Das Volk von Uqbar
[Kurzgeschichte, veröffentlicht in Reibeisen 33, 2016]
Das Volk von Uqbar
Die Frage, wo das Volk von Uqbar lebt, gelebt hat oder in Zukunft leben wird, ist keine Frage, die sich das Volk von Uqbar stellt, denn es braucht sich diese Frage nicht zu stellen. Denn es weiß. Es weiß, weil es sich alles vorstellen kann.
Die anderen Völker, die mit dem Volk von Uqbar entweder bereits in Berührung gekommen sind oder es nur vom Hörensagen kennen, möchten jedoch mehr über das substantielle Wesen des einen Volkes wissen, das selbst kein Wissen benötigt, weil es sich dieses – ohne Rückgriff auf eine Geschichte der Erde oder der Staaten oder der Gesellschaftsformen – einfach vorstellen kann. Wie kann es aber sein, dass sich ein Volk vorstellen kann, was seine Geschichte ist und was seine Zukunft sein wird, unter der Prämisse, dass es dem Prinzip der Wahrheit entsprechen solle, um nicht das Wissen um die Vorstellung selbst infrage zu stellen?
Diesen Kniff der uqbarischen Wahrheitsfindung über die Verifizierung der Vorstellungen auf Basis eines erweiterten Wahrheitsbegriffs untersuchte vor einigen Jahren John Edward Williams, ein anglikanischer Professor für ethnische Minderheiten an der Universität von Cambridge, in seinem Standardwerk A history of the truth in the Uqbarian imagination, in dem er sich für eine modifizierte Wahrheitstheorie aussprach, in der nicht der eigentliche und überall in den säkularen Demokratien vorherrschende Wahrheitsbegriff zur Anwendung kommen solle, sondern ein abgeschwächter, ein vorstellbarer, da für Williams der Begriff der Vorstellung essentiell für die Beschreibung des uqbarischen Volkes erscheint. Diese Vorstellung sei, so Williams, gerade deswegen essentiell, weil es auch in den säkularen Demokratien, die nicht selten das Kreuz der Postmoderne als Begriff mit sich schleifen – als wären sie nach der Moderne! –, keinen Wahrheitsbegriff gibt, ohne dass eine bestimmte Vorstellung von ihr bestünde. Jeder Mensch, der in diesen Demokratien lebe und sich über seinen Begriff der Wahrheit Gedanken mache – ob er das nun aufgrund eines bestimmten Ereignisses oder auf abstrakter Ebene mache, sei dahingestellt –, stelle sich eine Art der Wahrheit vor, aus seinem Blickwinkel, die nicht zwingend deckungsgleich mit dem Wahrheitsbegriff eines anderen Menschen übereinstimmen müsse. Und gerade dieses Nicht-Müssen ist für Williams der Aufhänger, dass er diese Geschichte des uqbarischen Wahrheitsbegriffs in deren Vorstellung mit dem ihm eigenen, in der Gesellschaft empirisch erforsch- und belegbaren Begriff der Wahrheit beschreiben könne, ohne sich einen phantastischen Wahrheitsbegriff abstrakt ausdenken zu müssen.
Obwohl es sich kaum denken lässt, dass ein solches Standardwerk auch nur eine Handvoll an kritischen Rezeptionen erhalten dürfte – und kann es denn zu einem Standardwerk werden, ohne ausreichende Rezeption? –, so fegte bald schon ein riesiger Orkan über den Cambridge-Professor hinweg; beinahe in die Tausende gehende Anmerkungen, Widersprüche und zum Teil auch aggressiv widersprechende, keineswegs auf der argumentativen Seite verbleibende Schmähschriften erhielt der besonnene Williams und kam kaum mehr zu seiner eigentlichen Forschung, sondern musste auf solche Artikel und Vorwürfe antworten, die ihm unterstellten, dass er sich in den uqbarischen Dienst stellen würde, ohne per se zu wissen, was diese Positionierung für den allgemeinen Wahrheitsbegriff bedeute.
