Durchsichtig

Durchsichtig

[Kurzgeschichte. Veröffentlicht in Fantasia 1209e. 2025]

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Durchsichtig

Die allgemein herrschende Meinung über den Hausbau in unserem Land mag in keiner menschlichen Phantasie noch stärker verkompliziert werden, wie es dennoch in dieser wahren Begebenheit dargestellt werden soll.

Neubaugebiete sind seit jeher schon zuweilen wilde Aktionen – weil es einiges an Land dafür braucht, es viele Interessenbeteiligte gibt (ablehnend wie befürwortend), sich oft ganze Gegenden strukturell verändern oder beim tatsächlichen Bau etwas passiert, was so nicht vorgesehen war. Dabei sind Fliegerbomben, eine seltene Lurchenart oder die Entdeckung einer unregistrierten Abfallgrube eher als Normalität zu bezeichnen, doch was in jenem Neubaugebiet vonstatten ging, von dem nun berichtet werden soll, sprengt diese Dimensionen um ein Schreckliches. 

Doch bevor wir in den Umstand des Erzählens verfallen, gehört vorher eine Klarstellung, welche Quellen benutzt werden, damit klar und nachvollziehbar wird, dass diese Beschreibung den Tatsachen möglichst nahekommt. Die Erkenntnisse folgen einigen Notizen aus Gesprächen und Recherchen, fußen aber im Wesentlichen auf fünf Werken:

1. Wolf, Dietmar (1968): Bodenaufbau und ‑beschaffenheit im Rhein‑Mosel‑Maas‑Gebiet. 

2. Oranier, Peter (1987): Tief graben. Eine Geschichte voller Risiken und Erkenntnisse. 

3. Elevon, Antoine (1999): Ce que je cherchais et que je n’ai pas trouvé: Une histoire pleine d’erreurs et de confusions.

4. Whitaker, John (1997): Those who dig deep sometimes come across treasure. 

5. Număr necunoscut (1779): Sapă adânc, înnebunește, se ofilește încet, moare mizerabil. 

Diese nicht abschließende, aber sicherlich eindrückliche Werkauswahl zeigt die breite Recherche, die den Ereignissen und deren Aufarbeitung zugrunde liegt.

Es war der Sommer vor zwei Jahren, als die Familie Schmidt zu einem Bauunternehmer ihres Vertrauens ging (der von einem Freund eines Freundes empfohlen worden war) und um ein Angebot für den Bau ihres Traumhauses bat, das Frau Schmidt bereits seit mehreren Jahren in ihrem Kopf mit sich herumgetragen hatte. 

Die allgemeine Ansicht des Dokumentars, die Familie Schmidt weder mit ihren bekannten Vornamen noch mit tiefergehenden Eigenschaften zu versehen – obwohl sie in allen Dimensionen vorhanden wären –, ist der Versuch, das Unglaubliche stärker in den Mittelpunkt zu stellen und von allem unnötigen Ballast zu befreien, obwohl und eigentlich der Name der Familie ebenfalls ein Stückchen Ballast ist – doch es gibt auch die Situationen, in denen eine allzu gerade Linie in einem Bericht auch zu gekünstelt wirkt.

Also erhielten Frau und Herr Schmidt aufgrund der klaren Vorstellungen ziemlich zügig ein Angebot, das ihnen im ersten Moment den Atem raubte, doch sie wollten sich endlich in ihrem Heim sesshaft machen, was ihnen wichtiger war als ein paar Zehntausend Euros Schulden. 

Sie erteilten also dem empfohlenen Bauunternehmer den Auftrag und alles ging seinen Weg, Architektenaufträge hin und her, Bauantrag hin und her, Änderungen hier und da – nur die absolut gesetzlich notwendigen –, und als die Bagger und Lastkipper anrollten, hüpfte das Herz von Frau Schmidt in einem Takt, der der Ode an die Freude gleichkam. 

Die ersten Tage standen unter keinem günstigen Stern, denn der August war ungewöhnlich nass, und erst als der September das Regime im Kalender übernahm, wurde es zunehmend wieder trockener, sodass die Geschwindigkeit auf der Baustelle zunahm. 

