Der fünfte Schlüssel des Nikolaus
[Kurzgeschichte. Veröffentlicht in Wünsch dich ins Wunder-Weihnachtsland #18. Anthologie, 2025]

Der fünfte Schlüssel des Nikolaus
Wenn man sich bemüht, die Wahrheit aus den Nebeln der Jahrhunderte zu ziehen – einer Wahrheit, die sich nicht wie ein Körper greifen, sondern nur wie ein Schatten denken lässt –, so stößt man unausweichlich auf jene Figur, die sowohl über die Schwelle des Mythos schreitet als auch an der Pforte der Chronik verweilt: Nikolaus, Bischof von Myra, ein Mann, dessen Geburtsdatum ungewiss, dessen Todesjahr nur eine Ahnung ist, dessen Taten jedoch in einer seltsamen Weise fortleben, als hätten sie sich nicht in der Zeit, sondern in einem Raum jenseits der Zeit ereignet, einer Art Spiegelkammer aus Geschichten, Wünschen und ritueller Wiederholung.
Es gibt, so erzählt ein Manuskript aus der Bibliothek des Klosters Agathonos, das nur mit besonderer Erlaubnis des Abtes eingesehen werden darf und in dessen bläulich verfärbten Pergamentseiten sich die Tinte wie von selbst aus dem Dunkel der Jahrhunderte zu regen scheint, fünf Schlüssel, die der heilige Nikolaus in seinem Leben besaß und von denen nur vier den gewöhnlichen Sterblichen bekannt seien: den Schlüssel zum Kornspeicher, den er in Zeiten der Hungersnot den hungernden Menschen übergab; der Schlüssel zum Kinderherzen, den er durch seine Gaben und seine Milde gewann; der Schlüssel zur Freiheit, den er jenem unschuldig Verurteilten in Patara brachte, indem er dem Richter die Wahrheit abverlangte wie ein Alchimist das Gold aus dem Blei; und der Schlüssel zur Seele, mit dem er nicht nur die Toten auferwecken, sondern auch den Lebenden Mut einhauchen konnte, wie man einem fast erloschenen Docht noch einmal Atem spendet.
Der fünfte Schlüssel jedoch – so raunt das Manuskript – ist nicht aus Eisen, nicht aus Gold, nicht aus Holz, sondern aus reiner Erinnerung geschmiedet; er sei ein Schlüssel ohne Schloss, ein Instrument, das nur dort passt, wo niemand mehr nach Öffnung sucht. Borges hätte ihn wohl ein metaphysisches Artefakt genannt, ein Ding, das in der Welt der Objekte nicht existiert und doch in jedem Traum, jeder Legende und jedem Kinderwunsch eine Spur hinterlässt.
In Smyrna, wo einmal ein steinernes Hospital stand, das in den Tagen der Pest zu einem Ort stiller Wunder wurde, soll Nikolaus einst einem sterbenden Kind erschienen sein – nicht als greiser Bischof mit Mitra und Krummstab, sondern als schmaler Mann mit der ernsten Miene eines Gerichtsbeamten und der glimmenden Wärme eines Vaters –, und es heißt, er habe dem Kind nicht etwa das Leben verlängert, sondern ihm die Angst vor dem Dunkel genommen, in dem sich der Tod verbarg, als wäre er nur ein weiterer Gang in jenem großen, labyrinthischen Palast, in dem Gott selbst den Architekten spielt, doch niemandem den Plan verrät.
Es wäre vermessen, in diesen Überlieferungen nur Allegorien zu sehen, wie es die Historiker aus Oxford und die Philologen aus Tübingen gern tun; vielmehr muss man sich vorstellen, dass Nikolaus – so wie Dickens in den Straßen Londons wandelte und dabei sowohl den Dreck der Gosse als auch das Licht der Laternen in sich aufnahm – ein Mann war, der weniger durch Wunder wirkte als durch jene stille, fast unscheinbare Bewegung des Herzens, die etwas in den Menschen veränderte, eine Witterung hinterließ, als sei die Gegenwart des Heiligen weniger ein Ereignis als ein Umschlag im Bewusstsein: eine plötzliche Bereitschaft zur Güte, zum Mitleid und zur Hingabe an das Notwendige.
Ein Brief, der 1811 in der Bibliothek des Earls von Brockenhurst aufgefunden wurde und auf Griechisch verfasst ist – sein Absender ist lediglich mit „Ν.“ signiert – berichtet von einer Gestalt, die in den Wirren eines Seeräuberüberfalls auf die lykische Küste im 4. Jahrhundert auftauchte, die Kinder barg, Brot verteilte, die Räuber zum Schweigen brachte und dann verschwand, ohne eine Spur zu hinterlassen, außer einem zerbrochenen Siegelring mit einem Fischsymbol und drei Ähren. Dickens hätte in dieser Szene nicht nur das Pathos des Zufalls, sondern die leise Ironie des menschlichen Bemühens gespürt – denn der Mensch ist niemals so göttlich wie in dem Moment, in dem er sich kleinmacht, um anderen groß zu erscheinen.
Was bleibt von einem Menschen, wenn seine Taten zu Legenden geworden sind und seine Legenden zu Riten? Vielleicht ist Nikolaus ein solcher Fall: ein Mann, der lebte, starb und dann, durch die Jahrhunderte hindurch, weiterlebte, nicht weil man ihn nicht vergessen konnte, sondern weil man sich in ihm etwas merken wollte, das jenseits der Erinnerung lag – ein wohliges Gefühl, Sicherheit im Herzen, ein stilles Erzittern vor dem Guten.
So stecken wir jedes Jahr am sechsten Dezember nicht nur Mandarinen und Nüsse in die blankgeputzten Schuhe der Kinder, sondern auch ein Stück von jenem fünften Schlüssel, den wir nicht benennen, nicht erklären, nicht einmal ganz denken können – weil er nicht dem Besitz, sondern dem Vertrauen gehört; nicht der Geschichte, sondern der Möglichkeit; nicht dem Gestern, sondern der stillen Ahnung, dass es einen Ort gibt, an dem ein milder Mann mit ernsten Augen und einem Mantel aus Nachtluft über uns wacht, ohne uns zu rühren, ohne uns zu retten, aber mit der tiefen, fast göttlichen Geduld dessen, der weiß, dass sich jede Tür irgendwann öffnen muss.