Chaos
[Kurzgeschichte. Veröffentlicht in Frauen / Männer Anthologie, 2014]
Chaos
Der Gipfel war bereits in Sichtweite. Der Luftdruck wurde geringer, und das einzige, das wuchs, war die Angst, kurz vor dem Ziel zu scheitern und damit an sich selbst. Den letzten Baumbewuchs hatten sie schon lange hinter sich gelassen und inzwischen war es nur noch steiniges Geröll, das am Hang in völliger Ruhe dalag. Den Aufstieg kurz vor dem Ende mit einem solchen Risiko behaftet zu sehen, konnte einen klar denkenden Menschen zu schaffen machen, doch er war schon lange nicht mehr klar denkend. Seine, dem Gipfel geschuldete Sauerstoffarmut und der fehlende Druck in der Luft ließen ihn sehr flach atmen. Er stand nicht sicher auf den Beinen und kämpfte mehr und mehr mit sich selbst anstatt gegen den Berg, musste allem standhalten, das sich ihm in den Weg stellte, und konnte dabei nur verlieren. Sein Wille war es, er musste weitergehen, gegen die Schmerzen, er wollte miterleben, wie es ist, wenn man an die Grenzen kommt, wie es sich anfühlt, wenn die Natur stärker ist, wenn ein Leben an seine Grenzen stößt und dann mitunter daran abprallt. Würde ein Jüngerer den Berg viel leichter besteigen? Vielleicht mit einem Laufschritt nach oben hetzen, mit viel mehr Kraft voranstiefeln, steil bergan, mit mehr Standhaftigkeit, eiserner Ernsthaftigkeit, federnder Dynamik, Durchhaltevermögen? Lag es an ihm, dass er zu scheitern drohte, an seiner offensichtlichen körperlichen Schwäche, die ihm immer mehr bewusst wurde? Es schien, dass ein Film vorbeizog, in grauen Bildern vor seinem geistigen Auge, und mit jedem Schritt, den er nach oben stolperte und den er kaum noch zu registrieren fähig war, mit jedem Posten, den sie auf dem Weg nach oben passierten, bekam er einen Eindruck von der Schwere des Lebens, auf das er immer so viel Wert gelegt hatte. Neben den grauen Steinen unter seinen Füßen spürte er irgendwann den nackten Stein des Gipfels, der sich so nahe vor ihm befand, dass er kaum wahrnahm, wie viele Schritte er sich vorankämpfte, wie viele Jahre seines Lebens er einsetzte, wie er auf diesen Moment hingearbeitet hatte, dass er bald oben stand, denn er hatte sich durchgebissen, das Chaos in seinem Inneren besiegt und damit sich selbst belohnt.