeit des Menschen eine hochenergetische war, in der der Maximalverbrauch um ein Dreifaches über der Abgabemenge der Depots lag, deren Reaktionszeiten zudem nicht selten zu langsam waren. Um dieses Problem anzugehen und eine Lösung zu finden, mit der alle Menschen in allen Betätigungslagen versorgt sein konnten, fanden sich die besten Köpfe aller beteiligten Wissenschaften zu einer geschlossenen Gruppe zusammen, die den Auftrag hatte, eine Methode zu entwickeln, wie der menschliche Körper unabhängig von Ort, Tätigkeit und Konstitution durch eine Quasi-Permanent-Versorgung bedingungslos gegen alle Widrigkeiten des menschlichen Alltags gerüstet war. Die grundsätzliche Idee war, dass beim Verbrauch eines jedweden Stoffes durch den Körper mittels einer permanenten Versorgung die entstandene Lücke umgehend wieder geschlossen wurde, sodass die Clusterenergien zu jeder Zeit mit voller Leistungsfähigkeit zur Verfügung standen. Aus dieser grundsätzlichen Idee entwickelten sich mehrere parallel zu lösende Folgeideen: Erstens musste eine permanente externe Versorgung sichergestellt werden, zu der zweitens der menschliche Körper hinreichenden Zugang haben musste, während drittens der menschliche Körper die Fähigkeit entwickeln musste, diese Versorgung überhaupt annehmen und zu seiner Versorgung umsetzen zu können, woraus sich eine weitere, vierte zentrale Frage entwickelte, in welcher Systematik der Körper zukünftig eine Eigenspeicherung der Clusterenergien vorzunehmen hatte, mit dem Wissen darum, wie problematisch die Entwicklung der aktuellen Speichermethode bei der Depotlösung war. Die Erforschung aller vier Kernfragen zog sich ungeachtet der vielen unbegrenzten Ressourcen sehr in die Länge, da die Erfindungen zwar alle von der ersten zentralen Frage abhingen, aber für sich selbst ungemein tiefgreifende Entwicklungen waren, die nicht-trivial waren und eine Reihe fehlerhafter Versuchsreihen mit sich brachten, ehe eines Tages ein sonst eher besonnener Wissenschaftler, der in Diskussion meist lieber zuhörte, als selbst die Themen auszudiskutieren, einen Vorschlag machte, den die anderen anwesenden Wissenschaftler im ersten Moment nicht ernst nahmen, dem jedoch zumindest in den Eckdaten nachgegangen wurde, da keine Idee verloren gehen durfte, die nachher die Lösung und / oder einen entscheidenden Lösungsansatz brachte. Die neue Idee, der der Wissenschaftler alleine in seiner Freizeit nachging, war auf Position vierhundertdreizehn aller entwickelten Ideen geloggt und wäre erst in einigen Jahrzehnten Gegenstand ernsthafter Forschung gewesen, doch sobald sich herauskristallisierte, dass seine Idee mehr versprach als nur ein theoretisches Gedankenkonstrukt, wurden die Ressourcen verschoben und bald schon galt diese eine Theorie als jene, in die die meiste Zuversicht gesteckt wurde. Die Idee war, mittels überall vorkommender und von der Sonne emittierter Photonen, die normalerweise den menschlichen Körper durchdrangen und dort keine Wechselwirkung zeigten, frische, vom Körper verbrauchte Energiecluster zu transportieren, die dann an den benötigten Stellen abgeladen wurden, sodass die Photonen wieder aus dem Körper austreten konnten, ohne dass etwas anders als zuvor gewesen wäre – was jedoch bedeutete, dass es gelingen musste, die Photonen, die sich mit einer hohen Geschwindigkeit bewegten, zu verlangsamen und deren Frequenz so zu modulieren, dass es gelang, in das Wellental eines Photons eine Ladung des Energieclusters anzuhängen, sodass ein virtueller Transport stattfand, der kaum mehr als ein Mitnehmen und an der richtigen Stelle Abladen war. Niemand der Wissenschaftler konnte sich vorstellen, dass es einen Mechanismus gab, Photonen mit verlängerter Welle dazu zu bringen, einen der Energiecluster aufzunehmen und dann mittels einer Körperreaktion an der richtigen Stelle wieder abzugeben, also zwei Prozesse, die niemand bisher beobachtet, beschrieben oder experimentell nachgewiesen hatte. Erstaunlicherweise war gerade der zweite Prozess, das Abladen des Energieclusters im Körper überhaupt keine Schwierigkeit, denn aus irgendeinem Grund vermochte sich die menschlichen Zellen so zu modulieren, dass sie eine Art Empfangsort für die Energiecluster einrichteten, ohne dass die Wissenschaftler etwas von außen dafür machen mussten; sie mussten nur lediglich die Photonen dazu bringen, die richtigen Energiecluster mitzuliefern, und als sich herausstellte, dass es mit einem einfachsten mechanischen Verfahren, dem sogenannten Compton-Angel-Effekt, gelang, wurde comptonisierte Nahrung auf einfache Art und Weise herstellbar und konnte auf dem Rücken der Photonen in den Körper gelangen und zielgenau von ihm absorbiert werden. Da die Zellen bereits vorher über die letzten evolutionären Versorgungsentwicklungen gelernt hatten, die richtigen Energiecluster für sich zu speichern, war nun nach einer kurzen, intensiven Testphase an Lebendprobanden klar, dass sich die Zellen die Energien von den Photonen nehmen würden, die sie verbraucht hatten, sodass weder ein Überangebot noch eine Unterversorgung riskiert wurde. Die aus dem Körper wieder austretenden Photonen, die zum Teil noch Energiecluster mit sich trugen, konnten auf ein Speichermedium aufgefangen werden, sodass die Energiecluster vernichtet und in das allgemeine Energiepotential des Speichermediums überführt wurden – weil jedoch die Produktion der Energiecluster inzwischen ein Massengeschäft und eine völlig ausgereifte Technologie war, schien der Übergang der produzierten Energiecluster in das Energiepotential des Speichermediums verschmerzbar, da aus diesem Potential ohne Weiteres neue Energiecluster hergestellt werden konnten. Die einzige zentrale Frage, die noch offen blieb, war die Verfügbarkeit dieser Versorgung, denn zu Beginn der Entwicklung musste der Mensch, um sich mit Energieclustern zu versorgen, zwischen zwei Massenpotentialen stehen – das eine emittierte die mit Energieclustern angereicherten Photonen, das andere nahm die Photonen mit den unverbrauchten wieder auf und rückverwandelte die gebundene Energie in frei verfügbare – und darauf warten, dass der Körper die verbrauchten Energiecluster wieder aufgefrischt hatte. Dazu wurden überall viele dieser beiden Potentiale aufgestellt und bald schon gab es ganze Straßen, durch die man nur gehen musste und man war wieder aufgeladen, doch die Entwicklung durfte an dieser Stelle nicht stoppen, denn die zentrale Lösung, dass die Energiecluster in dem Moment aufgefüllt wurden, in dem sie verbraucht wurden, blieb so lange ungelöst, bis es gelang, Kleidung mit zwei solchen Potentialen zu entwickeln, die einmal in einem wachsenden Intervall an Stunden extern aufgeladen werden musste, damit sie für die Tätigkeiten ausreichend Energiecluster bereitstellte. Da die Kleidung auch je nach Betätigung in der Art und Weise des Speichermediums angepasst werden konnte, entwickelte sich eine zweckgebundene Nahrungs- und Energieversorgung, die den Menschen nahezu vollständig unabhängig von einer ortsgebundenen Versorgung machte und in eine veränderte Zukunft führte.