Betaworld
[Kurzgeschichte, veröffentlicht in Fantasia 1193e, 2025]

Betaworld
Linda fand es wie immer richtig nervig, wenn sie in die Alphaworld zurückkehren musste, um ihre notwendigen Körperfunktionen zu testen und durchzuführen. Zum Glück hatte sie inzwischen in der Betaworld einen so lukrativen Job gefunden, dass sie in der Alphaworld zu Hause bleiben konnte und nicht mehr die Wohnung verlassen musste, doch sie erinnerte sich nur zu gut an die Zeiten, als sie noch nicht genug verdiente, um alle Echtleistungen über Robotics einkaufen zu können.
Auch an diesem Tag kehrte sie aus der virtuellen in die echte Welt zurück, stieg aus dem Sessel auf und trotz der Muskelaktivierungen während der Zeit in der Betaworld brauchte sie einige Minuten, ehe sie sich sicher in ihrer Wohnung bewegen konnte. Sie erfüllte alle notwendigen Aufgaben, überprüfte und bestätigte, dass die eingekauften Roboticsleistungen durchgeführt worden waren, zahlte sie auch umgehend, ließ sich in eine eiskalte Regenerationstonne eintauchen – was sie richtig hasste –, trocknete sich ab, wechselte die Kleidung und nahm einige Nahrungsergänzungsmittel, die nachweislich besser wirkten, wenn die Probanden nicht in der Betaworld, sondern in der echten Welt waren.
Wie sehr Linda es inzwischen hasste, in der Alphaworld die notwendigen Dinge organisieren zu müssen, kannte keine Grenzen, und wenn es technische Möglichkeiten gegeben hätte, dass sie alle Funktionen an eine Robotics delegieren könnte, wäre sie bereit gewesen, einen Großteil ihres Verdienstes aus der Betaworld dafür auszugeben. Denn im Gegensatz zur Alphaworld war das Leben in der Betaworld viel besser organisiert und strukturiert. Während es in der Alphaworld unzählige Regeln und Bestimmungen gab, wie die Menschen zu leben, zu atmen, zu essen oder andere Funktionen durchzuführen hatten, glich das Leben in der Betaworld einer vollkommenen Freiheit des eigenen Willens. Dort gab es zwar auch, wie in der Alphaworld, eine Art Zeitrechnung, doch da es dem Geist möglich war, nicht nur im wachen Zustand, sondern auch im schlafenden weiterzuarbeiten, gab es keine Unterbrechungen der Tage, wie sie es früher gegeben hatte. Der Körper der Menschen in der Alphaworld versank während des Übertritts in die Betaworld in einen konstanten Ruhezustand, der durch Ernährung und Muskelrelaxation am Leben erhalten wurde, doch erst in der Betaworld war die wahre Freiheit der Gedankenwelt möglich. Da für Linda jede Minute, die sie in der Alphaworld verbringen musste, um notwendige Aufgaben zu erledigen, eine schmerzhafte Minute war, reduzierte sie diese auf ein Minimum und entwickelte eine hohe Nervosität, da sie nach der Einnahme der Nahrungsergänzungsmittel knapp 20 Minuten warten musste, ehe sich diese im Körper ganz verteilt hatten. Diese 20 Minuten waren immer die längsten in der realen Welt, da sie meistens schon alle Aufgaben erledigt hatte und nun warten musste, bis sie endlich wieder zurück in ihre geliebte Betaworld springen konnte. Sie hatte versucht, sich mantraartige Beruhigungsstrategien beizubringen, doch es half alles nichts und die 20 Minuten mussten eisern bekämpft werden. Als die Minuten endlich vorbei waren, legte sie sich auf die bereitliegende Betaliege, spürte das anschmiegsame, kühle Leder des Polsters und träumte schon weg, noch bevor die Verbindungen von der Alpha- in die Betaworld hergestellt worden waren. Der Sprung von der realen in die virtuelle Welt ging im Prinzip äußerst schnell, doch wie bei jedem Wechsel brauchte der Geist einige Minuten, um sich seiner Eigenständigkeit in der Betaworld klar zu werden. Als auch diese Minuten vorbei waren, lichtete sich das Dunkel und Linda erkannte erste Strukturen, die sie vor knapp einer Stunde verlassen hatte und die sich zum Glück nicht großartig verändert hatten. Das brauchte es allerdings auch nicht, denn die Betaworld bot allen Bewohnern alles, was sie sich immer gewünscht hatten, und sogleich war Linda von einem Kollektiv an Menschen umgeben, die die gleichen Ziele hatten wie sie. Das war allgemein auch der Grund, warum es immer mehr Arbeitsmigration von der Alpha- in die Betaworld gab, da sich dort nicht nur leichter leben ließ, sondern auch das Arbeiten einen höheren Sinn und Nutzen versprach, als es in der alten Welt tat. Zudem ermöglichte die Robotics in der Alphaworld, dass immer mehr in die Betaworld migrieren konnten, um dort mit sinnhafter Tätigkeit am Ausbau der grenzenlos wirkenden Welt mitzuarbeiten. Mit einem spürbaren Seufzer, der noch aus der körperlichen Welt rübergenommen worden war, atmete Linda auf und wollte sogleich die kurze Zeit in der realen Welt in die Truhe der vergessenen Gedanken packen, als ihre Freunde sie darauf ansprachen, ob sie Neuigkeiten von der Entscheidung der Großen Regierung der Alphaworld mitgebracht hätte. Linda musste zugeben, dass sie keine einzige Sekunde daran gedacht hatte, die Nachrichten in der realen Welt zu prüfen, und konnte daher keine Aussage darüber treffen, ob die Große Regierung nun endlich den Ausnahmezustand beendet hatte, der trotz millionenfacher Abwanderung zwischen den Welten immer noch Bestand hatte, was aus allen in der Betaworld de facto immer noch Straftätern machte, die jedoch längst nicht mehr verfolgt wurden. Es ging das Gerücht um, dass die Große Regierung akzeptiert hätte, dass sie das Leben in beiden Welten möglich machen und akzeptieren wollte, was ein Durchbruch für die Existenzen war, die in beiden Welten lebten. Die Welt befand sich seit der Eröffnung der ersten Betaworld in einem so bemerkenswerten Wandel, dass keine der vielen ausgedachten Repressionen jemals den Erfolg der Betaworld verhindern konnte – und als sich dann doch über andere Kanäle innerhalb der virtuellen Welt die Nachricht über die Entscheidung der Großen Regierung noch vor der offiziellen Nachricht in der Betaworld verbreitete, entstand spontaner, ausgelassener Jubel und Linda umarmte alle ihre Freunde, auch wenn dies nur virtuell passierte.