»Wenn Sie also im Recht wären, Professor Williams«, schrieb einer der argumentativ feineren Widersacher, »dann müsste der allgemeine Wahrheitsbegriff, den die Philosophen über die letzten Jahrhunderte gebildet und herausgefeilt haben, auf den Prüfstand, denn wenn der uqbarische Wahrheitsbegriff, der allein auf Basis der Vorstellung fußt, der einzig wahre wäre, dann würde es keine Wahrheit an sich geben. Dieser logische Ausschluss führt dazu, dass ein Wahrheitsbegriff auf Basis einer Vorstellung – und damit eine n-dimensionale Wahrheit bei n Uqbarern – niemals zu einem einheitlichen Begriff der Wahrheit kommen könne, was wiederum den Begriff der Wahrheit obsolet mache, denn er decke sich zu einhundert Prozent mit der Vorstellung der Uqbarer.«
Diese und andere Argumente bekam Professor Williams übermittelt, und bei einigen Schriftstücken war er nicht einmal abgeneigt, in die fachliche Diskussion einzusteigen, doch nicht wenige forderten ihn explizit auf, sein Werk zu widerrufen; er solle sagen und noch besser schreiben, dass er das Ganze noch mal bedacht habe und zu dem Schluss gekommen sei, dass eine Geschichte der uqbarischen Wahrheit niemals im Rückgriff auf den säkularen Wahrheitsbegriff möglich sei. Dabei sollte er jedoch keine Namen von Widersprechern nennen, da sich auch diese sonst dem Hass der vielen Drohenden aussetzen würden, denn es war zu vermuten, dass ein nicht gerade geringer Teil der Drohenden nicht nur gegen die Meinung von Professor Williams war, sondern auch – und eigentlich vor allem – gegen die Meinung der Gegenredner, denn ihre eigene, dritte Meinung, die auf einem starken Widerstand gegen die Säkularen fußte, war eine ganz andere Art von Wahrheit, die sich merkwürdigerweise kaum von der unterschied, die Williams bei den Uqbarern identifiziert und beschrieben hatte. Wie so oft, wenn sich religiös motivierte Denker dabei ertappt fühlen, dass ein Text nicht zu dem eindeutigen Ergebnis kommt, dass die Essenz aller Wahrheit die eigene göttliche Wahrheit deckungsgleich untermauert, wird eine Blockadehaltung initiiert, die keineswegs mit Offenheit bezeichnet werden kann, obgleich es in diesem Fall schon verwunderlich erscheint, denn auch wenn das Volk von Uqbar vielleicht nicht religiös ist oder es als solches unmittelbar beschrieben werden kann, so ist es jedoch in der Lage, sich eine göttliche Gestalt in all seiner Mannigfaltigkeit, Macht und Größe vorzustellen, was in letzter Konsequenz die Frage stellen lässt, ob nicht alle tiefreligiösen Menschen Uqbarer von Natur aus sein müssten.
Doch das sollte nicht die einzige Reaktion auf das Standardwerk von Professor Williams bleiben. Es ging eine gewisse Zeit ins Land und die anfänglichen Widersprüche gegen das Williams-Werk gingen gegen Null, als ein neues Standardwerk erschien – man merkt schon an der Wortwahl, welcher Sturm dem Erscheinen folgte –, dieses Mal von einem Juniorprofessor für philosophische Nischendoktrin, der an der Sorbonne lehrte: Une argument contre l’utilisation de la notion de vérité dans l’idée de Uqbar von Laurent Bloise. Kern seiner Untersuchung ist die Absprache der Verwendung des Wahrheitsbegriffs für die uqbarische Vorstellungswelt. Um den Druck aus der bisher ergebnislosen Diskussion herauszunehmen, schlug Bloise vor, dass man für die Uqbarer einen neuen Begriff benennen sollte, der die Wirklichkeitserfahrung in deren Volk besser beschreibe als die von der Moderne definierte Wahrheit, deren Verwendung zu so viel Diskussionsstoff gesorgt hatte. Der Sturm der Entrüstung zu diesem Werk war vielleicht noch größer als der Sturm nach dem Williams-Text, denn der Vorschlag, einen allseits anerkannten und wohlweislich in fast jeder Tiefe und Dimension definierten Begriff einfach für ein einziges Volk wegzulassen, weil sich dieses nicht den üblichen als postmodern definierten Strukturen unterwarf, schien vielen als Affront gegen die jahrhundertelangen, geisteswissenschaftlichen, aber auch rechtswissenschaftlichen Streitgespräche, die oft mit vielen Opfern geführt worden waren. Der Vorschlag nun, die Wahrheit für die Uqbarer auszuklammern, erschien keinem der Widersprechenden für sinnvoll, und am Ende musste Bloise kleinbeigeben, da es niemand gab, restlos niemand, der sich seiner Theorie anschloss, denn die Aufgabe der Wahrheit als Begriff erschien allen als Aufgabe der Wahrheit selber.
Man hätte meinen sollen, dass es mit dem Nachgeben des Juniorprofessors, der aufgrund seiner theoretischen Schwächen in seiner Argumentation in der Folge die Sorbonne verlassen musste, weil man ihm nahelegte, dass er wohl keine wissenschaftliche Zukunft habe, nun Ruhe in die Sache mit den Uqbarern einkehrte – doch weit gefehlt, denn der Graben zwischen den säkularen und den fanatisch religiösen war noch lange nicht überwunden, und nun entbrannte wieder der alte Kampf zwischen den Gruppen, wer denn Herr der Wahrheit wäre – eine göttliche oder dann doch die einzelne menschliche Wesensfigur –, und es bleibt zu vermuten, dass sich daraus ein endloser Streit entwickelt hätte, wenn nicht – und das ist einer der wenigen Momente in der Menschheitsgeschichte, in der sich ein Uqbarer zu den Geschehnissen der restlichen Welt direkt zu Wort meldete – dass dieser Uqbarer über Professor Williams als Übersetzenden kundgetan hätte, dass er sich wunderbar vorstellen könnte, wie es wäre, wenn sich die anderen Menschenvölker keine Gedanken um den Wahrheitsbegriff unter den Uqbarern wie auch unter den Menschen machen würden, sondern einfach das Leben lebten, mit der Wahrheit eines jeden Einzelnen, ohne die Infragestellung der Wahrheit der anderen, ohne die Wahrheit überhaupt inhaltlich zu thematisieren. Dieser erstaunliche Vorstoß eines Uqbarern hätte tatsächlich dazu führen können, dass sich die einzelnen, streitenden Gruppen beruhigen, doch ein bestimmtes, sich oft wiederholendes Ereignis hielt sie davon ab, sich auf gegenseitiger Basis über das Faktum der Wahrheit zu einigen: die Wut der Menschen über den Wahrheitsanspruch eines anderen Menschen über die eigene Wahrheit.