Bergan
[Kurzgeschichte, veröffentlicht in Damals im Mittelalter, Papierfresserchen Verlag, 2025]

Bergan
Die letzten Meter bergan musste der Mann, den alle im Dorf nur Hein riefen, obwohl sein Taufname ein völlig anderer war, eine weitere Pause einlegen, weil seine Beine drohten, unter ihm wegzubrechen.
Da er keinen Stein oder eine andere Sitzmöglichkeit fand, stützte er sich auf seinen Gehstock und hoffte, dass er nicht wieder hinfiel – wie es vor einigen Tagen an ähnlicher Stelle passiert war, als er sich nicht auf den Beinen halten konnte und viele blaue Flecken abholte.
Seine ganze linke Seite schmerzte immer noch stark, wenn er sich nachts auf seiner Liege herumwälzte und davon aufwachte, sodass es ihm kaum gelang, wieder einzuschlafen.
Hein nahm sich die Zeit und blickte über die Gegend, die sich unterhalb des kleinen Aufstiegs ausbreitete, und er hatte das Gefühl, dass er das alles bald sehr vermissen würde, wenn der Pfarrer, bei dem er letzten Sonntag seine Beichte abgelegt hatte, mit dem recht hatte, was er ihm von der nahenden Hölle erzählte, auf die Hein zusteuerte, da er keinen Heller besaß, um seine Sünden per Ablass freizukaufen.
Sicher waren schon viele derjenigen, die mit ihm einst aufgewachsen waren, inzwischen tot oder vom Kriegsdienst niemals wiedergekehrt, doch glaubte Hein, dass in ihm noch ein, zwei Winter steckten, solange, bis sich auch der letzte seiner drei Söhne selbst versorgen konnte.
Wie alt er selbst war, konnten nur die Priester wissen – er selbst glaubte, dass er um die vierzig Jahre alt war, ohne dass er genau verstand, was diese Zahl anderes aussagen sollte, als dass er alt war.
Hein schaute noch einmal zurück, ehe er die Kraft zusammennahm, um den letzten Anstieg zu meistern, und wie immer, wenn er einige Zeit gestanden hatte, spürte er nahezu jede Sehne im Körper, die wie sprödes Rindsleder auseinandergezogen wurde, dabei ächzte und stöhnte er vor stechenden Schmerzen, ehe sie nach einigen Schritten weniger wurden, doch nie mehr ganz verschwanden.
Er konnte sich gar nicht mehr an den Tag erinnern, den letzten Tag, an dem er keine Schmerzen verspürt hatte, an dem er morgens aufgestanden und nach den ganzen Plackereien abends zufrieden ins Bett gegangen war.
Hein war sich sicher, dass dieser Tag vor der Geburt seiner Söhne liegen musste, die auch schon so alt waren, dass der erste Sohn bereits eigene Kinder hatte.
Eigentlich, so dachte er, hatte er alles im Leben erreicht, was er sich erträumt hatte – konnte früh den Hof seiner Eltern übernehmen und eine eigene Familie gründen, bekam gesunde Kinder, von denen die Mehrzahl überlebte, und war bis zum letzten Winter mit einer Frau an seiner Seite gesegnet gewesen, die niemals meckerte, egal, wie hart die Zeiten waren.
Da er einen eigenen Hof hatte und diesen bewirtschaftete, war Hein auch nie in größere Gefahr gekommen, dass er an einem Krieg würde teilnehmen müssen; nicht wie seine beiden Brüder, die fortzogen, um nicht mehr wiederzukommen.
Mit diesen Gedanken ging Hein den Berg hinan und wunderte sich, dass er ihm dieses Mal so lang vorkam, viel länger als sonst, was aber auch daran liegen konnte, dass er sich nicht so kraftvoll wie sonst fühlte und hier und da eine zusätzliche Pause einlegen musste.
Doch gleich würde er es geschafft haben – dann wurde es leichter, denn es ging in Richtung des Dorfes, an dessen Rand sein Hof lag, bergab, und da es in den letzten Tagen nicht geregnet hatte, hoffte er, dass er unbeschadet wieder nach Hause kam.
Es waren nur noch drei, vier Schritte, ehe er über die Kuppe ins Tal schauen konnte, wo er die ersten Firste der Häuser zu sehen bekam, meistens der Scheunen, die mit dem täglichen Widerstand gegen die Kräfte der Natur und des Menschen den Gezeiten trotzten und hin und wieder neu aufgebaut werden mussten.
Den First seiner Scheune würde er wohl als erstes sehen, wenn es die beiden Erlen erlaubten, dass er zwischen ihren Blätterdächern hindurch schaute, doch plötzlich gab sein rechtes Bein nach, knickte zur Seite, ehe auch das andere kraftlos wurde, und im Zusammensacken spürte Hein, wie ihn ein Schwindel erfasste, er die Kontrolle verlor und wie ein nasser Sack Mehl zusammenklappte.
Ihm schoss die Beschreibung des Pfarrers in den Kopf und instinktiv wartete er auf die bevorstehende Hitze der Hölle, doch sie wollte nicht kommen; viel eher durchzog ihn eine eisige Kälte, die sich trotz der starken Sonne in seinem Körper ausbreitete, ehe er für einen allerletzten Augenblick die Kraft fand, die Augen zu öffnen, um in den Himmel zu starren, dorthin, wonach er sich sehnte.