Beinahe, aber auch nur beinahe wäre rein gar nichts passiert, das zu dieser Recherche hier führt, doch mit einem der letzten Grubenarbeiten des letzten verbliebenen Baggers nahm das Schicksal – wenn man das folgenreiche Wort Schicksal in den gedanklichen Mund nehmen möchte – seinen Lauf, denn zunächst einmal dachte der Baggerfahrer, dass er nur auf einen übergroßen Stein getroffen sei, dem mit Gewalt und immerwährender Abnutzung beizukommen wäre, doch kaum, dass der Baggerfahrer über den geringen bis nicht vorhandenen Fortschritt so sauer wurde, dass er mit voller Macht des Baggers die Schaufel auf den harten Stein fielen ließ, ereilte ihn ein Herzinfarkt, der ihn deswegen aus dem Leben riss, weil niemand auf der Baustelle war, der dies mitbekommen hatte. Erst als der Kipplasterfahrer aus seinem Dämmerschlaf aufwachte und nachsehen ging, warum er noch nicht fertig beladen war, erkannte er den schrecklichen Umstand, und aufgrund dieser Tatsache wurde die Baustelle für einige Tage geschlossen, um weitere Untersuchungen der Polizei zu ermöglichen, die dann aber nichts Verdächtiges für einen externen Einfluss fand. 

Als jedoch der Bauunternehmer mit seinem Vorarbeiter eines Nachmittags auf der Baustelle war, um zu prüfen, welche Restarbeiten für die Ausschachtung noch notwendig waren, wäre auch dies beinahe gut ausgegangen, wenn nicht der Vorarbeiter darauf bestanden hätte, die wenigen Schaufeln noch aus dem Boden zu holen. 

Da die Baustelle am Vormittag von der Polizei freigegeben worden war, wollte der Vorarbeiter das Thema selbst schnell lösen, kletterte in den Bagger hinein, startete ihn und hatte das Gefühl, dass dieser in seiner eigenen Sprache Widerworte gab, die nur erfahrene Bauleute verstehen können, doch missinterpretierte der Fahrer die Warnung und startete mit den Arbeiten. Doch auch er gelangte binnen weniger Momente an die unüberbrückbare Barriere, die sich im Boden zu verstecken schien und die jedweden Versuch, egal von welcher Seite auch, zunichte machte. 

So verwundert der Vorarbeiter nun war, so folgenreich war der Wunsch seines Chefs, mit seiner Affäre den nächsten Termin für ein Stelldichein zu vereinbaren, dass sich dieser von der Baugrube so weit entfernte, dass auch der Vorarbeiter eines scheinbar natürlichen Todes dahingerafft wurde – was allerdings kaum sein konnte, denn so gravierende Zufälle mag es in der Menschheitsgeschichte gegeben haben, doch jeder Ermittler würde sofort argwöhnisch werden, wenn es zu diesem Fall noch einmal käme. 

Der Chef des Bauunternehmens, der nicht nur seinen Baggerfahrer, sondern nun auch noch seinen Vorarbeiter zu Grabe tragen musste, brach wenige Tage später zusammen und wurde noch am selben Tag in eine jener Anstalten gebracht, die für die Behandlung schwerer geistiger Umnachtungen spezialisiert sind, denn obwohl es dafür keinerlei Anzeichen gab, sprach der Bauunternehmer die gesamte Zeit über vom Teufel, der in ihn gedrungen sei. Wie er zu dieser Annahme oder Erkenntnis kam, lässt sich im Nachhinein nicht mehr rekonstruieren – selbst Aufnahmen, die über Tage und Wochen von dem Verrücktgewordenen analysiert wurden, rauf und runter, immer wieder, brachten kein Licht ins Dunkel. 

Doch zurück zum Fall, der für die örtliche Polizei nur noch um einige Kuriositäten reicher wurde, da nicht nur die beiden Bauarbeiter eines Todes in dieser Grube starben, sondern auch ein weiterer Mann, der sich in der Nacht Zugang zum Loch verschaffte und dort am Morgen leblos von den ersten Spurensicherern gefunden wurde. 

Mit dieser dritten Leiche, die scheinbar eines natürlichen Todes verstorben war, endete jede Idee von Zufällen und das Gebiet wurde weiträumig abgesperrt, dazu rückten Spezialeinheiten der Polizei an, um die Heerscharen an Schaulustigen und Reportern abzuwimmeln, die sich mit einer unnachgiebigen Art des Wissensdurstes zuweilen näheren Zutritt verschafften, ehe es der überregional organisierten Polizei zu viel wurde und Sondereinheiten mit besonderen Fähigkeiten den Schutz übernahmen – nach einigen wenigen unfreundlichen Begegnungen mit diesen Einheiten endeten die Versuche der Eindringlinge schlagartig und die Ermittler konnten erneut in Ruhe arbeiten. 

