Spiegelbild

Spiegelbild

[Kurzgeschichte, veröffentlicht in eXperimenta 12/2015]

Heft: Link

Spiegelbild

Sie gönnt sich eine kurze Pause, hält in ihren kreisförmigen, professionellen Bewegungen ein, stützt sich auf das marmorne Waschbecken, hebt ihren Blick und betrachtet sich im Spiegel. Eine Strähne fällt ihr ins Gesicht, wie immer, wenn sie arbeitet und die Spangen nicht alle Haare halten.

Saubermachen im Hotel ist körperliche Hochleistungsarbeit, und im Spiegel sieht sie eine ungeschminkte, zähe Frau, die um sich und ihr Leben weiß. Gleich wird die Vorarbeiterin durch den Raum und das Bad marschieren, wird sich die Ecken und die versteckten Hindernisse des Hotelzimmers genau ansehen und entweder tadeln oder schweigen. Lob ist nicht zu erwarten, doch das ist nicht die Erwartungshaltung, als die Innehaltende in den Spiegel blickt. Man erwartet von ihr, dass sie ihre Arbeit einhundertprozentig macht, und sie macht ihre Arbeit besser als alle anderen. Das ist ihr Anspruch, der sich mit dem Anspruch des Hotels zu einhundert Prozent deckt.

Was die Hotelgäste wohl denken mögen, wenn sie sich in diesem Spiegel sehen, nach einer Nacht, nach einer Dusche, vor einem Treffen? Sehen sie in ihrem Spiegelbild das, was sie sehen wollen? Oder sehen sie eine leblose Gestalt, die deswegen in einem anonymen Hotelzimmer übernachtet, weil ihr Leben ebenso anonym ist? Wie wäre es, wenn mein Leben anonym wäre? Wenn ich hier wohnen würde?

Einige graue Haarsträhnen entdeckt sie im Spiegel. Kein Makel für sie, wie für die meisten anderen Frauen in ihrem Alter. Sie steht zu ihrem Alter, arbeitet hart dafür, dass sie ihre drei Kinder auf gute Schulen und später zum Studium schicken kann – und erwartet von niemandem Hilfe. Sie weiß, was und wer sie ist, weiß darum, dass sie wie eine Löwin kämpfen muss, ohne allzu laut brüllen zu dürfen. So viele Zimmer, immer die gleichen Handgriffe, immer die gleichen, zeitoptimierten Abläufe, Standards, die sie selbst noch standardisiert hatte, weil ihr diese nicht gut genug waren. Das ist der Grund, warum die Aufseherin gerne in ihre Zimmer kommt! Weil diese nahezu perfekt sind. Immer akkurat, selten einmal gibt es etwas zu mäkeln. Sehr selten.

Sie weiß, dass sie gut in der Zeit liegt, kennt ihren Rhythmus. Langsam wendet sich ihr Blick vom eigenen Spiegelbild in den Raum hinein. Sie bemerkt, dass in dem Mülleimer mehrere Kosmetikartikel liegen, fein säuberlich in einen Beutel gestopft! Ein reinlicher Gast, deswegen hat sie auch so viel Zeit! Eine Frau als Gast, eine Businessfrau wahrscheinlich, auf der Durchreise. Sie kann sich die Frau vorstellen, wie sie nackt vor dem Spiegel steht, sich betrachtet, die kleinen Fettpölsterchen, die sie mit einer maßgeschneiderten Kleidung zu kaschieren versucht, die kleinen Makel, die jede Frau glaubt, mit sich herumzutragen.

Wie alt sie wohl sein mag? Ob sie ihr Leben für gut befindet? Oder giert sie nach einem Leben mit einer Familie, einem kleinen Häuschen und Ruhe und Bequemlichkeit? Natürlich – hier im Hotel sind Ruhe und Bequemlichkeit das höchste Serviceanliegen, aber es ist doch etwas anderes, wenn man zu Hause in einer persönlichen Umgebung ruht oder dann doch hier, an einem Ort, der morgen vielleicht schon wieder von einem anderen Menschen genutzt wird. Gesichtslose, charakterlose, durchgestylte Räume, funktional und doch bequem und warm, aber letzten Endes kühl und nüchtern.

Die Einhaltende richtet ihren Blick zurück auf ihr Spiegelbild, sieht, wie ihre Augen voller Leben sind, wie sie glühen, wie sie Lebensfreude versprühen. Die Augen sind der Spiegel der Seele! Kann man seine Seele eigentlich in einem Spiegel erkennen, wenn das, was man dort sieht, auch nur ein Spiegelbild ist? Sieht man sich oder nur ein Abbild von sich selbst, eines, wie man sich sehen möchte? Ist man der Mensch, den man dort im Spiegel sieht, oder macht man sich zu dem Menschen, den man im Spiegel sehen möchte? Sehen andere in mir das, was ich in diesem Augenblick im Spiegel sehe?

Vom Flur draußen dringen leise Geräusche in das Hotelzimmer. Indem sie sich aus den Gedanken losreißt, fährt sie mit ihren kreisförmigen, professionellen Bewegungen fort, mit dem Wissen darum, dass sie weiß, wie die Antworten zu ihrem Leben aussehen.