Um keine weiteren Risiken einzugehen, hatte die Polizeichefin verboten, dass sich irgendwer der Grube näherte, und mittels pausenloser Beobachtung durch zahlreiche Kameras konnte ausgeschlossen werden, dass es sich um eine bisher unbekannte Art des Todes gehandelt hatte. 

Inzwischen konnte ein speziell für Vulkane produzierter Roboter herbeigebracht werden, der die Aufgabe besaß, das Innenleben der Baugrube zu untersuchen, und als dieser den Weg hinunterrollte, der für den Bagger ursächlich vorgesehen war, spürten alle im Raum befindlichen Ermittler die Anspannung, ob es denn mehr gäbe als nur den puren Zufall. 

Der Roboter schlich mit einer nahe null grenzenden Geschwindigkeit den Hang hinunter, und die Beobachter schworen nachher, dass auch ihre Gedanken in einer ähnlichen Geschwindigkeit durch ihre Köpfe krochen. 

Die Anspannung war im Container mit all der Technik zum Greifen nah und jeder teilte seine Körperschweißdüfte mit den anderen, als der Roboter fast genau in der Mitte der Grube angekommen war, ehe die Übertragung mit einem Mal endete. Jeder Versuch, den Roboter anzusteuern oder neu zu starten, scheiterte, sodass ein findiger Wissenschaftler entschied, eine Drohne mit verschiedenen Messinstrumenten über den Roboter fliegen zu lassen, und während das Erstaunen im ersten Moment unter den Wissenschaftlern groß war, dass nur kaltes Metall gemessen werden konnte, so war der Schock bei allen immens, als die Drohne höher aufzog und ein Bild des gesamten Bodens machte – plötzlich stand ein Gebilde in der Erde und zeichnete seine Konturen auf den Bildschirmen, sodass allen der Atem stockte. 

Allen Ermittlern, Wissenschaftlern und anderweitig Beteiligten, die das Bild auf einem der unzähligen Monitore sahen, war bewusst, dass es dieses Gebilde war, das die Tode und den technischen Tod des Roboters verantwortete, und jedem war bei der Menge an Zuschauenden klar, dass sich dieses Geheimnis nicht würde bewahren können. 

Nur wenige Augenblicke, nachdem alle in ein umfassendes und ungläubiges Schweigen versunken waren, reagierte das Gebilde irgendwie (denn es ist bisher nicht gemessen noch nachvollzogen worden, wie es dazu kommen konnte), und alle im Umfeld befindlichen Menschen, die Zeuge der Entdeckung dieses Mysteriums wurden, waren augenblicklich geblendet. Panik brach aus und die Panik verursachte neuerliche Panik, die über alle verfügbaren Kommunikationskanäle so viele Schaulustige heranlockte, dass der Strom an Wagemutigen, Sehnsüchtigen und Verwirrten kaum abzureißen schien, ehe weitere Einsatzkräfte, die teilweise gegen ihren Willen dorthin abkommandiert wurden, die Kontrolle über das Gebiet zurückerlangten, jedoch mit ansehen mussten, wie all jene, die dem durchsichtigen Gebilde zu nahe kamen, entweder vor Ort starben oder erblindeten. Die Fundstelle wurde hermetisch abgeriegelt und ist es seither, denn es besteht keinerlei Zweifel mehr daran, dass etwas Unsagbares, etwas Unbeschreibbares, etwas Schreckliches in diesem Gebilde innewohnt, das niemand mehr zu sehen bekommen wird, nur noch die Supercomputer, die sich mit dieser Entwicklung beschäftigen, und selbst diese gehen reihenweise kaputt, was einen kaum zu bemessenden finanziellen Schaden nach sich zieht – doch alle Regierungen sind sich einig, dass sie herausfinden müssen, was es mit diesem durchsichtigen Gebilde im Boden der Grube des Hauses von Familie Schmidt auf sich hat, denn eine solche Gefahr kann sich kein Staat leisten, ebenfalls in seinem Boden zu finden. 

Inzwischen – und da kann man dem Ding im Boden nur mittelbar eine Mitschuld geben – hat sich Frau Schmidt nicht nur von ihrem Traum eines Hauses, ihres Traumhauses, verabschiedet, sondern auch von ihrem Leben, das Herr Schmidt seinerseits mit schnell schlechter werdender Intelligenz schon sehr bald sabbernd in einem Heim verbringen wird, denn auch das ist absehbar. Was das Gebilde im Boden mit mir machen wird, steht in den Sternen, aber ich habe das Gefühl, dass … dass … dass es bald … Wer bist du? WAS BIST DU?